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Photo: Mehr Demokratie from Flickr (CC BY-SA 2.0)

„Das Volk hat entschieden.“ „Ein Sieg für die Demokratie.“ „Das Volk hat gegen die Eliten rebelliert.“ Kurz: Das Brexit-Votum war ein Paradebeispiel für gelungene Demokratie. Solche und ähnliche Äußerungen waren in den letzten Tagen bei Befürwortern des Brexit vermehrt zu lesen. Fast unverhohlen der Jubel, dass die einfachen Menschen es „denen da oben“ jetzt mal gezeigt haben. Dass sie sich zurückerobern, was nach Recht und Billigkeit das Ihre ist: die Volkssouveränität. Mit Verlaub: dieser Jubel ist grotesk. Er erinnert an die Argumentationsweise übereifriger Politikamateure, die das Wort „undemokratisch“ als Synonym für „dies ist nicht meine Meinung, ich halte sie für böse“ verwenden.

Volk ist eine Fiktion

Das Volk hat vor einer Woche im Vereinigten Königreich überhaupt nichts entschieden. Eine solide, wenn auch nicht überwältigende Mehrheit von 1,27 Millionen Briten, die zur Wahl gegangen sind, haben sich für die Option „Leave“ ausgesprochen. Insgesamt haben 46,5 Millionen Briten abgestimmt. Das Votum ist klar und es ist auf demokratischem Wege zustande gekommen. Es ist aber keineswegs eine Entscheidung des britischen Volkes.

Was soll das überhaupt sein, dieses britische Volk? Obwohl Großbritannien mit etwa 64 Millionen Einwohnern ein Stück kleiner ist als Deutschland, ist es vielleicht noch heterogener als unser Land. Es gibt signifikante Einkommensunterschiede: das BIP in London ist doppelt so hoch wie in der Gegend um Newcastle oder in Wales. Es gibt ausgeprägte Eliten-Schichten und -Traditionen und auf der anderen Seite eine verhältnismäßig große Gruppe an Bürgern, die in prekären Verhältnissen Leben, die sich zum Teil schon über Generationen hinziehen. (Der Gini-Koeffizient des Landes liegt bei 36 – zum Vergleich: in Deutschland, Österreich und der Schweiz liegt er zwischen 26 und 28,3 Punkten.)

Die Fliehkräfte innerhalb des Landes sind erheblich: das hat das schottische Unabhängigkeits-Referendum ebenso gezeigt wie die letzte Parlamentswahl und die jüngste Brexit-Abstimmung. Traditionell gibt es stark ausgeprägte Subkulturen – von den Katholiken in Nordirland über Inder, Pakistaner und Bangladeschis bis hin zu den Einwanderern aus der Karibik. Neben James Bond, Afternoon Tea und der Königin gibt es wenig Verbindendes. Das englische Volk ist eine Fiktion (ebenso wie das europäische Volk, von dem manche der wüsten EU-Romantiker träumen – da treffen sich beide Seiten …).

Wer „dem Volk“ Eigenschaft, Wille und Tätigkeit zuschreibt, der marginalisiert das Individuum

Überhaupt sind solche Kollektivbegriffe tunlichst zu vermeiden für jeden, dem der Wert des Individuums am Herzen liegt. Ist es schon logisch nicht möglich, dass ein Kollektivkörper von zig Millionen Menschen eine Entscheidung treffen kann, so ist eine solche Sprache auch das Einfallstor für die Feinde der Freiheit von rechts und links. Wie oft hört man in den Reden von Pablo Iglesias, Marine Le Pen, Victor Orban oder Sarah Wagenknecht, dass sie die Stimme des Volkes seien? Mit Schlagworten wie „schweigende Mehrheit“ oder „die einfachen Leute“ schwingen sich Feinde der Freiheit auf zu Volkstribunen und maßen sich an, für eine völlig unüberschaubare Gruppe zu sprechen. Wer den Begriff „Volk“ abseits des abstrakten juristischen Sprachgebrauchs nutzt; wer „dem Volk“ Eigenschaft, Wille und Tätigkeit zuschreibt, der marginalisiert das Individuum.

Demokratie ist kein Wert in sich. Demokratie ist ein Verfahren zur Ermittlung zustimmungsfähiger Entscheidungen und zum unblutigen Herrschaftswechsel. Mehr nicht. Dieses Verfahren ist wertvoll, weil es Mitsprache ermöglicht und Konflikte eindämmt. Aber es ist kein absoluter Wert, sondern lediglich Bedingung der Möglichkeit von Freiheit und Selbstbestimmung. Dass Demokratie nicht notwendigerweise diese Ergebnisse zeitigt, demonstrierten und demonstrieren Politiker wie Hugo Chavez, Vladimir Putin oder Recep Erdogan sehr eindrücklich, die alle auf demokratischen Wegen ins Amt gekommen sind. Alexis de Tocqueville warnte schon vor über 150 Jahren, die Demokratie könne zu einer „Tyrannei der Mehrheit“ ausarten. Seine Mahnung hat sich seitdem immer wieder eindrucksvoll bestätigt.

Demokratie ist niemals für sich genommen gut. Demokratie bedarf einer Bestimmung, um gute Wirkungen zu zeitigen. Es gehört zu den großen Leistungen der Autoren des Grundgesetzes, dass Sie das Wort demokratisch in der Regel mit dem Wort freiheitlich kombiniert haben und zugleich die Bedeutung des Rechtsstaates betont haben. Demokratie ist nur solange gut, wie sie das Individuum schützt.

Weltweit berufen sich Freiheitsverächter auf das Votum einer Mehrheit

Zurück zum Brexit: Natürlich steht außer Frage, dass das Referendum in einem Land durchgeführt wurde, das keine ernsthaften Zweifel zulässt an seiner freiheitlichen Tradition und Prägung, ja eine der wichtigsten Brutstätten freiheitlichen Gedankenguts überhaupt ist. Die unterlegenen Bürger tun gut daran, sich an die Spielregeln des demokratischen Geschäfts zu halten – auch an die inoffiziellen, sprich: Die Verteufelung der anderen Wähler zu vermeiden („xenophobe alte Männer, die uns unsere Zukunft versauen“).

Auf der anderen Seite sollten jene, die sich in der Tradition der – gerade englischen und schottischen – Aufklärung sehen, keine unkritische Verherrlichung der Demokratie betreiben. Das ist gerade heute gefährlich in einer Zeit, in der autoritäre und freiheitsfeindliche Politiker weltweit Oberwasser haben. Von den Philippinen bis Polen, in Ungarn, Russland, Venezuela und der Türkei können sich Freiheitsverächter auf das Votum einer Mehrheit berufen. Sie berufen sich auf den Auftrag des Volkes bei ihrem Unterfangen, die Errungenschaften der Bürgergesellschaft zurückzudrängen.

Es ist an der Zeit, Demokratie neu zu denken

Der Demokratie gebührt Respekt. Die Freiheit verdient Leidenschaft. Nicht umgekehrt. Denn es waren oft nicht demokratische Entscheidungen, die zu einem Mehr an Freiheit geführt haben. Es war in den meisten Fällen der entschlossene und mutige Einsatz von einzelnen Personen, die diese Welt verbessert haben – oft gegen den Widerstand breiter Mehrheiten. Die Sklavenbefreier, die Sufragetten und die Homosexuellenaktivisten sahen sich solchen Mehrheiten gegenüber. Die Vordenker unserer heutigen Freiheit waren oft genug einsame Menschen auf verlorenem Posten: von Richard Cobden über Ludwig von Mises bis zu Kurt Tucholsky. Niemals hätten sie zu ihrer Zeit Mehrheiten für ihre Überzeugungen gewinnen können. Wir aber ernten heute, was sie gesät haben.

Es ist an der Zeit, Demokratie neu zu denken. Gerade angesichts der demokratisch zustande gekommenen und kommenden Bedrohungen der Freiheit. Ein guter Denkanstoß mag in dem stecken, wie der englische Historiker Lord Acton die athenische Demokratie beschrieb: „Indem Solon jeden Bürger zum Wächter seiner eigenen Interessen machte, führte er das demokratische Element in den Staat ein.“ Demokratie bedeutet dann nicht mehr nur das reine Prozedere von Mehrheitsentscheidungen. Demokratie kann in diesem neuen Verständnis bedeuten, dass die Bereiche, in denen Menschen per Mehrheit über andere entscheiden, so weit wie möglich reduziert werden, damit jeder der Wächter seiner eigenen Interessen sein kann.

Und das sagen andere zum Thema:

Die abstrakte Anerkennung des Prinzips der Volkssouveränität vermehrt in nichts das Maß der Freiheit des Einzelnen, und wenn man dieser Souveränität einen Spielraum zuerkennt, den sie nicht haben sollte, kann die Freiheit diesem Prinzip zum Trotz oder sogar durch seine Einwirkung zugrunde gehen.
(Benjamin Constant, Grundprinzipien der Politik)

Das wahre demokratische Prinzip, dass keiner über das Volk Macht haben soll, wird so ausgelegt, dass keiner imstande sein soll, dessen Macht zu beschränken oder zu entkommen. Das wahre demokratische Prinzip, dass das Volk nicht gezwungen werden soll, zu tun, was es nicht will, wird so ausgelegt, dass es niemals gezwungen werden sollte, zu tolerieren, was ihm nicht gefällt. Das wahre demokratische Prinzip, dass der freie Wille eines jeden Menschen so unbehindert wie möglich sein soll, wird so ausgelegt, dass der freie Wille des gesamten Volkes durch nichts aufgehalten werden soll.
(Lord Acton, Sir Erskine May’s Democracy in Europe)

… er [Lord Acton] ist gegen die verhängnisvollste und gefährlichste von allen Fehlvorstellungen von Demokratie – gegen den Glauben, dass wir die Ansichten der Majorität als die richtigen und für die zukünftige Entwicklung bindenden annehmen müssen.
(Hayek, Wahrer und falscher Individualismus)

Der dogmatische Demokrat erachtet es als wünschenswert, dass möglichst viele Fragen durch Mehrheitsbeschluss entschieden werden, während der Liberale meint, dass es für den Bereich der Fragen, die so entschieden werden sollen, bestimmte Grenzen gibt. … Der Zentralbegriff des doktrinären Demokraten ist der der Volkssouveränität. Das heißt für ihn, dass die Herrschaft der Mehrheit unbeschränkt und unbeschränkbar ist. Das Ideal der Demokratie, die ursprünglich alle willkürliche Gewalt verhindern sollte, wird damit zur Rechtfertigung für eine neue willkürliche Gewalt.
(Hayek, Verfassung der Freiheit)

Die Idee der Allgewalt der Mehrheit ist … eine notwendige Folge der irrigen Ansicht, dass ein bestimmtes Verfahren zur Feststellung der Meinung der Mehrheit auf alle möglichen Fragen eine Antwort geben müsse, die wirklich die Meinung der Mehrheit widergibt. Dieser Irrtum hat zu dem merkwürdigen Glauben geführt, dass das bestehende demokratische Verfahren stets das gemeinsame Beste erzeuge, einfach, weil das gemeinsame Beste als das Ergebnis dieses bestimmten Entscheidungsverfahrens definiert ist.
(Hayek, Die Anschauungen der Mehrheit und die zeitgenössische Demokratie)

Wenn man darauf beharrt, dass Demokratie unbeschränkte Regierung bedeutet, dann glaube ich nicht an die Demokratie.
(Hayek, Die Sprachverwirrung im politischen Denken)

Wer das Prinzip der Demokratie in diesem Sinne akzeptiert, ist also nicht gezwungen, das Resultat einer demokratischen Abstimmung als einen autoritativen Ausdruck dessen anzusehen, was Recht ist. Er wird die Entscheidung der Majorität akzeptieren, um den demokratischen Institutionen die Arbeit zu ermöglichen. Es steht ihm aber frei, diese Entscheidung mit demokratischen Mitteln zu bekämpfen und auf ihre Revision hinzuarbeiten.
(Popper, Die Offene Gesellschaft und ihre Feinde)

Erstmals erschienen bei Peace Love Liberty.

Photo: GLOBAL 2000/Christopher Glanzl from Flickr (CC BY-ND 2.0)

Die intellektuelle Elite der westlichen Welt ist in Schockstarre: Von Österreich bis zu den Philippinen, von den USA bis nach Sachsen-Anhalt haben Populisten plötzlich massiven Aufwind. Dieselben Eliten sind freilich nicht unschuldig daran: Wenn es ihnen passte, haben sie auch gerne das Instrument der Panikmache genutzt.

Die Skandalkultur der 70er und 80er Jahre

Populismus fällt nicht vom Himmel. Er wächst aus der Erde hervor. Und der Nährboden für dessen Gedeihen wird nicht selten von Menschen bereitet, die das gar nicht beabsichtigen. Populismus gedeiht durch undifferenzierte und mithin sehr eindimensionale Kommunikation, er nährt sich von irrationaler Angst und braucht Skandale, um groß zu werden. Eine erste Blütezeit der Skandalkultur waren die 70er und 80er Jahre. In Gang gebracht haben das ebenjene Vordenker aus dem intellektuellen Milieu, die heute entsetzt aufschreien. Die gesellschaftliche Macht der Zeit-Journalisten, Politologie-Professoren und Greenpeace-Aktivisten ist nicht zuletzt durch Skandalisierung und Panikmache entstanden. Und nun ist es wie bei Goethes Zauberlehrling: „Herr, die Not ist groß! Die ich rief, die Geister, werd ich nun nicht los.“

Am Anfang der Skandalisierungskultur stand ein ehrenwertes Anliegen. In der unmittelbaren Nachkriegszeit wurde Vergangenheitsbewältigung nur sehr zaghaft betrieben. Wer die Auseinandersetzung mit der grauenhaften NS-Vergangenheit vorantreiben wollte, wie etwa der Staatsanwalt Fritz Bauer, musste laut werden. Oder zu etwas fraglichen Mitteln greifen wie Beate Klarsfeld mit ihrer Ohrfeige für Bundeskanzler Kiesinger. Politische Aktivisten der 70er Jahre übernahmen diese Techniken und rechtfertigten sie durch den Gebrauch des pauschalen Nazi-Etiketts. Überall sahen sie Nazis: in den Vorstandsetagen und im Bundestag, in den Kirchen und Kindergärten, in der Bundeswehr und bei den Energieversorgern. Man musste nur Faschismus drauf schreiben und schon wandelte sich jedes Hetzen, Niederbrüllen und Steinewerfen in eine Heldentat.

Zuwanderung statt Gentechnik

Ob Anti-Atomkraft- oder Friedens-Bewegung, ob Wale retten oder Gen-Gemüse verhindern: Immer gibt es einen guten Grund dafür, warum man laut sein darf, warum man Angst und Panik verbreitet, warum man es „denen da oben“ mal ordentlich zeigt. Man fühlt sich auf der richtigen Seite. Man steht in einer Tradition mit Sophie Scholl und Gandhi, Rosa Parks und Benno Ohnesorg. Auch in jüngster Zeit wird das Mittel „Skandal“ immer wieder angewandt: So etwa als Greenpeace die völlig unspektakulären „Geheim-Papiere“ zu TTIP „enthüllte“ oder mit dem jüngsten Hype um Glyphosat.

Muss man sich wundern, wenn all diese Methoden nun nicht mehr nur für die „richtigen“ Ziele wie Weltfrieden, Umweltrettung und eine gen- und atomfreie Erde eingesetzt werden? Jahrzehntelang haben linke Aktivisten vorgemacht, wie man Mücken zu Skandal-Elefanten macht und wie man Ängste nutzt, um politische Ziele durchzusetzen. Nun machen es eben rechte Aktivisten nach. Ersetze „Atom-Super-GAU“ durch „Niedergang der Kultur“, „Gentechnik“ durch „Zuwanderung“ und „Chlorhühnchen“ durch „Sexualkunde“ … Sogar die Selbststilisierung zum Helden kann man wiederfinden: Absurderweise vergleichen sich nicht selten rechte Aktivisten mit Figuren des Widerstands gegen den Nationalsozialismus.

Vereinfachen und Polemisieren wie Campact, Greenpeace und Occupy

Trump, Hofer, Le Pen, Kaczynski und Orban sind nicht nur Produkte einer absteigenden Mittelklasse, die sich als Verlierer der Globalisierung empfinden. Sie sind auch gelehrige Schüler der 68er und ihrer Epigonen. Sie vereinfachen wie Campact, sie polemisieren wie Greenpeace und sie inszenieren sich als Stimme des Volkes wie die Occupy-Bewegung. Im Unterschied zu Goethes Zauberlehrling gibt es jedoch in dieser Situation keinen Hexenmeister, der den Scherbenhaufen wieder aufräumen könnte, den die Nachwuchs-Zauberer hinterlassen. Und es wird auch nicht so schnell gehen wie in der Goethe-Ballade: Es wird gemeinsamer und langfristiger Bemühungen bedürfen, um der populistischen Versuchung Herr zu werden.

Gefragt sind bei diesen Bemühungen alle diejenigen, die sich in stärkerem Maße politisch engagieren: Politiker selbst, aber vielleicht noch viel mehr Journalisten, Mitarbeiter von NGOs und Aktivisten. Die Hauptaufgabe besteht darin, das Diskussionsklima wieder herunter zu kühlen. Wer sich Sorgen macht wegen des rechten Populismus, der muss auch auf der linken Seite abrüsten. Hört auf damit, TTIP zu dämonisieren, ungleiche Einkommensverteilung zu skandalisieren, Sorge vor zu vielen Zuwanderern als faschistoid zu bezeichnen und allenthalben Machenschaften und Geheimniskrämerei der Großkonzerne oder des Establishments zu wittern! Schon vor fast sechzig Jahren schrieb der am Mittwoch verstorbene Historiker Fritz Stern über „Kulturpessimismus als politische Gefahr“. Wenn wir nicht gegensteuern, könnte wirklich das „Zeitalter der Angst“ anbrechen, vor dem er noch im Januar warnte.

Toleranz ist derzeit in vielen politischen Debatten rund um den Globus ein zentrales Thema. Die Entdeckung der Toleranz war die Grundlage für das Entstehen unserer freiheitlich-demokratischen Gemeinwesens. Sie ist nicht verhandelbar.

Allgemeines Prinzip, nicht nur Anspruch einer Minderheit

Die Forderung, dass einem Toleranz entgegengebracht werden möge, ist uralt. Sokrates hat sie erhoben, auch die Christen und Juden des Altertums haben darauf gepocht. Und in der Zeit der Reformation erwarteten Katholiken und Protestanten gleichermaßen Toleranz, wo auch immer sie gerade in der Minderheit waren. Aber erst im Laufe des 16. und 17. Jahrhunderts entwickelte sich langsam die Vorstellung, dass Toleranz mehr ist als die Duldung, die man für sich selbst einfordert. In Gemeinwesen wie dem Königreich Polen-Litauen, den Vereinigten Niederlanden oder den Kolonien Großbritanniens auf dem Boden der heutigen USA wurde erstmals das Prinzip angewandt, dass Toleranz als allgemeines Prinzip zu gelten habe, nicht nur als Anspruch einer Minderheit.

Bezeichnenderweise sind diese Gemeinwesen auch die wichtigsten Vorläufer heutiger demokratischer Staaten. Hier entstanden die grundlegenden Verfassungsprinzipien, nach denen die moderne Demokratie sich organisiert. Zugleich waren diese Gemeinwesen auch besonders innovativ und ökonomisch erfolgreich. Die theoretische und oft auch praktische Grundlage des Toleranz-Gedankens lieferten Vordenker wie der französische Gelehrte Sebastian Castellio, die Staatstheoretiker Hugo Grotius und John Locke und die Gründer der ersten amerikanischen Kolonien Roger Williams, Thomas Hooker und William Penn. Erstmals verwirklicht wurde Toleranz in Polen ab dem Jahr 1573, wo durch die „Konföderation von Warschau“ orthodoxen und protestantischen Christen jeder Konfession dieselben Rechte zugestanden wurden wie Katholiken.

Absage an eine autoritäre Steuerung von Gewissen, Gemeinwesen und Markt

Ohne diese Vorarbeit der Generationen vor uns wäre die Idee einer Demokratie undenkbar, in der alle Menschen die Möglichkeit haben, auf Entscheidungen Einfluss zu nehmen. Aus dem Prinzip der unterschiedslosen Toleranz für jeden entwickelte sich der Grundsatz der Meinungsfreiheit. Wenn man schon in religiösen Fragen seinen eigenen Vorstellungen folgen können sollte, war es ja nur konsequent, diese Möglichkeit auf alle Bereiche des menschlichen Lebens auszuweiten. Wenn es in religiösen Fragen niemanden geben sollte, der über die Wahrheit befinden kann, um wieviel weniger kann das in politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fragen der Fall sein.

Mit dem Toleranz-Gedanken geht die Vorstellung einher, dass es niemanden gibt, der im Besitz der Wahrheit ist. Dass Erkenntnisse und Lösungen gefunden werden müssen in einem Dialogprozess, an dem viele beteiligt sind. Dass es essentiell ist, auf die Einsichten anderer zugreifen zu können, auf diese Weise zu lernen und sich zu verbessern. Politische Lösungen werden in diesem Weltbild nicht mehr von einem Herrscher von Gottes Gnaden bestimmt, sondern im Austausch der Meinungen gefunden und immer wieder verändert und angepasst. Diese Form der Kommunikation liegt nicht nur der Demokratie zugrunde, sondern auch der Marktwirtschaft, die auch darauf baut, dass Lösungen am besten dezentral gefunden werden. Die Absage an eine autoritäre Steuerung von Gewissen, Gemeinwesen und Markt – kurz Toleranz – hat sich über die letzten Jahrhunderte als das erfolgreichste Modell erwiesen.

Der Fremde als Gefahr und der Wettbewerb als Bedrohung

Der größte Feind der Toleranz ist die Angst. Bedeutet Toleranz doch den Verzicht auf Kontrolle und Steuerung. Man lässt zu, dass sich Dinge in eine Richtung entwickeln könnten, die einem selbst nicht behagt. Die Angst, die daraus entsteht, bringt die Sehnsucht hervor, die Dinge im Griff zu behalten. Sie ist mithin der Nährboden für den Ruf nach Planung: in der Gesellschaft wie in der Wirtschaft. Das ist der Rückfall in das Stammesdenken längst vergangener Zeiten. Hier wird der Fremde als Gefahr wahrgenommen und der Wettbewerb als Bedrohung der eigenen Stellung. Toleranz braucht mutige Menschen mit der Bereitschaft, sich dem Wettbewerb und dem Unbekannten auszusetzen.

Der islamistische Terror, die fragile Situation, in der sich die Weltwirtschaft derzeit befindet, die Millionen, die sich derzeit auf der Flucht befinden – es gibt genug Gründe zur Wachsamkeit und dafür, sich sehr ernsthaft Gedanken über Lösungen zu machen. Für die Menschen in den Ländern Osteuropas, in den USA, in Frankreich und Großbritannien und auch hier bei uns in Deutschland sollte bei all diesen Herausforderungen Mut das Leitmotiv und der Toleranz-Gedanke der Maßstab sein. Denn sie sind die Wurzel der Demokratie, der Marktwirtschaft und des freiheitlichen Gemeinwesens. Diese waren über die Jahrhunderte so erfolgreich, weil mutige Menschen sie verteidigt haben. Weil Menschen die Größe aufgebracht haben, nicht nur für sich selbst und ihre Gruppe ein Recht zu beanspruchen, sondern es jedem zu gewähren. Toleranz ist einer der wichtigsten Meilensteine auf dem Weg zur Zivilisation der Freiheit. Wir dürfen nicht wieder dahinter zurück!

Photo: Thorsten Krienke from Flickr

Morgen ist es wieder da: Das Tanzverbot. Ein guter Anlass, sich einmal wieder der Frage des Verhältnisses zwischen freiheitlichem Rechtsstaat und Religion zu widmen.

Vom Brauch zum Gesetz

Es gibt, von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich, eine ganze Reihe an Tagen, an denen Tanzveranstaltungen oder sportliche Großereignisse nicht erlaubt sind. Während vor allem die Stadtstaaten Regelungen haben, die möglichst wenig restriktiv sind, sind in traditioneller geprägten Ländern eher strenge Regeln anzutreffen. Am gravierendsten übrigens nicht etwa in Bayern, sondern in Hessen.

Entstanden sind diese Vorschriften in einer Zeit, in der Kirchen in Deutschland noch eine wesentlich gewichtigere Rolle im Leben der Bürger gespielt haben. Die allermeisten Bürger gingen vor einem Jahrhundert noch am Karfreitag in die Kirche und befolgten die Tradition, diesen Tag in Stille und Andacht zu begehen. Gerade die traditionelle Staatsnähe der evangelischen Kirchen führte dazu, dass derlei Traditionen im Zweifel auch ohne gesetzliche Grundlage mit staatlicher Autorität durchgesetzt wurden. Wenn es am Abend des Feiertages in einer Kneipe zu munter wurde, kreuzte mitunter auch mal der Schutzmann auf und sorgte für Ruhe und Ordnung. Mit der Weimarer Verfassung von 1919 wurden dann gesetzliche Feiertage eingeführt mit allen strafrechtlichen Konsequenzen.

Religion als Privatsache: Fundament moderner, freiheitlicher und offener Gesellschaften

Das sehr ambivalente Verhältnis von Staat und Religion hat in der Geschichte der Menschheit lange eine zentrale Rolle gespielt. Mal dient Religion der Legitimation von Herrschaft vom antiken Rom über die Kalifen bis zu „Wilhelm, von Gottes Gnaden Deutscher Kaiser“. Religion ist aber zugleich auch ein Hort der Machtkritik: Die Propheten im alten Israel, die Quaker im Großbritannien des 17. und 18. Jahrhunderts, der antikommunistische Widerstand in Polen, Litauen und Ungarn. Religion als Privatsache zu betrachten, ist das Fundament moderner, freiheitlicher und offener Gesellschaften. Diese Überzeugung steht am Beginn unseres Verständnisses von Toleranz, Meinungsfreiheit und Selbstbestimmung, ist mithin die Wurzel des Individualismus.

Ein Staat, der sich der Religion bedient, maßt sich die absolute Herrschaft über den Menschen an, er dringt bis in seinen Kopf und sein Herz vor. Er kann seine Bürger manipulieren, indem er an deren innerste und tiefste Gefühle appelliert. Und natürlich gibt es auch die umgekehrte Situation. Das führt uns ja mit entsetzlicher Brutalität gerade der „Islamische Staat“ vor Augen: Eine religiöse Bewegung, die mit den Machtmitteln weltlicher Herrschaft ausgestattet ist, wird ebenso absolutistisch und gewaltsam wie ein Staat, der Religion benutzt. Gefahr droht überall dort, wo das Emotionale und Persönliche, das sich in der jeweiligen religiösen Überzeugung ausdrückt, verbindet mit den Instrumenten der Macht. Damit Macht beschränkt und Freiheit gewahrt wird, ist es unerlässlich, dass die Ordnung eines Gemeinwesens nach abstrakten Regeln und Maßstäben abläuft.

Geschmacksfragen sind kein Fall für das Recht

Das Tanzverbot ist keine substantielle Bedrohung individueller Freiheit. Und angesichts der stetig abnehmenden Religiosität ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass der Einfluss von Religionsgemeinschaften eher weiter abnehmen wird. Dennoch ist es natürlich eine Freiheitseinschränkung für viele Menschen, die mit abstrakten Regeln nicht vereinbar ist. Sie kommt lediglich dem Geschmack oder den Überzeugungen des religiösen Teils der Bevölkerung entgegen. Ähnlich übrigens wie die staatliche Ehe.

Man könnte durchaus die abstrakte Regel des Rechts auf freie Religionsausübung so auslegen, dass während eines Karfreitagsgottesdienstes kein Techno Rave unmittelbar vor der Kirche stattfinden sollte. So wie man keine Grillpartys auf dem Friedhof veranstaltet. Das Tanzverbot geht freilich weit darüber hinaus. Es verpflichtet alle Bürger darauf, den Geschmack und die Überzeugung eines Teiles der Bevölkerung zum eigenen Verhaltensmaßstab zu machen. Das ist im Übrigen nicht nur unvereinbar mit einem freiheitlichen Rechtsstaat, sondern trägt auch nicht gerade zum Sympathiegewinn für die Kirchen bei.

Das Verhältnis von Staat und Religion wieder auf den Prüfstand stellen

Es würde den Vertretern der verschiedenen Kirchen in Deutschland sehr gut zu Gesichte stehen, wenn sie sich auch für eine Aufhebung des Tanzverbots am Karfreitag und anderen kirchlichen Feiertagen einsetzen würden. Ganz im Sinne dessen, was Papst Benedikt XVI. vor fünf Jahren in Freiburg sagte: „Die von ihrer materiellen und politischen Last befreite Kirche kann sich besser und auf wahrhaft christliche Weise der ganzen Welt zuwenden, wirklich weltoffen sein.“

Es ist, gerade auch angesichts der Bedrohung durch einen politisierten Islam, höchste Zeit, das Verhältnis von Religion und Staat auf eine solide Basis zu stellen, die konsistent ist mit dem freiheitlichen Rechtsstaat. So wenig dieser einen Menschen an seiner Religionsausübung hindern darf, so wenig darf er auch religiöse Überzeugungen durchsetzen. Tanzverbote, staatliche Definitionen von Ehe, staatlich geförderter Religionsunterricht und ähnliche Maßnahmen gehören auf den Prüfstand und in die öffentliche Debatte.

Tanz am Kreuz statt Tanz gegen das Kreuz

Den gläubigen Christen, denen die Heiligkeit des Karfreitags am Herzen lieg, mag ein Lied des englischen Dichters Sydney Carter zu ein wenig Tanztoleranz verhelfen, der Jesus diese Worte in den Mund legt:

I danced on a Friday when the world turned black.
It’s hard to dance with the devil on your back.
They buried my body they thought I was gone,
But I am the dance, and the dance goes on.

Dance, dance wherever you may be.
I am the Lord of the dance, said he.
And I lead you all wherever you may be,
And I lead you all in the dance said he.

Photo: big-ashb from flickr (CC BY 2.0)

In diesen Tagen der europäischen Krise werden wieder die europäischen Werte beschworen. Europa sei eine Wertegemeinschaft, betonte Bundeskanzlerin Angela Merkel neulich im Parlament der Europäischen Union. Merkel bezog diese floskelhafte Aussage auf die Flüchtlingskrise. Sie forderte, Europa müsse sich an Menschenwürde, Rechtsstaatlichkeit, Toleranz, der Achtung von Minderheiten und Solidarität orientieren.

Kampf um Werte in Europa – banalisiert

Zweifelsohne sind dies wichtige Werte, die Europa historisch verbinden. Es waren spanische Dominikaner, die im 16. Jahrhundert beim Anblick der Unterdrückung der Bevölkerung in Mittel- und Südamerika die Menschenwürde als universelles Grundrecht gegenüber dem spanischen König einforderten. Es war im 13. Jahrhundert die Magna Charta, die die Willkür des englischen Königs beschnitt und den Weg zum Rechtsstaat bahnte. Schon im 16. Jahrhundert wurden die Werte Toleranz und Achtung von Minderheiten eindrücklich verwirklicht, als etwa das Königreich Polen-Litauen verfolgten Protestanten aus ganz Europa eine neue Heimat gab. Und es war der als Sankt Martin verehrte Bischof von Tours, der im 4. Jahrhundert seinen Mantel aus freien Stücken mit einem Bettler am Wegesrand geteilt hat.

Ob Angela Merkel wohl an diese historischen Ereignisse gedacht hat? Es spricht nicht viel dafür. Doch da ist sie nicht alleine. Heute werden die Werte Europas umgedeutet und in Sonntagsreden banalisiert. In der real existierenden Europäischen Union wird unter Menschenwürde der Beschäftigung vernichtende Mindestlohn und unter Rechtsstaatlichkeit die Vertragsbrüche von Maastricht und Dublin verstanden, unter Toleranz die Regulierung von Kerzen, Ölkännchen und Glühbirnen, unter der Achtung von Minderheiten die Förderung der Nomenklatura in Brüssel und unter Solidarität die Rettung europäischer Banken. Die europäische Wertegemeinschaft ist ein Wieselwort. Erst durch konkrete Institutionen werden abstrakte Werte real und fassbar.

Die Trennung von Kirche und Staat, Marktwirtschaft, individuelle Freiheitsrechte, Rechtsstaat und Demokratie sind Institutionen, die diese Werte Wirklichkeit werden lassen. Die Trennung von Kirche und Staat ist das Ergebnis eines über Jahrhunderte ausgetragenen Machtkampfes zwischen den Kirchen und den weltlichen Herrschern. Der Drang der Kaiser und Könige, sich in innerkirchliche Belange einzumischen, und das Ansinnen der Päpste und Bischöfe, sich die weltlichen Herrscher zu ihren Untertanen zu machen, hat eine Machtbalance hervorgebracht, deren Ergebnis die tatsächliche Trennung der beiden Bereiche war. Anders als etwa in den meisten islamischen Staaten, die keine Trennung zwischen Religion und Staat kennen. Ein entscheidender Unterschied ist, dass in unseren Breitengraden das kirchliche Recht nicht über dem staatlichen Recht steht, sondern ihm untergeordnet ist. Zwar entstammt die europäische Rechtstradition auch dem kanonischen, also kirchlichem Recht, aber auch dies entstammt letztlich griechisch-römischer Rechtstradition.

Wachsende Kluft zwischen Werten und Institutionen

Die Marktwirtschaft und der Kapitalismus haben ihre Verankerung im Privateigentum und im Individualismus. Beides verdanken wir der schottischen Aufklärung des 18. Jahrhunderts, dessen prominentester Vertreter Adam Smith war. Einige wesentliche Erkenntnisse über deren Funktionieren haben sogar bereits die scholastischen Philosophen im 13. Jahrhundert und die Gelehrten der Schule von Salamanca im 16. Jahrhundert gewonnen und formuliert.

Die individuelle Freiheit folgt der Erkenntnis, dass nicht das Streben nach gemeinsamen Zielen eine freie und offene Gesellschaft ermöglicht, sondern, dass die größtmögliche Verwirklichung individueller Freiheit am Ende auch die Freiheit einer ganzen Gesellschaft mehrt.

Der Rechtsstaat sichert in der Tradition eines Immanuel Kant die Gleichheit vor dem Gesetz. Sein kategorischer Imperativ: “Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde” hat nicht nur die europäische Verfassungsgeschichte seit dem 18. Jahrhundert maßgeblich beeinflusst, sondern auch die amerikanische.

Das Aufbegehren gegenüber den Königen und Fürsten durch das Volk brachte letztlich auch die Demokratie hervor, deren Wurzeln wir in der Schweiz verorten können wie in Großbritannien, in den Niederlanden wie in Polen. Bald erkannte man, dass es nicht genügt, nur dem reinen Mehrheitsprinzip zu folgen, sondern, dass man Demokratie einhegen muss in einen Grundrechtskatalog, der das Individuum vor der Despotie der Mehrheit schützt. Heute wissen wir, dass Fortschritt darin besteht, dass die Wenigen die Vielen überzeugen. Neue Ideen treten zuerst bei Einzelnen auf, bevor sie zur Mehrheitsmeinung werden können.

Diese Institutionen entstammen einer europäischen Wertetradition, die längst vergessen scheint, weil Werte und Institutionen immer wieder auseinander klaffen. Sie wieder an das Tageslicht zu bringen, würde Europa helfen, seine Krise zu überwinden und der europäischen Wertegemeinschaft wieder einen Sinn zu geben.

Dieser Beitrag erschien zuerst auf Tichys Einblick.