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Alle sprechen über Armut und alle meinen etwas anderes. Eine Reise in den Zahlendschungel zeigt: wir sollten aufhören Menschen arm zu rechnen und stattdessen positiv in die Zukunft blicken.

Natürlich hat Jens Spahn Recht

Natürlich hat Jens Spahn recht, wenn er sagt „Hartz IV bedeutet nicht Armut“. Das gilt zumindest so lange, wie wir ein vernünftiges Maß für den Armutsbegriff annehmen. Wie so häufig, wird die Auseinandersetzung durch Dramatik bestimmt – auf Kosten einer präzisen Definition. Kaum eine Debatte wird so ziellos, so ideologisch geführt, entbehrt so sehr einer einheitlichen Begrifflichkeit wie jene um Armut. Gemessen werden gänzlich verschiedene „Typen“ von Armut. Ganz grob gibt es die „relative Armut“ einerseits, die Armut in Relation zum Einkommen einer gesamten Gruppe misst, und die durch ein bestimmtes Ausgabenniveau festgelegte „absolute Armut“ andererseits.

Absolut Arme gibt es in Deutschland nicht

Der Begriff der absoluten Armut ist leicht erklärt. Auf Grundlage verschiedenster Parameter berechnet die Weltbank ein tägliches Einkommen, unter dem ein Mensch als „absolut arm“ gilt, also finanziell nicht dazu in der Lage, die einfachsten Grundbedürfnisse zu befriedigen. Aktuell beträgt die weltweite absolute Armutsgrenze 1,90 US-Dollar (KKP 2011). Während 1981 noch sage und schreibe 42,2 % der Weltbevölkerung unterhalb der absoluten Armutsgrenze lebten, waren es 2013 nur noch 10,7 %. Tendenz weiter sinkend. Die Welt sieht also tatsächlich dem Ende der absoluten Armut entgegen. Ein beispielloses Produkt der Globalisierung und des Fortschritts der letzten 50 Jahre. Glücklicherweise müsste in Deutschland dank Grundsicherung niemand unterhalb der Armutsgrenze leben, niemand ist wirklich „arm“. Etwas andere zu behaupten verspottet die noch immer 700 Millionen wirklich Armen dieser Welt.

Was misst die relative Armut wirklich?

Um im deutschen Kontext trotzdem von Armut sprechen zu können, wird insbesondere auf dem linken Flügel gerne die relative Armut (auch Armutsrisiko genannt) verwendet. Relativ arm ist, wer weniger als einen bestimmten Anteil (40, 50 oder 60 %) des mittleren Einkommens zur Verfügung hat. Und das waren laut OECD im Jahr 2014 immerhin 9,5 % aller Deutschen. Um den Mittelwert zu bestimmen, wird der Median verwendet, also der Wert, der an der mittleren Stelle steht, wenn man alle Einkommen aufsteigend nebeneinander auflistet.

Wie viel Informationsgehalt über die ökonomische Situation der Geringverdiener steckt in der „relativen Armut“? Anders als von Kritikern häufig behauptet, führt ein steigendes Einkommen bei den 49 % am besten Verdienenden nicht zu einer höheren Armutsquote. Macht das die relative Armut zu einem guten Maßstab? Nein: denn steigen beispielsweise die mittleren Einkommen, während die unteren Einkommen gleich bleiben, sind qua Definition mehr Menschen arm. Und das, obwohl die unteren Einkommensgruppen die gleiche Kaufkraft haben wie zuvor. Verdoppeln sich hingegen alle Einkommen in einer Gesellschaft, sind trotzdem genauso viele Menschen „relativ arm“ wie zuvor. Und das, obwohl sich die Situation der unteren Einkommensklassen in diesem Szenario deutlich verbessert hat. Und absurderweise wäre eine Gesellschaft, in der 51 % aller Menschen genau 1,90 US-Dollar pro Tag zur Verfügung haben, während die anderen 49 % 1 Million Euro pro Trag verdienen, gänzlich frei von relativer Armut. Die relative Armut misst also vor allem die Einkommensungleichheit der 51 % weniger verdienenden einer Gesellschaft.

Sicher ergibt es Sinn, zu messen, wie viele Menschen nicht am – ohne Frage ungemeinen – Wohlstand unserer Gesellschaft teilhaben können. Hierfür wird im Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung der Anteil der Personen mit „erheblichen materiellen Entbehrungen“ erhoben. Dies sind Menschen die keinen Zugang zu mindestens vier von neun vorher definierten Bereichen (bspw. Auto, Waschmaschine, einwöchiger Urlaub pro Jahr) haben. Im Jahr 2015 waren dies lediglich 4,4 % aller Deutschen. Und anders als die relative Armut sinkt dieser Wert seit 2008 (5,5 %) stetig. Selbstverständlich kann man die Güterzusammenstellung kritisieren, aber dieser Kennwert zeigt zumindest eine interpretierbare Tendenz: Und diese ist positiv!

Der Zahlendschungel verstellt den Blick auf den unfassbaren Erfolg der Menschheit

Überhaupt verschleiert der Zahlendschungel den Blick auf die wirklich wichtigen Nachrichten: Noch nie waren prozentual weniger Menschen auf unserem Globus absolut arm. Die Lebenserwartung in Deutschland steigt stetig und noch nie hatten die Deutschen so viel Freizeit zur Verfügung und waren so mobil wie heute. Es gehört wohl unausweichlich zum politischen Betrieb, mit immer neuen Zahlenspielen anzukommen, die den Menschen weismachen sollen, es ginge ihnen stetig schlechter. Schließlich gibt es kaum ein Thema, das so gut geeignet ist, zu rechtfertigen, dass Politiker aktiv werden müssen – und deshalb gewählt werden müssen.

Stattdessen sollten wir positiv in die Zukunft schauen, uns des unfassbaren Fortschritts der letzten 200 Jahre genauso bewusst sein wie der immer noch gewaltigen Herausforderungen, vor denen die Menschheit steht. Vor allem aber sollten wir uns des Rezeptes bewusst sein, das diese Entwicklung ermöglicht hat. Dessen Hauptzutat ist die individuelle Fähigkeit, in allen Lebensbereichen Probleme zu lösen. Und Politik sollte letztlich immer das Ziel haben, diese Fähigkeit zu fördern: durch Bildung und die Sicherstellung von inklusiven und rechtsstaatlichen Institutionen, ohne sie dabei (aus Versehen) zu beschränken.

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Donald Trump macht ernst und zettelt einen Handelskrieg mit Europa an. Anstatt wiederum erbost und genauso schädlich mit eigenem Protektionismus zu antworten, sollte sich die EU auf Ihre Wurzeln besinnen. Und diese liegen im Freihandel.

Lange haben die Regierungen und Wirtschaftsführer in Europa die Ankündigungen Donald Trumps nicht besonders ernst genommen. Noch beim Weltwirtschaftsforum in Davos umgarnten die Industriebosse den US-Präsidenten und schmeichelten ihm mit Investitionsankündigungen in den Vereinigten Staaten. Trump ist ein geschickter Verhandler und Taktierer. Er stellt Maximalforderungen in den Raum, weil er weiß, dass die europäischen Unternehmen auf den amerikanischen Markt nicht verzichten können. Sie werden sich arrangieren.

Jetzt lässt er seinen Ankündigungen Taten folgen. Mit Zöllen für Stahl- und Aluminiumimporte von 25 bzw. 10 Prozent will er die heimische Industrie schützen. Diese Unberechenbarkeit von Donald Trump macht ihn fast schon wieder berechenbar. Er bricht mit traditionellen Denkmustern, die einen republikanischen Präsidenten eher auf der Seite der Marktwirtschaft und des Freihandels sehen würden. Das aber macht er konsequent und ohne Rücksicht auf Verluste. Dass deshalb letztlich gute Leute aus seinem Umfeld von Bord gehen, nimmt er billigend in Kauf. Nicht erst seit den Tweets von Donald Trump, sondern bereits seit den Protestbewegungen gegen die Freihandelsabkommen TTIP und CETA, weht ein kalter Hauch des Protektionismus und der nationalen Abschottung über den Globus. Die Geister, die die Protestler seit Jahren rufen, kommen jetzt aus der Flasche.

Die Frage ist, wie die EU und Deutschland auf diese Provokationen reagieren sollen: Gleiches mit Gleichem vergelten und ebenfalls neue Schutzzölle erheben? Und falls ja, sollten die Europäer mit Pauschalbeschränkungen antworten oder lieber eine Politik der Nadelstiche verfolgen, indem sie dort ansetzen, wo es wichtigen republikanischen Abgeordneten und Senatoren besonders weh tut? Letzteres ist wohl die Strategie, die die EU-Kommission verfolgt. Nicht der Säbel, sondern das Florett. Angedacht sind Zölle auf Harley-Davidson-Motorräder, Jeans, Erdnussbutter, Orangensaft und Mais. Die Mischung scheint doch etwas willkürlich, aber das ist wohl systemimmanent. Denn Eingriffe des Staates in den freien Warenaustausch sind immer willkürlich. Sie hindern Einzelne, die Waren und Dienstleistungen miteinander auszutauschen, die sie präferieren. Das ist immer schlecht, weil es Menschen in ihrer Freiheit einschränkt.

So schlimm es ist, dass amerikanische Kunden künftig für Stahl und Aluminium mehr bezahlen müssen und gleichzeitig europäische Stahl- und Aluminiumhersteller in Europa unter Preisdruck geraten, weil die Angebotsmenge dort zunimmt, so völlig absurd ist es, welche Konsequenzen das in der Logik der EU-Kommission hat. Die Kommission plädiert als „Gegenmaßnahme“ dafür, dass Harley-Davidson-Fans plötzlich in Europa mehr für ihr Motorrad bezahlen müssen und der Orangensaft teurer wird. Und was hat Aluminium mit Orangensaft zu tun? Beide Waren miteinander zu verbinden, verschlimmbessert sogar die Situation. Erst kommen die heimischen Stahl- und Aluminium-Hersteller unter Preisdruck und zusätzlich müssen heimische Käufer mehr für Orangensaft bezahlen.

Und warum müssen Harley-Davidson-Fans darunter leiden, wenn an anderer Stelle falsche politische Entscheidungen getroffen werden? Welch absurde Logik! Vielleicht steckt hinter den von Jean-Claude Juncker empört angekündigten Gegenmaßnahmen aber auch etwas sehr Simples: die Haushaltssituation der EU. Denn sie vereinnahmt die Zölle und das ist nicht ganz unerheblich. 15,2 Prozent (20 Mrd. Euro in 2016) der Einnahmen der EU sind Zölle. Zölle sind faktisch die einzige Einnahmequelle, die die EU in ihrer Höhe beeinflussen kann. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.

Was wäre eine angemessene Reaktion auf die Schutzzölle der USA? Das genaue Gegenteil jeglicher neuer Handelsbeschränkungen, nämlich deren Beseitigung auf europäischer Ebene. Kurz: auf die Ankündigung von 10 Prozent Zoll für Aluminiumhersteller sollte die EU mit einem Abbau des zehnprozentigen Zolls auf Automobilimporte reagieren. Es würde amerikanische Autos in Europa billiger machen und damit die Konsumentenfreiheit erhöhen. Die heimischen Hersteller sollten diesen Wettbewerb selbstbewusst annehmen. Sie wollen sicherlich auch keine staatlichen Preisverzerrungen im eigenen Land.

Das wäre ein Bekenntnis zu Europa! Denn eine solche Reaktion stünde in einer großen europäischen Tradition. 1860 vereinbarten Großbritannien und Frankreich wohl das erste Freihandelsabkommen überhaupt. Darin verzichtete Großbritannien einseitig auf alle Importzölle französischer Waren. Frankreich war nicht ganz so schnell, sondern reduzierte seine Zölle lediglich in zwei Schritten. Es war der Beginn einer Freihandelsbewegung, die sich über Europa und letztlich über die ganze Welt verbreitete und die zum globalen Wohlstand entscheidend beigetragen hat. Es braucht also keinen Gleichklang, kein Zug um Zug oder “Tit for tat“. Es braucht nur die Erkenntnis, dass Schutzzölle in erster Linie den Bürgern im eigenen Land schaden, die Wettbewerbsfähigkeit der heimischen Unternehmen erlahmen lassen und konsequenter Freihandel zutiefst europäisch ist. Wer hätte das gedacht?

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Was unterscheidet Donald Trumps America-First-Politik eigentlich von der Handelspolitik der Europäischen Union? Einzig das Marketing …! Beide sind protektionistisch. Beide schotten sich gegen sogenannte Billigimporte ab. Die Empörung, die sich in Deutschland gegenüber der Handelspolitik breit macht, ist verlogen. Und die amtierende Bundesregierung stimmt in den wohlfeilen Gesang ein. Gegenüber den jüngsten Strafzöllen auf Solarmodule und Waschmaschinen lässt sich die geschäftsführende Bundeswirtschaftsministerin Brigitte Zypries mit den Worten zitieren: „Die Entscheidung von Präsident Trump, Schutzzölle auf Waschmaschinen und Solaranlagen zu verhängen, sehe ich daher mit Sorge. Diese Maßnahmen könnten zu einem neuen Handelskonflikt mit China und Südkorea führen“, warnte die Wirtschaftsministerin. Wer im Glashaus sitzt, sollte die Steine liegen lassen. War es nicht die noch amtierende Bundesregierung, die gegenüber „Billigstahl“ aus China Schutzzölle durchgesetzt hat? Auf Stahl und Stahlprodukte aus China werden seitdem Zölle von bis zu 91 Prozent verlangt. Um die heimische Solarindustrie zu schützen, setzte die Regierung gegenüber China Schutzzölle von 65 Prozent durch. Geholfen hat das dem heimischen Hersteller Solarworld am Ende auch nicht. Das Unternehmen ging 2017 in die Insolvenz. Allein auf 53 Produkte fallen Schutzzölle für chinesische Produkte an: vom Bügelbrett (42 Prozent) übers Keramikgeschirr (36 Prozent) bis zu Einlagen für Ringbücher (78,8 Prozent). Da sind wohl echte Schlüsselindustrien in Deutschland betroffen. Allein an dieser Produktauswahl sieht man den Unsinn der Maßnahmen.

Und war es nicht Zypries Vorgänger im Amt, Sigmar Gabriel, der den Ausverkauf von Schlüsseltechnologien in Deutschland befürchtete und chinesische Übernahmen unter den Zustimmungsvorbehalt der Bundesregierung stellen wollte? So als sei es ein volkseigener Betrieb, der dort an chinesische Unternehmen verkauft wurde, und das technische Know-How ein unveräußerliches Weltkulturerbe. Das Beispiel Kuka wird da gerne angeführt. Zweifelsohne ist der Roboterhersteller aus Augsburg ein höchst eindruckvolles Technologieunternehmen. Doch es gehörte weder Sigmar Gabriel, noch der Bundesregierung oder allen Deutschen, sondern zum großen Teil den Familienunternehmen Voith aus Heidenheim und Loh aus Haiger, die das Unternehmen an die Meistbietenden verkauft haben. Jeder war eingeladen, mehr für das Unternehmen zu bieten. Es ist eine Anmaßung der Regierungen, Schlüsselindustrien zu definieren und durch Zölle schützen zu wollen. Dem amerikanischen Konsumenten ist es in der Regel völlig egal, ob die Waschmaschine aus Benton Harbor, Michigan oder Gütersloh kommt. Hauptsache sie funktioniert und wird nicht durch Zölle verteuert. Und kaum ein deutscher Konsument achtet darauf, ob sein Geschirr aus China, Berlin oder sonst wo herkommt. Es muss ihr oder ihm gefallen und einen vernünftigen Preis haben.

Schutzzölle sind der Ausdruck von Partikularinteressen einzelner zu Lasten der Konsumenten. Sie sind es, die diese ungerechtfertigten Vorteile teuer bezahlen müssen. Wohl die schönste und eindrucksvollste Beschreibung dieser Politik hat der französische Liberale Frédéric Bastiat 1846 mit seiner Glosse „Schutz der Sonne“ beschrieben.  In einer Petition an das Parlament forderten darin die Kerzenmacher den Schutz vor der Konkurrenz der Sonne. Darin heißt es: „Wir bitten sie daher, dass es ihnen gefallen möge, ein Gesetz zu erlassen, welches die Schließung der Fenster, Läden, Luken, Klappen, Vorhänge, Kutschenladen, Gucklöcher, Rouleaux, mit einem Wort aller der Öffnungen und Spalten anbefiehlt, durch welche das Sonnenlicht in die Häuser zu dringen pflegt, zum Nachteil der schönen Industriezweige, mit denen wir das Land beschenkt zu haben uns schmeicheln, das uns jetzt ohne Undankbarkeit nicht einem so ungleichen Kampfe preisgeben kann.“

Josef Schumpeter nannte Bastiat später den „brillantesten Wirtschaftsjournalisten, der je gelebt hat“.  Damit hat er zweifelsohne recht. Denn Bastiat schloss seine Glosse mit einem Aufruf an die Abgeordneten, der heute ebenso an das EU-Parlament und den Deutschen Bundestag gerichtet werden könnte: „Wählen Sie, aber verfahren Sie logisch, denn wenn Sie schon Steinkohle, Eisen, Getreide und ausländisches Gewerbe ausschließen, je mehr sich ihr Preis der Null nähert, wie konsequent würde es da sein, den ganzen Tag lang das Sonnenlicht zuzulassen, dessen Preis gleich Null ist.“

Das Buch „Freihandel – für eine gerechtere Welt„, in der „Edition Prometheus“ beim Finanzbuch Verlag erschienen und herausgegeben von Frank Schäffler, Clemens Schneider, Florian A. Hartjen und Björn Urbansky, wurde am 22. Januar 2018 in der Landesvertretung von Schleswig-Holstein präsentiert. Das Buch wurde vorgestellt vom ehemaligen „Super-Minister“ und nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Wolfgang Clement, der auch einen Beitrag für das Buch verfasst hat, und von dem Bundestagsabgeordneten und Finanzpolitiker Dr. Gerhard Schick von den Grünen. Neben Vertretern von Medien und Verbänden waren auch weitere fünf Bundestagsabgeordnete von CDU, FDP und Grünen anwesend. In freunschaftlicher Atmosphäre wurden durchaus klare und kontroverse Argumente ausgetauscht. Einig waren sich alle Beteiligten, dass Protektionismus eine sehr große Gefahr ist – nicht nur für die Weltwirtschaft, sondern für die freie und offene Gesellschaft insgesamt. Einige Ausschnitte aus der Debatte können Sie in diesem Video sehen:

 

Photo: Wikimedia Commons (CC 0)

Von Wolfgang Clement, Bundeminister für Wirtschaft und Arbeit a. D., Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen a. D., MdL a. D. und Kuratoriumsvorsitzender der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft.

Dieser Aufsatz ist erstmals veröffentlicht in dem in der „Edition Prometheus“ erschienenen Buch „Freihandel – für eine gerechtere Welt„.

Mit der Wahl Donald Trumps zum Präsidenten der Vereinigten Staaten haben die Freihandelsgegner in Deutschland Unterstützung aus einer wohl eher unerwarteten Ecke bekommen. Das Ergebnis dürfte sie zufriedenstellen: Der neue Mann im Weißen Haus setzt auf Abschottung. Das transatlantische Freihandelsabkommen zwischen der Europäischen Union und den USA, besser bekannt unter seinem Kürzel TTIP, liegt vorerst auf Eis.

Dabei liegt die Betonung jedoch auf „vorerst“. Politiker und Bürger hierzulande tuen gut daran, an der Idee festzuhalten, den transatlantischen Handel auf eine neue Stufe zu heben. Denn Deutschland wäre nicht das wohlhabende Land, das es heute ist, hätte es sich in der Vergangenheit nicht (fast) immer offen für den grenzüberscheitenden Warenaustausch gezeigt. Wie so oft hilft ein Blick in die Geschichte, auch für die künftige Gestaltung dieses Landes die richtigen Entscheidungen zu treffen.

Gemeinhin gelten Länder wie Großbritannien und die Niederlande als klassische Handelsnationen, doch auch Deutschland hat eine lange Tradition des Freihandels: Schon im 12. Jahrhundert schlossen sich niederdeutsche Kaufleute, die im Nord- und Ostseeraum Handel betrieben, zur Hanse zusammen und setzten sich gemeinsam für ihre Interessen ein. Im Laufe der Zeit entwickelte sich diese Hanse zu einem Städtebund, der die Interessen des Freihandels auch politisch vertrat. Noch heute tragen viele deutsche Städte ihren einstigen Status als Hansestadt stolz in ihren Stadtwappen.

Der Einsatz für den Freihandel war gerade im damals zersplitterten Deutschland mit seinen etwa 400 Staaten oder Staatsgebilden und hunderten, wenn nicht tausenden von Zollgrenzen bitter nötig. Ein Umdenken begann erst Ende des 18. Jahrhunderts, als in England schon die mechanischen Webstühle ratterten. Den deutschen Reformern galt allerdings nicht nur das liberale Großbritannien als Vorbild, sondern auch der starke Zentralstaat Frankreichs. Beeindruckt von der französischen Effektivität sowohl auf dem Schlachtfeld als auch in der Politik schufen sie zentral regierte Territorien und schraubten die ineffiziente Kleinstaaterei zu Beginn des 19. Jahrhunderts so nach und nach zurück.

Ein bedeutender Schritt zur wirtschaftlichen Integration gelang 1834. Der Deutsche Zollverein kann in seiner doppelten Bedeutung für die ökonomische Entwicklung und die politische Einheit gar nicht hoch genug geschätzt werden: Zwar sollte er durch die Abschaffung von Binnenzöllen sowie die Einführung von einheitlichen Maßen und Münzen vor allem den Handel forcieren. Dies ging jedoch mit einer Vertiefung der administrativen und politischen Beziehungen der Mitgliedsstaaten einher. Die Strukturen des europäischen Einigungsprozesses mehr als ein Jahrhundert später waren im Zollverein schon angelegt – was zeigt, welche Kraft der Freihandelsgedanke entfalten kann.

Diese Kraft behielt in Deutschland allerdings nicht durchgängig die Oberhand. Handelsregime sind immer auch Ergebnisse innenpolitischer Prozesse, in denen sich verschiedenen Interessengruppen gegenüber stehen. Ende des 19. Jahrhunderts schlug das Pendel mit Bismarcks Schutzzollpolitik zugunsten des Protektionismus aus. Die deutsche Landwirtschaft und die Industrie wollten sich damit gegen den Import von Getreide, Roheisen und Stahl und so auch gegen den Strukturwandel stemmen.

Im Nachhinein betrachtet wäre diese politische Schützenhilfe wohl nicht nötig gewesen. Denn  die deutsche Schwerindustrie hatte – insbesondere im heutigen Nordrhein-Westfalen – bereits begonnen, das aufzubauen, was noch heute ihre Stärke ist: die Produktion von hochwertigen Investitionsgütern, von Maschinen und Anlagen. Damit schufen die Unternehmen die Grundlagen für Deutschlands bis zum heutigen Tag anhaltende Exporterfolge. Die industriellen Strukturen und die Innovationskraft der Ingenieure halfen Deutschland schließlich auch, nach dem Zweiten Weltkrieg schnell wieder an den Weltmarkt zurückzukehren und das „Wirtschaftswunder“ möglich zu machen.

Die zweite Komponente des Nachkriegsaufschwungs war die Einbettung Deutschlands in ein sich neu ordnendes, liberal geprägtes internationales Gefüge. Unter dem Eindruck des sich anbahnenden „Kalten Krieges“ entstanden so Institutionen wie die Weltbank, der Internationale Währungsfonds und das GATT (die spätere Welthandelsorganisation), die als multilaterale Organisationen das Klein-Klein bilateraler Verhandlungen ersetzten. In Europa kam zugleich der Prozeß der politischen Einigung mehr und mehr in Gang. Auf diesem „alten“ Kontinent mit seinen vielen Völkerschaften, Staaten, Regionen  und Traditionen – dem Flickenteppich Deutschlands des frühen 19. Jahrhunderts durchaus ähnlich – haben unsere Vorväter in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg aus der Tiefe der beinahe völligen Zerstörung kommend gelernt, dass der grenzüberschreitende Handel, stabile Währungen und ein verlässlicher politischer Rahmen nicht nur nötig waren, um die Kriegsschäden zu beseitigen, sondern auch, um Frieden und Wohlstand für lange Zeit zu sichern. Mehr als 70 Jahre später kann niemand ernsthaft bestreiten, dass dies in beeindruckender Weise geglückt ist.

Ein wesentlicher Schritt auf diesem Weg war es, Westdeutschland nicht zu deindustrialisieren, sondern mit seiner wirtschaftlichen Stärke in die dafür offene,  liberale atlantische Welt aufzunehmen und einzubinden. Die Alliierten haben damit sowohl für die Bundesrepublik als auch für Europa eine wichtige und richtige Entscheidung getroffen. Denn Deutschland hat zum einen mit seinen Investitionsgütern zum Aufschwung der Welt beigetragen, sich zum anderen aber auch kontinuierlich für die europäische Einigung, Währungsstabilität und den Freihandel eingesetzt, indem es etwa nach dem Ende von Bretton Woods das Europäische Währungssystem und die Vertiefung der Europäischen Gemeinschaft voranzutreiben half.

Die Wiedervereinigung und die EU-Osterweiterung haben Deutschland sowohl geografisch als auch politisch unübersehbar in die Mitte Europas gerückt. Mit dem Euro, dem politischen Vermächtnis Helmut Kohls, ist der größte Währungsraum der Welt entstanden. So sehr man die EU für ihre ausgeuferte Bürokratie, ihre Demokratiedefizite und Bürgerferne auch kritisieren mag, so sehr ist sie doch eines der faszinierendsten und mutigsten politischen Projekte der Gegenwart. Ihre Existenz gründet in der Einsicht, dass das friedliche Zusammenleben von 500 Millionen Menschen sehr unterschiedlicher ethnischer, religiöser und  kultureller Herkünfte auf vergleichsweise engem  Raum nur auf der Grundlage gemeinsamer Werte gelingt: Dem Respekt vor der Würde des Einzelnen sowie einer staatlichen Ordnung, welche die Freiheit seiner Bürgerinnen und Bürger achtet und gewährleistet, also ihre eigenen Grenzen kennt – kurz, die Werte des Liberalismus´ und der sozialen Marktwirtschaft.

Im Rahmen der demokratischen Willensbildung wird das Zusammenspiel von Staat und Bürgern immer wieder neu ausgehandelt. Die Stellung der Wirtschaft als wichtiger Teil der Gesellschaft und der Freihandel sind zentrale Themen dieser Auseinandersetzung. Gerade der grenzüberschreitende Handel mit Waren und Dienstleistungen wird dabei oft verkürzt betrachtet – und das nicht nur von seinen Gegnern, sondern gelegentlich auch von seinen Verfechtern, wenn sie jegliches staatliches Handeln als freiheitsgefährdenden Eingriff zu brandmarken versuchen.

Tatsächlich machen verlässliche Rahmenbedingungen sowie wie eine effektive und berechenbare Administration, eine an transparenten Leitlinien orientierte Wirtschaftspolitik und eine zweifelsfrei unabhängige Gerichtsbarkeit den freien Handel erst möglich. Ein dafür ganz offensichtliches Beispiel sind Kartellbehörden, die einschreiten, wenn die Marktmacht einzelner Unternehmen den Wettbewerb zu Lasten von Verbrauchern und der weiteren Marktteilnehmer gefährdet. Nur ein handlungsfähiges und mutiges Kartellamt garantiert Wettbewerb. Der Staat setzt mit alldem den Rahmen, der den Wettbewerb lebendig hält und ist damit als Akteur zur Gewährleistung eines wirklich freien Handels nicht wegzudenken.

Grenzüberschreitender freier Handel macht also den Staat nicht überflüssig, stellt aber die  Aufgabenverteilung zwischen Staat und Markt immer wieder auf die Probe. Und das kann im Binnenverhältnis durchaus auch regional-, bildungs- oder sozialpolitisch flankierende Maßnahmen erfordern. In einer Zeit globaler Veränderungen von durchaus dramatischer Tiefe und hohem Tempo – wie heute – sollte das unübersehbar sein. Die gegenwärtigen rechtspopulistischen Blähungen in den USA wie in Teilen Europas sind jedenfalls eine Warnung. Wer sie übersieht, hat schließlich die (nicht wenigen) Opfer des von der Globalisierung forcierten Strukturwandels gegen sich. Freier Handel überzeugt nur, wenn der ökonomische Fortschritt, den er unzweifelhaft mit sich bringt, mit gerechten Chancen auf den „Wohlstand für alle“ verbunden ist.

Deutschland hat als Exportnation von Weltrang ein überragendes Interesse an freien Märkten. Für uns im Herzen Europas geht es im  Ringen um die Formulierung und Realisierung liberaler Werte aber um mehr als das. Offene Märkte bedeuten eben  nicht nur einen möglichst barrierefreien Austausch von Waren, Dienstleistungen und Kapital, sondern sie bedingen auch eine staatliche Ordnung, die schwindelfrei ist und die Balance hält, wo es um die Gewährleistung der Freiheit des und der Einzelnen  auf der einen und die Sicherung des Gemeinwohls und des Zusammenhalts der Gesellschaft auf der anderen Seite geht.

Seit dem Fall des Eisernen Vorhangs und der Wiedervereinigung hat Deutschland diese Verantwortung mit erheblichem Engagement vor allem auf europäischer Bühne wahrgenommen. Doch die Welt von heute und morgen hat längst neue Herausforderungen bereit. Es wird deshalb immer wichtiger, dass ein sich einiges Europa im Kräftespiel um eine neue Rangordnung der bisherigen Weltmacht USA und der neuen Weltmächte mit China an der Spitze seinen Platz findet und auch selbstbewußt wahrnimmt. Die Bereitschaft und die Fähigkeit, die eigene Sicherheit gewährleisten zu können, gehört unzweifelhaft dazu.

Unser Land ist unzweifelhaft eines der ökonomischen und politischen Schwergewichte in der EU. Das bedeutet mehr Verantwortung, aber sollte nicht zur Selbstüberschätzung verleiten. Den protektionistischen Tendenzen auf globaler Ebene können wir jedenfalls nur gemeinsam mit unseren europäischen Partnern wirksam entgegentreten. Die Erfahrung jedoch, in einer wechselvollen Geschichte stets vom Freihandel profitiert zu haben, sollte uns veranlassen, kräftiger als in den zurückliegenden Monaten Flagge zu zeigen, im Innern wie nach außen. Angesichts einer  momentan zunehmenden  Zahl von Kritikern und Gegnern des Freihandels macht es viel Sinn, mit offenem Visier für die Werte einzutreten, die Frieden und  Freiheit und dauerhaft Fortschritte im Kampf gegen Armut und die großen Krankheiten auf der Welt möglich machen.