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Kulturpessimismus, Angst vor der Globalisierung, Innovationsfeindlichkeit und Besitzstandwahrung sind uralte Phänomene. Ängste und Sorgen, die heute auf der linken wie auf der rechten Seite des politischen Spektrums geschürt werden, haben schon vor fast 3000 Jahren Menschen verrückt gemacht.
Zeitlos: der Mythos der Verfallsgeschichte
Bereits Hesiod, nach Homer der älteste abendländische Schriftsteller, den wir kennen, hat in seinem Hauptwerk, der Theogonie, den Mythos der verschiedenen Zeitalter der Menschheit erzählt – als Verfallsgeschichte, an dessen Beginn das Goldene und an dessen Ende das Eiserne steht. Die Vorstellung, dass alles immer schlimmer wird, dass das Neue und Fremde auf jeden Fall schlechter ist als das Alte und Bekannte, scheint ein menschlicher Urmythos zu sein. Und bis heute erfreut er sich hoher Beliebtheit, obwohl doch der Blick zurück uns eigentlich eines Besseren belehren sollte. Wie wenig sich die Ängste von Grünen, Sozialisten und Konservativen von denen der Antike unterscheiden, zeigt auf anschauliche Weise ein Text des griechischen Schriftstellers Aratos von Soloi aus dem 3. Jahrhundert vor Christus.
Dieser Dichter aus dem antiken Kilikien, einem Gebiet, das heute im Südosten der Türkei liegt, hat der Nachwelt ein Werk hinterlassen, das die ganze Antike hindurch hoch im Kurs stand: Phainomena. Er beschreibt dort die Sternenwelt, durchbricht aber seine Beschreibungen immer wieder mit Anekdoten und Erzählungen – so auch über den Wechsel und Verfall der Zeitalter. Wenn man sich den Text genauer ansieht, dann kann man erkennen, dass viele der Ängste und Sorgen, die er beschreibt, noch heute in unseren Köpfen herumspuken. Diese Geschichte handelt von der „Gerechtigkeit“, die früher ganz offen auf der Erde herumwandelte, sich im Laufe der Zeit aber immer mehr zurückzog. Sehen wir uns ein paar Formulierungen genauer an:
Der widernatürliche Wettbewerb
„Zu jener Zeit kannten die Menschen noch nicht das hasserfüllte Streben, den mäkelnden Wettbewerb oder das Lärmen des Krieges. Sie lebten vielmehr ein einfaches Leben.“ Heute würde man sagen: „Früher gab es noch nicht die Ökonomisierung aller Lebensbereiche“. Die Idee, dass das Bedürfnis, besser zu sein als andere – das Streben, der Wettbewerb – etwas moralisch Verwerfliches ist, haben mitnichten Zeit-Redakteure erfunden. Sie entspringt vielmehr unserem Denken in Kleingruppen, wie es Hayek und Popper so anschaulich beschrieben haben. Im Rahmen einer kleinen Gemeinschaft kann das Unterfangen, besser zu sein als andere, für den Rest der Gruppe bedrohlich sein. Wer im Konkurrenzkampf in einer so kleinen Gruppe unterliegt, konnte existentiell gefährdet sein. In einer Gesellschaft der Arbeitsteilung und des Tausches sind solche Ängste jedoch nicht mehr rational. Sie sind durch die Entwicklung der Marktwirtschaft längst überholt.
Aber viele wollen eben gerne zurück zu jenem einfachen Leben von früher. Nicht, weil sie auf Toiletten und Kitas, Auslandsstudium und Internet verzichten wollten. Sondern weil sie die Last der Moderne zu stark empfinden. Weil ihnen deren Unübersichtlichkeit und Schnelligkeit zu einer Qual wird. Sie wollen sich nicht mehr mit anderen messen und wollen Veränderung vermeiden. Sie wollen eine übersichtliche Welt, in der sie alles unter Kontrolle haben können. Die Sehnsucht nach dem einfachen Leben hat eben oft genauso viel mit der Abgabe von Verantwortung zu tun wie mit dem Bedürfnis zu kontrollieren und beaufsichtigen.
Antikapitalismus und Fremdenfeindlichkeit
„Das grausame Meer war weit weg von ihnen und die Schiffe brachten noch nicht von Ferne her die Güter, die sie zum Leben brauchten.“ Das Misstrauen gegen Händler ist so alt wie der Handel selbst. Da spielt die Empörung mit hinein darüber, dass es Menschen gibt, die sich ihr Auskommen nicht im Schweiße ihres Angesichts und mit „ehrlicher Arbeit“ verdienen, sondern einfach nur, indem sie Waren vom einen zum anderen bringen. Die Gewinnmarge hat aus dieser Sicht etwas Betrügerisches, denn man schlägt etwas auf den Preis ohne eigentlich etwas dafür geleistet zu haben. Es sind die Vorfahren der Spekulanten und Heuschrecken, der gierigen Profiteure und Raubtierkapitalisten. Das Gegenteil dazu sind die einheimischen Bauern, deren Produkte man besser kaufen sollte – oder wie man im Großbritannien der 30er Jahre sagte: „Buy british!“
Und noch ein zweiter Aspekt spielt hinein in diese Aversion gegen den Händler: die Angst vor oder gar die Feindlichkeit gegenüber dem Fremden. Der Soziologe Georg Simmel hat das in seinem 1908 erschienen „Exkurs über den Fremden“ gut herausgearbeitet: „In der ganzen Geschichte der Wirtschaft erscheint der Fremde allenthalben als Händler bzw. der Händler als Fremder. Solange im wesentlichen Wirtschaft für den Eigenbedarf herrscht oder ein räumlich enger Kreis seine Produkte austauscht, bedarf es innerhalb seiner keines Zwischenhändlers; ein Händler kommt nur für diejenigen Produkte in Frage, die ganz außerhalb des Kreises erzeugt werden.“ Während die einen den Händler verachten, weil er nicht ehrlich arbeitet, sehen die anderen in ihm vor allem den Fremden, der eine Bedrohung der eigenen Lebenswelt darstellt, in der man es sich so schön eingerichtet hat. Noch einer jener Bereiche, in denen sich Antikapitalisten und Nationalisten die Hand reichen können.
Wir brauchen keine auf Erden wandelnde Gerechtigkeit!
„Reichlich wurden ihre Bedürfnisse erfüllt vom Ochsen und Pflug und von der Gerechtigkeit, der Königin der Menschen und der gerechten Zuteilerin der Gaben.“ Wenn nur jemand gerecht zuteilt, dann ist für jeden genug da. Das ist der große Irrtum, der sich leitmotivisch nun schon über die Jahrtausende hinweg verbreitet. Aratos hätte durchaus schon bei seinem Landsmann Aristoteles nachschlagen können, der bereits hundert Jahre vorher in seiner „Nikomachischen Ethik“ zwischen Verteilungs- und Tauschgerechtigkeit unterschieden. Es gehört zum Wesen der Tauschgerechtigkeit, dass alle Beteiligten diesen Tausch durch ihre Zustimmung als vorteilhaft für sich und mithin als gerecht qualifizieren. Und erst durch diese Dynamik des Tauschens und Handelns kommen wir in eine Lage, dass unsere Bedürfnisse immer reichlicher (!) erfüllt werden können. Dazu braucht es keine auf Erden wandelnde Gerechtigkeit – ob sie im Gewand einer Göttin daherkommt oder in dem eines Politikers …
Was Aratos aus dem 3. Jahrhundert vor Christus mit den Konservativen, Grünen und Sozialisten des 21. Jahrhunderts verbindet, ist die Furcht vor Veränderung, vor dem Neuen und dem Unbeherrschbaren. Was sie unterscheidet ist, dass Aratos seinen Kulturpessimismus als intellektuelle Marotte pflegte, während Politiker besagter Couleur aus dieser Furcht politische Maßnahmen ableiten. Sie hemmen Entwicklungen und beschränken Freiheit. Und das nur, weil sie Bildern und Vorstellungen anhängen, die durch die Entwicklung der Menschheit seit den Tagen des Hesiod und des Aratos Generation um Generation widerlegt worden sind.
Wissen Sie übrigens, wer es in Hesiods Erzählung war, der das Ende des Goldenen Zeitalters einläutete? Prometheus – indem er den Menschen das Feuer brachte und sie aus der Abhängigkeit von den Göttern befreite!