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Photo: Cornelius Kibelka from Flickr (CC BY-SA 2.0)

In der Weihnachtszeit wird wieder fleißig gespendet – auch um das eigene Gewissen zu beruhigen. Dabei müsste bereits heute kein Mensch mehr in absoluter Armut leben, wenn Gelder direkt bei den Ärmsten der Welt ankämen.

Niemals ist die ohnehin schon umfangreiche Spendenbereitschaft der Deutschen so groß wie in der Vorweihnachtszeit. Zwischen Glühwein und Einkaufsmarathons rückt, zumindest für kurze Zeit, die Armut in anderen Teilen der Welt ins Gedächtnis. Eine Spende an eine der großen Hilfsorganisationen ist schnell getätigt. Außerdem leisten wir mit unseren Steuergeldern ja sowieso einen Beitrag zur Entwicklungshilfe. Das Gewissen ist einigermaßen beruhigt, und fortan können wir uns wieder unbelastet auf die anstehenden Weihnachtsgelage freuen. Doch nur die wenigsten Menschen wissen, wie es tatsächlich um die weltweite Armut bestellt ist.

Absolute Armut auf dem Rückgang

So hat das niederländische Forschungsinstituts Motivaction herausgefunden, dass nur 0,5 % der befragten Deutschen bewusst ist, dass sich in den letzten 20 Jahren die Anzahl der weltweit in absoluter Armut lebenden Menschen halbiert hat. 92 % glauben gar, die Zahl sei gleichgeblieben. Tatsächlich wird die öffentliche Meinung von Meldungen über Hungerkatastrophen und den scheinbar „verlorenen Kontinent“ Afrika dominiert während ein Ende der absoluten Armut noch innerhalb der nächsten Jahrzehnte nicht unwahrscheinlich ist. Trotz der Erfolge, die vor allem auch auf die positiven Effekte der Globalisierung zurückzuführen sind, leben aber noch immer 900 Millionen Menschen von weniger als 1,90 US-Dollar pro Tag.

Da erscheint der stets mitschwingende Ruf nach mehr Entwicklungshilfe nur logisch. Doch im Jahr 2015 zahlten die reichen Staaten der Welt insgesamt bereits 152 Milliarden US-Dollar an Entwicklungshilfe. Ganz vorne mit dabei ist auch Deutschland mit knapp 18 Milliarden US-Dollar. Doch wie lässt sich diese Zahl einordnen? Fakt ist: Schon heute übersteigt die weltweit gezahlte Entwicklungshilfe die Summe, die theoretisch notwendig wäre, um die absolute Armut komplett zu beenden, deutlich. Um die „Armutslücke“ zu schließen, sodass jeder Mensch auf der Welt mindestens 1,90 US-Dollar pro Tag zur Verfügung hat, wären „nur“ 80 Milliarden US-Dollar notwendig.

Das Problem sind die Staaten

Warum also gibt es überhaupt noch absolute Armut? Anstatt diejenigen Menschen, die in absoluter Armut leben, zu unterstützen, versanden die 152 Milliarden US-Dollar zu einem erheblichen Teil zwischen Bürokratie, Korruption und staatlicher Interessenpolitik. Afrikanische Despoten, wie der kürzlich gestürzte simbabwische Diktator Robert Mugabe und seine Entourage, konnten auf diese Weise astronomische Reichtümer anhäufen während die Menschen im selben Land Hunger leiden. Wirkliche Fortschritte gibt es in den ärmsten Ländern der Welt trotz massiver Entwicklungshilfe selten. Denn die Zahlungen bereichern nicht nur Despoten rund um die Welt, sie hebeln auch noch die Grundsätze demokratischer Rechenschaftspflicht aus. Wer über die Hälfte des nationalen Haushaltes aus internationalen Hilfsgeldern aufbringt, ist gar nicht darauf angewiesen, gute Politik im Sinne seiner Bürger zu machen – denn das Geld kommt schließlich nicht aus deren Taschen.

Sicherlich leistet die klassische Entwicklungshilfe mancherorts einen Teil zum Aufbau stabiler Institutionen, aber eben nur sehr langfristig und gerade in den ärmsten Ländern mit überschaubarem Erfolg. Viel schwerer wiegt aber die Frage, warum wir einer ganzen Generation der Hoffnungslosen erklären, dass es ihren Enkeln einmal besser gehen wird, wenn ihnen doch eigentlich heute schon geholfen werden könnte. Der Ökonom und Nobelpreisträger Angus Deaton fordert deshalb:

Warum nicht die Regierungen umgehen und Hilfe direkt den Armen geben? Sicherlich wären die direkten Auswirkungen sehr wahrscheinlich besser, speziell in Ländern, in denen besonders wenig staatliche Entwicklungshilfe die Armen erreicht. Und das Ganze würde erstaunlich wenig kosten – ca. 15 US-cents pro Tag von jedem Erwachsenen in der entwickelten Welt wären nötig.

Ein radikaler Alternativvorschlag: Direktzahlungen

Die Regierungen von Entwicklungsländern zu umgehen, hätte zahlreiche Vorteile. Ausufernden Bürokratien und Korruption würde weitestgehend der Boden entzogen. Diejenigen Menschen, die unterhalb der absoluten Armutsgrenze leben, würden die Unterstützung direkt über mobile Bezahlsysteme erhalten und sich auszahlen lassen können. Anstatt an den Bedürfnissen vorbeigeplante Leuchtturmprojekte zu erhalten, könnten die Menschen selber entscheiden, wofür Sie die Finanzmittel einsetzen. Sei es zu Investition oder Konsum: Nur auf diese Weise kann sich ein funktionierender Binnenmarkt entwickeln.

Sicher, ein solches Projekt bringt zahlreiche, aber auch lösbare Probleme mit sich. Es müsste sichergestellt werden, dass das Geld direkt bei den Begünstigten ankommt. Dafür sind sichere Online-Bezahlmethoden unerlässlich, die aber gerade auf dem afrikanischen Kontinent bereits weit verbreitet sind. Und dass ein solches System tatsächlich funktionieren kann, beweist die NGO „GiveDirectly“, die in einem großen Feldversuch in Uganda und Kenia Direktzahlungen erprobt hat. Im Ergebnis konnten Empfänger bereits auf kurze Sicht ihr normales Einkommen deutlich steigern.

Letztendlich sollte Entwicklungspolitik immer darauf abzielen, auf mittlere Frist obsolet zu werden. Seit dem Versagen des Washington-Konsens hat die weltweite Entwicklungshilfe durchaus Fortschritte gemacht. Doch Instrumente wie der vom Entwicklungshilfeminister verlangte Marshall-Plan für Afrika richten mehr Schaden an, als dass sie den Ärmsten der Welt helfen. Sie finanzieren vorwiegend überbordende Bürokratien und korrupte Despoten, und dienen letztendlich vor allem auch den geopolitischen und wirtschaftlichen Interessen der Geberländer. Nachhaltige institutionelle Entwicklung als zentrale Voraussetzung für wirtschaftlichen Fortschritt kann jedoch nur über die Ermächtigung des Einzelnen führen. Dank des drastischen Rückgangs der absoluten Armut ist ein Ende der absoluten Armut durch Direktzahlungen an die Ärmsten der Welt bereits heute umsetzbar, warum also auf Morgen warten?

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Von  Prof. Dr. Stefan Kooths, Leiter des Prognosezentrums im Institut für Weltwirtschaft an der Universität Kiel und Professor für Volkswirtschaftslehre an der Business and Information Technology School (BiTS) in Berlin.

Wenn Umfragen zutage fördern, dass sich die große Mehrheit der Befragten für überdurchschnittlich gute Autofahrer hält, sorgt das allenfalls für allgemeine Erheiterung. Offenkundig trifft hier die individuelle Selbstüberschätzung als Massenphänomen auf die faktische Unmöglichkeit des Einzelnen, sich ein gehaltvolles Urteil über eine unüberschaubare Grundgesamtheit zu bilden. Und die Gesetze der Statistik legen diese Diskrepanz schonungslos bloß: der Durchschnitt kann eben nicht überdurchschnittlich gut Auto fahren. Derartige Umfragen nimmt daher zu Recht niemand ernst. Fragt man indes nach den wirtschaftlichen Verhältnissen im Land, sind zwar die Ergebnisse ähnlich widersprüchlich, die politische Reaktion darauf ist jedoch eine ganz andere. So zeigt sich in den Haushaltsbefragungen für Deutschland, dass die persönliche wirtschaftliche Lage (bis hin zur allgemeinen Lebenszufriedenheit) ganz überwiegend günstig eingeschätzt wird, während das Urteil derselben Befragten über die Lage der breiten Masse der Bevölkerung dahinter zurückfällt. Statt sich auch hier auf die Logik der Statistik zu besinnen, nimmt man die Umfrageergebnisse im öffentlichen Diskurs regelmäßig zum Anlass, angeblich wachsende soziale Schieflagen anzuprangern. Und dies, obwohl im Gegensatz zur Selbstauskunft über die eigenen Fahrkünste kaum davon auszugehen ist, dass die Befragten ihre individuelle wirtschaftliche Situation systematisch überschätzen. Damit bleibt für die Diskrepanz in den Ergebnissen die mangelhafte Einschätzung der Grundgesamtheit. Ein adäquater Befund über die Gesamtlage in einem Land ist angesichts des überaus komplexen sozialen Gefüges bereits für die wissenschaftliche Analyse extrem schwierig. Für die repräsentativ Befragten dürfte es in praktisch allen Fällen unmöglich sein. Das spricht dafür, dass sich in den Umfrageergebnissen letztlich nur ein politisches Narrativ reproduziert („zunehmende soziale Ungerechtigkeit“), das seit Jahren das Bild einer düsteren Entwicklung der Einkommensentwicklung der breiten Masse der Bevölkerung postuliert. Meist sind dann Forderungen nach zusätzlichen Umverteilungselementen nicht weit.

Unabhängig vom selbstreferentiellen Charakter der Debatte, der an sich schon problematisch ist, sind auch die meist mit dem Nimbus der Wissenschaftlichkeit dargebotenen Ergebnisse zur sozialen Entwicklung hochproblematisch. Den Dreh- und Angelpunkt bilden hierbei die Indikatoren zur Messung der Verteilung von Einkommen und Vermögen, mit den jeweiligen Gini-Koeffizienten als Speerspitze (mit Werten zwischen Null für die Gleichverteilung und Eins für die maximale Ungleichheit). Das reine Zahlenwerk der empirischen Forschung mag weitgehend stimmig sein (auch wenn die Erhebung oft erhebliche Schwierigkeiten bereitet), problematisch ist aber die Interpretation der Werte. Und hierbei begibt sich mancher schnell auf sehr dünnes Eis, das öfter einbricht als dass es trägt, wenn man aus dem Befund zunehmender Ungleichheit auf Fehlentwicklungen schließt. Insbesondere wird viel zu leichtfertig von Ungleichheitsmaßen auf eine angeblich grassierende „soziale Ungerechtigkeit“ geschlossen, eine sinnfreie Vokabel, die seriöse Sozialwissenschaftler besser meiden sollten.

Gründe für den Anstieg der Einkommensungleichheit

Abgesehen davon, dass etwa der Gini-Koeffizient zur Einkommensverteilung in Deutschland seit über zehn Jahren nahezu konstant und auch international unauffällig ist, folgt aus einem Anstieg der Einkommensungleichheit zunächst wenig. Da es für diese Größe keinen Optimalwert gibt, lässt sich auch nicht sagen, ob man sich bei einem Anstieg zu einem Optimum hin- oder von diesem wegbewegt. Das liegt letztlich daran, dass die Einkommensverteilung das Ergebnis eines komplexen sozialen Prozesses ist, dessen vielschichtige Aspekte sich nicht in einer Zahl verdichten lassen. So spiegelt sich in der Einkommensungleichheit nicht zuletzt auch eine geänderte Haushaltsstruktur wider – das Leben als Single oder Alleinerziehender ist nun mal pro Kopf gerechnet teurer als der Konsum im Familienverband (88 Prozent des für Deutschland ausgewiesenen Anstiegs der Einkommensungleichheit in den Jahren 1985 bis 2005 geht auf diesen Effekt zurück). Diese individuellen Entscheidungen hat der Staat nicht zu bewerten, er ist aber auch nicht dazu da, alle ökonomischen Konsequenzen geänderter individueller Lebensstile auf die Allgemeinheit abzuwälzen. Dies wäre jedenfalls nicht per se „gerechter“. Letztlich hat überhaupt erst der allgemeine Wohlstandszuwachs – neben dem Gesinnungswandel in weiten Bevölkerungsschichten – dazu beigetragen, dass derartige Lebensentwürfe möglich wurden und sich speziell Frauen aus der ökonomischen Abhängigkeit ihrer Männer befreien konnten. Dies dürften wohl nur die wenigsten als sozialen Rückschritt einstufen. Auch die höhere Bildungsbeteiligung von Frauen erhöht tendenziell die Einkommensungleichheit im Haushaltsquerschnitt, weil die tertiären Bildungseinrichtungen und die Arbeitsstätten zugleich wichtige Partnerbörsen darstellen. Wenn zwei berufstätige Akademiker einen gemeinsamen Haushalt bilden, konzentrieren sich zwei Besserverdiener und die gemessene Verteilung wird ungleicher. Zu Zeiten, als akademische Weihen und hohe Berufsqualifikationen noch weitgehend den Männern vorbehalten waren, hat sich über den Heiratsmarkt die Einkommensungleichheit dagegen auf Haushaltsebene abgeflacht. Ähnliches gilt für die soziale Akzeptanz von schwulen und lesbischen Partnerschaften, die für sich genommen ebenfalls die Einkommensungleichheit erhöht. Diese wenigen Beispiele machen deutlich, dass ein steigender Gini-Wert kaum zur Skandalisierung taugt.

Auch macht es einen Unterschied, ob der Anteil von Niedriglohnbeziehern steigt, weil Menschen weniger verdienen als früher oder ob mehr Menschen zu niedrigen Löhnen beschäftigt werden, die zuvor arbeitslos waren. Letzteres ist für Deutschland maßgeblich, die Quote selbst schweigt aber zu diesen Ursachen. Grotesk wird es, wenn aus dem jüngsten Anstieg der Armutsgefährdungsquote auf eine sich verschärfende soziale Schieflage geschlossen wird. In dieser Quote spiegelt sich derzeit der Zuzug von Flüchtlingen wider, die aus verschiedenen Gründen zunächst am unteren Ende der Einkommensskala rangieren. Soziale Kälte sieht anders aus.

Die vermeintlichen Bösewichte: Kapitalismus und Globalisierung

Zu jeder guten Gruselgeschichte gehören die Bösewichte. Im Falle der Erzählung von der zunehmenden sozialen Unwucht übernehmen der „ungezügelte Kapitalismus“ und die „deregulierte Globalisierung“ diese Rolle, die regelmäßig als Triebkräfte hinter den Fehlentwicklungen verdächtigt werden.

Die Kapitalismuskritik macht sich vor allem an der Vermögensungleichverteilung fest. Auch hier versperrt der Blick auf das Symptom tieferliegende Erkenntnisse. Vermögenspositionen sind in einem kapitalistischen System nicht funktionslos, sondern spielen eine wichtige Rolle für die Kapitalallokation. Weil die Zukunft per se unsicher ist, kann es auch keine sicheren Anlageformen geben. Um ein (wie auch immer) erlangtes Vermögen bewahren zu können, muss es der Eigentümer in einem freien Marktsystem immer wieder dem Risiko aussetzen. Setzt er auf das richtige Pferd (rentable Investitionen), so kann er sein Vermögen wahren und mehren. Damit erfüllt er zugleich eine sozial nützliche Aufgabe, weil von der rentablen Anlage des knappen Kapitals auch die Arbeitskräfte profitieren, deren Produktivität durch eine höhere marktgerechte Kapitalausstattung steigt, was höhere Löhne zur Folge hat. Setzt der Investor auf das falsche Pferd (erweist er sich also als Ressourcenverschwender), so büßt er in Form von Verlusten die Verfügungsgewalt über knappes Kapital ein. Korrigiert er seine Entscheidungen nicht, wird er in Form der Insolvenz ganz aus dem Spiel genommen und entscheidet künftig nicht mehr über die Verwendung knapper Ressourcen. Auf diese Weise erfüllt ein freier Kapitalmarkt eine wichtige soziale Koordinationsfunktion. Dieser Mechanismus setzt privates Eigentum und – damit einhergehend – das Haftungsprinzip voraus. Letzteres wird in antikapitalistischer Weise immer dann verletzt, wenn der Staat (oder seine Zentralbank) private Verluste sozialisiert, wie es in großem Stil während der jüngsten Finanzkrisen geschah. Die Vermögensverteilung wäre heute weniger ungleich, wenn die Fehlinvestitionen im Boom vor der Krise voll auf die Vermögenspositionen der Investoren hätten durchschlagen können (die untere Hälfte der Haushalte auf der Vermögensskala hätte mangels Geldvermögen auch nichts zu verlieren gehabt). Auch die Staatsverschuldung ist in dieser Hinsicht problematisch, weil sie den Vermögenden ein Ruhekissen bietet, das sie ihrer sozialen Funktion als Kapitalist entbindet. Das Risiko dieses vermeintlich sicheren Anlagevehikels wird stattdessen auf alle Steuerzahler abgewälzt, insbesondere wenn man – wie im Euroraum – staatliche Wertpapiere explizit als risikofrei deklariert und lieber Vertragsbrüche hinnimmt als Staatspleiten. An der staatlichen Protektion von Vermögenspositionen kann daher mit guten Argumenten viel kritisiert werden. Es ist indes nicht der ungezügelte, sondern der durch den Staat gehemmte Kapitalismus, der hier zu gravierenden Fehlentwicklungen führt.

Ähnlich wie der Kapitalismus steht auch die Globalisierung zu Unrecht am Pranger. Sieht man genauer hin, ist es schwierig, die Verlierer der immer engeren weltwirtschaftlichen Verflechtung zu identifizieren. Zwar wirken sich auf der Einkommensseite globalisierungsbedingte Produktionsverlagerungen typischerweise nachteilig auf die geringer Qualifizierten Arbeitskräfte in den Industrieländern aus, die dort im Sektor der handelbaren Güter beschäftigt sind. Dies ist aber nur ein Aspekt, der nicht isoliert betrachtet werden darf. Zum einen geht ein ganz überwiegender Teil des Strukturwandels – und mit ihm die Veränderung der Arbeitswelt – auf den technischen Fortschritt zurück. Dies gilt umso mehr, je größer das betrachtete Land ist. Neue Zollmauern würden daher allenfalls einen sehr kleinen Teil einfacher Tätigkeiten in die Industrieländer zurückbringen, der überwiegende Teil würde stattdessen von neuen Maschinen übernommen, sofern die Beschäftigten nicht bereit sind, zu den Löhnen zu arbeiten, die derzeit in den Schwellenländern bezahlt werden. Dies sind sie offenbar nicht, weil es in den entwickelten Volkswirtschaften für sie bessere Alternativen gibt. Zum anderen darf man bei der Analyse nicht bei den Einkommenseffekten stehen bleiben, sondern muss die Konsumseite und damit die Kaufkrafteffekte in den Blick nehmen. Hierbei zeigt sich, dass die unteren Einkommensgruppen als Konsumenten überproportional vom freien Welthandel profitieren, weil der Anteil handelbarer Güter in ihrem Einkaufskorb größer ausfällt als bei höheren Einkommensgruppen. Millionäre lassen sich heute wie vor zweihundert Jahren ihre Kleidung vom ortsansässigen Schneider auf den Leib schneidern, während einkommensschwächere Haushalte von günstigen Textilimporten profitieren. Auch wäre wohl ein Handy „made in Germany“ auch heute noch ein Luxusprodukt für die oberen Zehntausend. Darüber hinaus schafft der unbestrittene Nettowohlstandsgewinn aus der Globalisierung auch Raum für Transfers an einkommensschwächere Haushalte, den es sonst nicht gäbe. Die Lebensbedingungen der vermeintlichen Globalisierungsverlierer, die sich bei Werksschließungen medienwirksam vorführen lassen, sähen ohne eine integrierte Weltwirtschaft daher keinesfalls zwingend besser aus. Hinzu kommt, dass Globalisierungseffekte – wie der Strukturwandel insgesamt – nicht über Nacht auf die Menschen hereinbrechen, sondern sich nach und nach vollziehen. Erst wenn man diese Effekte eine Zeitlang durch politische Maßnahmen aufstaut, diese marktwidrigen Eingriffe dann aber später wegen Unfinanzierbarkeit wie eine Staumauer bersten, verschärft man die sozialen Probleme, weil den Betroffenen dann tatsächlich zu wenig Anpassungszeit bleibt. Disruptive Veränderungen rühren viel öfter von fehlerhaften staatlichen Eingriffen als vom freien ökonomischen Entwicklungsprozess her.

Die Konsumseite stellt auch ein anderes weitverbreitetes Narrativ in Frage, wonach bestimmte Einkommensgruppen in den Industrieländern seit Jahrzehnten keinen Wohlstandszuwachs mehr realisieren können. Diesem Befund liegen Realeinkommensberechnungen zugrunde, bei denen das nominelle Einkommen mit einem Preisindex kaufkraftbereinigt wird. Nun sind aber Preisindices gerade für Langzeitvergleiche besonders ungeeignet, weil sie Qualitätsverbesserungen nur sehr unzureichend erfassen können. Macht man sich die Konsummöglichkeiten klar, die sich heute einem Durchschnittshaushalt bieten, und vergleicht man diese mit denen der Vorgängergeneration, machen sich schnell Zweifel an den Ergebnissen breit. Es wäre lohnend, dies einmal systematisch zu untersuchen, indem man Haushalte unterschiedlicher Einkommensgruppen fragt, ob sie bereit wären, mit dem Konsumniveau ihrer Vorgänger vor zehn, zwanzig oder dreißig Jahren zu tauschen. Sind sie es nicht, haben sich offenbar die Konsummöglichkeiten verbessert. Hinzu kommen verbesserte Arbeitsbedingungen und eine höhere Lebenserwartung. Auch hier zeigt sich, dass man die Komplexität der Lebensbedingungen im sozialen Gefüge niemals auf eine Zahl verengen kann.

Die Erfolgsgeschichte von Kapitalismus und Globalisierung

Die Kombination aus Kapitalismus und Globalisierung hat in den letzten Jahrzehnten zu einer Wohlstandsexplosion in der Welt geführt. Die globale Massenproduktion kommt breiten Konsumentenmassen zugute. Niemals zuvor war der Anteil der Menschen, die in absoluter Armut leben, so gering wie heute – auch ihre absolute Zahl geht seit Jahrzehnten in großen Schritten zurück. Global betrachtet nimmt die Einkommensungleichheit dramatisch ab. Die Arbeitsbedingungen verbessern sich seit Jahrzehnten praktisch in allen Ländern der Welt. Die weltwirtschaftliche Integration führt zudem zu einer verstärkten Interessenharmonie und trägt damit auch zu einer Befriedung in der Welt bei. Aller schlimmen Nachrichten zum Trotz sterben heute bedeutend weniger Menschen in kriegerischen Konflikten als in früheren Epochen.

Diese Erfolgsgeschichte offener Märkte und globaler ökonomischer Kooperation trifft in den Industrieländern indes vermehrt auf Widerstand. Dabei finden sich nicht zufällig Sozialingenieure und Kapitalismusgegner mit Neoprotektionisten wie Donald Trump im selben Lager wieder. Was sie verbindet, ist ihr Unverständnis für die Funktionsbedingungen offener Gesellschaften. Sie übertragen Verhaltensweisen, die das Zusammenleben von Menschen in Kleingruppen stabilisieren (und die als Ur-Instinkte in der jahrtausendelangen Sozialisation der Menschen in Stammesgesellschaften wurzeln), auf die anonyme Großgesellschaft. Solidarität und Hierarchie, aber auch Abgrenzung bis hin zur Aggression gegenüber Fremden, ist der Kitt, der die für den Einzelnen überschaubare Gruppen zusammenhält. Eine offene Gesellschaft braucht hingegen Institutionen wie Eigentum, Tausch und Wettbewerb, insbesondere die freie Wahl des Tauschpartners. Dies ermöglicht eine soziale Komplexität und mit ihr eine ökonomische Leistungsfähigkeit, die niemals in einem hierarchischen Entwurf gelingen könnten und die in ihrer Evolution ergebnisoffen sind. Gerechtigkeit kann in der offenen Gesellschaft nur in der Gültigkeit abstrakter Regeln bestehen, nicht aber in normierten Quoten, Verteilungsmaßen oder anderen ergebnisorientierten Kennzahlen. Die darin liegende Unkontrollierbarkeit kann aber auch Ängste schüren, die sich Protektionisten nach innen wie nach außen immer wieder zunutze machen. Das Vehikel dazu ist der interventionistische Nationalstaat, der – an atavistische Instinkte appellierend – das soziale Gefüge im Inneren ordnet und sich nach außen abschottet. Auf diese Weise wird es dann wieder politisch belangvoll, ob zwischen zwei Tauschpartnern eine Landesgrenze verläuft. Märkte sind einst an den Stammesgrenzen entstanden („market“ kommt von „mark“), indem Menschen entdeckten, dass sich im Tausch mit Fremden auf Dauer mehr erreichen lässt als mit Raub. Das marktwirtschaftliche System ist daher von jeher auf Grenzüberwindung angelegt. Binnen- wie außenwirtschaftlicher Protektionismus läuft immer darauf hinaus, den freien Tausch einzuschränken, indem Märkte abgeschottet werden. Je öfter dies geschieht, desto mehr erstarrt die Gesellschaft und desto mehr Vorteile der einzelwirtschaftlichen Kooperation bleiben unentdeckt. Dies geht typischerweise zu Lasten der ökonomisch Schwächeren, die den desaströsen Folgen des Interventionismus besonders wenig gewachsen sind. Zudem sind es nicht selten die Stärkeren (und politisch Einflussreicheren), die unter dem Mantel der Solidarität und des „nationalen Zusammenhalts“ ihre Partikularinteressen schützen, etwa wenn ausländische Anbieter mit dem Hinweis auf nicht erfüllte „soziale Mindeststandards“ ausgesperrt werden. Diese Standards muss man sich leisten können, und dafür braucht es wirtschaftliches Wachstum. Marktöffnung beschleunigt dieses Wachstum und die Teilhabe der Schwächeren in den Entwicklungs- und Schwellenländern am globalen Wohlstand. Und im Inneren richten sich die Folgen von Mietpreisbremsen, Mindestlöhnen und andere Überregulierungen nicht selten gerade gegen diejenigen, zu deren Gunsten sie einst gedacht waren.

Die Voraussetzungen der offenen Gesellschaft nach innen wie nach außen sollte jeder bedenken, der nationale Verteilungsergebnisse zum Maßstab der Politik erhebt und deshalb nolens volens zum Steigbügelhalter des Protektionismus wird.

Erstmals veröffentlicht in CIVIS 2/2017

Photo: simpleinsomnia from Flickr (CC BY 2.0)

Von Beat Kappeler, freier Journalist (Neue Zürcher Zeitung, Le Temps, Schweizer Monat u. a.).

Der Euroraum hat 33 Mitgliedstaaten, und 14 davon liegen in Westafrika. Deren Exporte sind dadurch schwer behindert, die Importe zu billig, die Industrie kommt deshalb nicht auf und Millionen Junger fliehen ans Mittelmeer. Wie kommt das?

Die ehemaligen französischen Kolonien gehörten immer zur Währungszone des CFA-Franc, der fest an die französische Währung gebunden war. Als Frankreich dem Euro 1999 beitrat, kamen diese 14 westafrikanischen Staaten mit, und dies ohne Parlamentsbeschlüsse oder Volksabstimmungen. Der „nicht veröffentlichungsbedürftige Rechtsakt“ Nr. 98/683/EG in Brüssel hielt den Beitritt Westafrikas fest.

Seither sind also die ärmsten Länder der Welt im Euro festgesetzt – und die Folgen sind noch viel dramatischer als für die sonst auch strukturschwachen Mitglieder Griechenland und Portugal. Denn die Mechanik bleibt für alle die gleiche – diese Länder können nicht abwerten, wenn sie wenig konkurrenzfähig sind. Eine Anpassung muss über die „interne Abwertung“ erfolgen, also durch den dauernden Druck auf Preise, Löhne, Staatsausgaben. Ohne Exportchancen, aber mit weit offenen Grenzen für die zu billigen Importe Europas werden Arbeitsplätze vernichtet, es entstehen kaum neue. Dazu wirkt der feste Wechselkurs auch auf die Kapitalströme – die Oberschicht Westafrikas kann ihr Geld zum für sie günstigen, hohen Kurs nach Paris oder Frankfurt senden und dort anlegen. Was Wunder, wenn die jungen Menschen fliehen und diesen verfälschten Handelsströmen und der Ausblutung durch Geldflucht sozusagen nachreisen müssen.

Die betroffenen Länder sind beispielsweise Mali, Kamerun, Niger, Kongo-Brazzaville, Senegal, Togo, der Tschad, die Zentralafrikanische Republik. Es flohen 3 von 14 Millionen aus Mali, Hunderttausende aus Senegal. Sie drängen übers Mittelmeer nach Europa.

Niemand in Europa, vor allem nicht in Frankreich, will diese Wahrheiten sehen. Kanzlerin Merkel auch nicht. Sie hat im Oktober 2016 Niger und Mali besucht, spendete Trost, aber wenig Geld. Ein Marshallplan sei nicht zu haben. Es gehe um mehr als kurzfristige Bekämpfung der Fluchtursachen. Die sofortige und wirksamste Lösung, der Austritt aus dem Euro, wurde aber nicht erwogen.

In der tristen Begleitmusik zur Merkel-Reise fiel manchen Entwicklungsexperten Deutschlands nur ein, man müsse „eine neue Beziehung“ mit Westafrika ansteuern, oder es gelte, „die Entwicklungszusammenarbeit zu überdenken“. Das sind Schablonen und Versatzstücke, welche das Denken gleich schon mal ersetzen, und dies seit je. Kanzlerin Merkel selbst bot den besuchten Ländern „Migrationspartnerschaften“ an. Dies bedeutet aber nur, dass man das Elend der dortigen Jungen gemeinsam bewirtschaftet, ohne die Ursache zu ändern. Dass nur schon aufgrund der empörenden Währungsanbindung diese Länder sich noch viel schlechter stellen als Griechenland und Portugal, dass sie im Gegensatz dazu nicht auf Dutzende von Hilfsmilliarden hoffen können, dass niemand im Leisesten an eine Paritätsänderung ihrer Währungen denkt, zeigt eine geistlose „Analyse“ der Entwicklungsbedingungen. Kritiker stehen nicht an, dies als ausgesprochenen Kolonialismus zu bezeichnen. Frankreich, und seit der Schaffung des Euro alle europäischen Lieferantenländer, haben sich dort die Märkte gesichert, brauchen keine Billigkonkurrenz zu fürchten und halten die dortigen Eliten dank deren Kapitalexporten nach Paris gefügig. Der europäische Einfluss, bis zu gelegentlichen militärischen Eingriffen Frankreichs, hält sich da einen gefälligen Hinterhof.

Den Kontrast zum Armenhaus Westafrika bieten die aufstrebenden Länder Asiens. Sie behielten ihre eigenen Währungen und stellten sie in den Dienst ihres wirtschaftlichen Fortkommens. So wertete Thailand den Baht seit 1998 um 40% ab, die Philippinen den Peso um 20%. Südkorea wertete bei einer Krise seinen Won gegenüber dem Euro, also gegenüber Senegal, Zentralafrika oder Kamerun, von 2005 bis 2009 mal kurz um 60% ab, ließ ihn seither wieder auf den alten Kurs steigen. Jetzt ist Südkorea reich, hat seine Exportmärkte halten können. Außerdem schränkten die asiatischen Länder die Transfers der Währung ins Ausland zu Beginn der Entwicklung stark ein. Deren Oberschichten mussten ihre Gelder zuhause investieren.

Offizielle Stellen und falsche Freunde der „Entwicklung“ argumentieren mit „Stabilität“, wenn sie auf die Euro-Anbindung des CFA-Franc angesprochen werden. Doch was heißt Stabilität, wenn sich ganze Länder um ihre jungen Generationen entleeren, wenn Desindustrialisierung stattfindet? Andere Experten finden, viele andere Umstände behinderten Westafrikas Entwicklung. Es sind solche Hindernisse vorhanden, in großer Zahl – aber wie sollen sie überwunden werden, wenn die Währung schon grundlegende Expansionschancen unterbindet?

In eigener Sache pflegen die Westeuropäer eine ausgeprägte Wehleidigkeit bei Währungsproblemen. Jedes Mal, wenn der Dollar um ein paar Prozentchen zum Euro fällt, fordern die Franzosen von der Zentralbank sofort Maßnahmen, und die deutsche Börse fällt, weil ein paar Exporte leiden könnten. Dass der noble Euro dies den armen Westafrikanern seit einer Generation zumutet, kommt nicht in den Sinn. Kamerun war bis 1918 deutsche Kolonie, heute steckt es mit dem hochproduktiven Deutschland in der gleichen Währungsunion, ohne sich regen zu können. Das ist Unsinn, das ist der Euro als obligate Währung Westafrikas, das ist ein Verbrechen.

Erstmals erschienen beim Austrian Institute.

Photo: Photo Monkey from flickr.com (CC BY 2.0)

Junge Menschen seien „regelrechte Staats-Fans“, triumphiert der Vorsitzende des Deutschen Beamtenbundes (DBB). Was den Funktionär frohlocken lässt, könnte für eine freiheitliche Gesellschaft zunehmend zu einem erheblichen Problem werden.

„In einer globalisierten Gesellschaft braucht man einen starken Staat“

Forsa hat gerade zum elften Mal im Auftrag des DBB eine Umfrage zum Bild des Öffentlichen Dienstes durchgeführt. Die Ergebnisse liegen leider in einem Trend, den man schon länger ausmachen kann. Die Studien zu Berufswünschen, die EY 2014 und 2016 durchführte, zeigen, dass immer mehr junge Menschen beim öffentlichen Dienst arbeiten wollen. Terrorismus, Finanzkrise und öffentlich sehr präsente Themen wie Ungleichheit und Klimawandel suggerieren den Bürgern, dass der Staat eine höhere Lösungskompetenz habe als sie. Der Ansicht „in einer globalisierten Gesellschaft braucht man einen starken Staat, der die Bürger vor ausufernden Entwicklungen schützen kann“ stimmen 75 Prozent der Befragten zu, 9 Prozent mehr als vor zehn Jahren. Dagegen glauben nur 13 Prozent (vor zehn Jahren waren es noch 17), man brauche „immer weniger Staat, der Markt wird alles richten“.

Besonders interessiert sich der DBB natürlich für die Wahrnehmung der Staatsdiener durch die Bürger. Während ihnen vor zehn Jahren 59 Prozent der Bevölkerung attestierten, kompetent zu sein, sind es inzwischen 71 Prozent. Für überflüssig gehalten wurden sie 2007 von 24 Prozent, heute nur noch von 16 Prozent. Bezeichnend ist auch die Frage, welche Berufsgruppen ein hohes Ansehen genießen: Gestiegen ist es bei Beamten von 27 auf 38 Prozent, bei Steuerbeamten von 28 auf 33 und bei Gewerkschaftsfunktionären von 23 auf 29. In der Zeit ist das Ansehen von Managern von 37 auf 26 gesunken und das von Unternehmern von 61 auf 55. Die Frage, ob der öffentliche Dienst den Steuerzahler zu viel Geld koste, bejahten vor zehn Jahren noch 58 Prozent der Befragten – heute sind es nur noch 33. DBB-Chef Dauderstädt hat also allen Anlass dazu, die Sektknorken knallen zu lassen.

82 Prozent der jungen Menschen wollen den starken Staat

Viele politische Akteure vermitteln Wählern und Bürgern den Eindruck, ihr Leben werde gefährlicher und komplexer, und darum bedürfe es der lenkenden Hand des starken Staates. Vom Verbraucherschutz bis zur Terrorbekämpfung, von der Zuwanderung bis zu steigenden Mieten – und natürlich in einer globalisierten Welt, die Unüberschaubarkeit und Unberechenbarkeit geradezu idealtypisch repräsentiert. In uns Menschen steckt eine tiefe Sehnsucht nach jemandem, der für uns sorgt und unser Leben organisiert. Erinnerungen an selige Kindheitstage spielen da mit hinein. Und möglicherweise auch vererbte Instinkte unserer Vorfahren, die sich gegen die Unbill der Welt nur durch strenge hierarchische Strukturen schützen konnten. Verantwortung abzugeben wird natürlich umso einfacher, je mehr man denjenigen vertraut, denen man sie übergibt. Und selbst wer die Bürokratie eher für überflüssig hält und glaubt „der Markt wird alles richten“ (wie es so schön differenziert in der Umfrage heißt), muss wohl zugeben, dass die deutsche Bürokratie in Fragen wie Unbestechlichkeit und oft sogar Freundlichkeit nicht schlecht abschneidet.

Wird also ein Albtraum wahr? Wird ein immer effizienterer Staat mit einem attraktiven und reichhaltigen Angebot graduell die Bereitschaft und den Drang zurückdrängen, als Unternehmer tätig zu werden und neue, unbekannte Wege zu beschreiten? Geben wir die emanzipatorischen Bemühungen der vergangenen paar hundert Jahre langsam wieder auf, weil die neue Form der Herrschaft in der Regel uns die fürsorgliche Hand entgegenstreckt statt des Schwertes? Legt man die Umfrage von Forsa neben die EY Studie, den Freiheitsindex und Untersuchungen von Instituten wie Allensbach ist Sorge durchaus angebracht. Der Trend ist ziemlich übereinstimmend. Beängstigend sind vor allem die Ergebnisse der jüngsten Befragten. Keine Altersgruppe steht so deutlich hinter der Bürokratie wie die der 14- bis 29-Jährigen: Zwar finden 48 Prozent, dass es zu viel Bürokratie gebe, aber 43 sind der Ansicht es sei gerade richtig und 7 Prozent wollen gar mehr davon. 75 Prozent von ihnen finden nicht, dass der öffentliche Dienst den Steuerzahler zu viel Geld koste. Und 82 Prozent sind der Ansicht, man brauche einen starken Staat. (Der einzige Hoffnungsschimmer ist in dem Kontext, dass wenigstens 14 Prozent immer weniger Staat haben wollen.) Rebellengeist, Aufbruchsstimmung, Abwerfen der Fesseln und des Miefs von tausend Jahren? Offenbar derzeit nicht mehrheitsfähig …

Die Grenzen der Wirksamkeit des Staates

Dass gerade junge Menschen ein sehr hohes Vertrauen in staatliche Einrichtungen haben und „regelrechte Staats-Fans“ sind, liegt sicherlich auch daran, dass sie in der Regel noch keine Steuern bezahlen müssen und selten mit bürokratischen Hürden konfrontiert sind. An Schulen und Universitäten erleben sie einen Teil der Bürokratie, der mitunter als sehr positiv und hilfreich empfunden wird. Andererseits wird gerade in diesen Institutionen oft ein kritikloses Bild staatlicher Einrichtungen gezeichnet. Wer würde auch die Hand beißen, die einen füttert? So süß diese Nachricht in Herrn Dauderstädts Ohren auch klingelt – man könnte sie auch ganz anders formulieren: Vier von fünf jungen Menschen wünschen sich eine Institution, die sie für den Konsum von Cannabis bestraft; die ihnen Geld abknöpft, sobald sie mehr als 450 Euro im Monat verdienen; und die zumindest die Männer unter ihnen bis vor sechs Jahren noch gezwungen hat, zwischen 9 und 20 Monaten ihres jungen Lebens diesem Staat zu widmen. Nicht gerade das, was man von Leuten erwarten würde, die sich gerade durch irgendeine Phase ihrer Pubertät durchkämpfen, um am Ende die Fähigkeit zur Selbstbestimmung zu erlangen.

Wilhelm von Humboldt, einer der bedeutendsten liberalen Theoretiker unseres Landes, der vor 250 Jahren geboren wurde, verfasste mit 25 Jahren seine immer noch sehr lesenswerte Schrift „Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen“. Darin warnte er: „Anordnungen des Staates führen immer, mehr oder minder, Zwang mit sich, und selbst wenn dies der Fall nicht ist, so gewöhnen sie den Menschen zu sehr, mehr fremde Belehrung, fremde Leistung, fremde Hülfe zu erwarten, als selbst Auswege zu denken.“ Mit anderen Worten: Junge Menschen zu Staats-Fans zu erziehen, führt dazu, dass sie die Fähigkeit verlieren, selber für ihr Leben Verantwortung zu übernehmen. Und was fast noch schlimmer ist: sie verlieren oft sogar die Sehnsucht danach. Nein, junge Menschen sollten keine Fans des Staates sein! Sie sollten Fans ihrer eigenen Möglichkeiten, Hoffnungen, Begabungen und Erwartungen sein!

Photo: Wikimedia Commons (CC-BY-SA-3.9-migrated)

In Großbritannien kippt die Stimmung. Labour-Chef Jeremy Corbyn hat lange rumgeeiert und sich jetzt für eine weichen Brexit ausgesprochen. Vielleicht hat er meinen „Weckruf für eine weichen Brexit“ vom 9. Juni gelesen. Man sollte die Hoffnung nie aufgeben – selbst bei Sozialisten!

Nach der Wahlschlappe von Theresa May bei der Unterhauswahl im Juni und dem Verlust ihrer absoluten Mehrheit war klar, dass diese „Klatsche“ nicht ohne Folgen für die britischen Brexit-Verhandlungen sein konnten. Die Premierministerin ist weiterhin stark unter Druck und es ist nicht ausgemacht, ob sie die nächsten Monate politisch überlebt.

Schon hat Außenminister Boris Johnson Zugeständnisse bei den Scheidungskosten angekündigt. Fast könnte man glauben, die EU sei in der Vorderhand und könne den Briten den Takt diktieren. Zumindest kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die EU-Kommission besser vorbereitet ist. Nach wie vor will die EU-Kommission an Großbritannien ein Exempel statuieren. Nie wieder soll ein Mitgliedsstaat es wagen auszutreten. Gerade in Richtung Polen, Tschechien und Ungarn soll dies wirken. Ob dies die Zentrifugalkraft durch den wachsenden EU-Zentralismus beseitigt, muss bezweifelt werden. Als Kitt und Lockmittel wirken dann letztlich nur noch die Gelder, die aus Brüssel verteilt werden.

Schon schlägt Frankreichs Präsident Emmanuel Macron eine Verschärfung der Entsenderichtlinie vor, um den französischen Arbeitsmarkt gegen Arbeitnehmer und Unternehmen aus Osteuropa zu schützen. Er will die Entsendung auf maximal 12 Monate begrenzen. Mitarbeiter von entsendeten Firmen sollen nicht mehr nur den Mindestlohn des Landes erhalten, wo sie vorübergehend arbeiten, sondern den vergleichbaren Lohn. Wer jemals in der EU vom Abbau von Handelshemmnissen fabuliert hat, sollte künftig lieber still sein. Wer den Binnenmarkt, seine wohlstandsschaffende Wirkung auf die Märkte von Dienstleistungen und Waren jemals verstanden hat, sollte nicht weiter Hand an die ohnehin viel zu bürokratische Entsenderichtlinie und insbesondere ihre Umsetzung in die nationalen Gesetze anlegen.

Schon heute muss jedes Unternehmen, das im Nachbarland vorübergehend tätig ist, weil es eine Maschine aufbaut oder diese wartet, einen Wust an Bürokratie bewältigen, den mittelständische Firmen nicht ohne fremde Hilfe stemmen können. Damit wir die Wirkung eines gemeinsamen Marktes durchkreuzt. Es wäre so, als wenn ein Unternehmen aus Niedersachsen, das in Bayern eine Werkzeugmaschine installiert, vorher über das dortige Wirtschaftsministerium um Erlaubnis fragen muss. So weit sind wir innerdeutsch zum Glück noch nicht. Aber zwischen Frankreich und Deutschland, zwischen Deutschland und Österreich läuft es genau so. Macron will „Frankreich first“ durchsetzen und schadet damit dem eigenen Land. Wenn Unternehmen den Lohn des Einsatzlandes bezahlen müssen, dann wird es noch komplizierter. Woher soll ein Mittelständler aus Ostwestfalen mit 150 Mitarbeitern das Wissen hernehmen? Soll er extra dafür jemanden einstellen oder Anwälte damit beauftragen?

Erschreckend ist, dass die große Koalition und die Regierung in Berlin Macron beispringen. Auch sie wollen den deutschen Arbeitsmarkt abschotten und abriegeln. Sie sagen es nicht so, sondern kommen mit Schlagwörtern wie Dumpinglohn und unfairer Konkurrenz daher. Doch wo hört das auf? Ist es fair, dass Skoda seine Autos auf einem niedrigeren Lohnniveau in Tschechien produziert als VW in Wolfsburg. Müsste nicht Skoda, wenn es seine Autos in Deutschland verkaufen will, auch vergleichbare Löhne der deutschen Automobilindustrie bezahlen? Muss hier nicht auch die EU-Kommission endlich eingreifen? Ist das nicht auch Dumping? Und sind China, Indien und Südkorea nicht alle Dumping-Ökonomien? Müssen dort nicht auch unsere Löhne bezahlt werden? Was unterscheidet eigentlich diese Politik vom handelspolitischen Säbelrasseln eines Donald Trump? Ist es die Geschmeidigkeit? Die bessere Frisur? Regierungen wollen oft ökonomische Gesetze aushebeln, weil sie kurzfristig gefallen wollen. Doch ökonomische Gesetze lassen sich nicht beseitigen, sie wirken immer. Sie schaffen entweder die Basis für künftigen Wohlstand, oder die Politik versucht, sie zu verbiegen und schafft dadurch Arbeitslosigkeit und Armut.

Erstmals erschienen bei Tichys Einblick.