Photo: Mehr Demokratie from Flickr (CC BY-SA 2.0)

„Das Volk hat entschieden.“ „Ein Sieg für die Demokratie.“ „Das Volk hat gegen die Eliten rebelliert.“ Kurz: Das Brexit-Votum war ein Paradebeispiel für gelungene Demokratie. Solche und ähnliche Äußerungen waren in den letzten Tagen bei Befürwortern des Brexit vermehrt zu lesen. Fast unverhohlen der Jubel, dass die einfachen Menschen es „denen da oben“ jetzt mal gezeigt haben. Dass sie sich zurückerobern, was nach Recht und Billigkeit das Ihre ist: die Volkssouveränität. Mit Verlaub: dieser Jubel ist grotesk. Er erinnert an die Argumentationsweise übereifriger Politikamateure, die das Wort „undemokratisch“ als Synonym für „dies ist nicht meine Meinung, ich halte sie für böse“ verwenden.

Volk ist eine Fiktion

Das Volk hat vor einer Woche im Vereinigten Königreich überhaupt nichts entschieden. Eine solide, wenn auch nicht überwältigende Mehrheit von 1,27 Millionen Briten, die zur Wahl gegangen sind, haben sich für die Option „Leave“ ausgesprochen. Insgesamt haben 46,5 Millionen Briten abgestimmt. Das Votum ist klar und es ist auf demokratischem Wege zustande gekommen. Es ist aber keineswegs eine Entscheidung des britischen Volkes.

Was soll das überhaupt sein, dieses britische Volk? Obwohl Großbritannien mit etwa 64 Millionen Einwohnern ein Stück kleiner ist als Deutschland, ist es vielleicht noch heterogener als unser Land. Es gibt signifikante Einkommensunterschiede: das BIP in London ist doppelt so hoch wie in der Gegend um Newcastle oder in Wales. Es gibt ausgeprägte Eliten-Schichten und -Traditionen und auf der anderen Seite eine verhältnismäßig große Gruppe an Bürgern, die in prekären Verhältnissen Leben, die sich zum Teil schon über Generationen hinziehen. (Der Gini-Koeffizient des Landes liegt bei 36 – zum Vergleich: in Deutschland, Österreich und der Schweiz liegt er zwischen 26 und 28,3 Punkten.)

Die Fliehkräfte innerhalb des Landes sind erheblich: das hat das schottische Unabhängigkeits-Referendum ebenso gezeigt wie die letzte Parlamentswahl und die jüngste Brexit-Abstimmung. Traditionell gibt es stark ausgeprägte Subkulturen – von den Katholiken in Nordirland über Inder, Pakistaner und Bangladeschis bis hin zu den Einwanderern aus der Karibik. Neben James Bond, Afternoon Tea und der Königin gibt es wenig Verbindendes. Das englische Volk ist eine Fiktion (ebenso wie das europäische Volk, von dem manche der wüsten EU-Romantiker träumen – da treffen sich beide Seiten …).

Wer „dem Volk“ Eigenschaft, Wille und Tätigkeit zuschreibt, der marginalisiert das Individuum

Überhaupt sind solche Kollektivbegriffe tunlichst zu vermeiden für jeden, dem der Wert des Individuums am Herzen liegt. Ist es schon logisch nicht möglich, dass ein Kollektivkörper von zig Millionen Menschen eine Entscheidung treffen kann, so ist eine solche Sprache auch das Einfallstor für die Feinde der Freiheit von rechts und links. Wie oft hört man in den Reden von Pablo Iglesias, Marine Le Pen, Victor Orban oder Sarah Wagenknecht, dass sie die Stimme des Volkes seien? Mit Schlagworten wie „schweigende Mehrheit“ oder „die einfachen Leute“ schwingen sich Feinde der Freiheit auf zu Volkstribunen und maßen sich an, für eine völlig unüberschaubare Gruppe zu sprechen. Wer den Begriff „Volk“ abseits des abstrakten juristischen Sprachgebrauchs nutzt; wer „dem Volk“ Eigenschaft, Wille und Tätigkeit zuschreibt, der marginalisiert das Individuum.

Demokratie ist kein Wert in sich. Demokratie ist ein Verfahren zur Ermittlung zustimmungsfähiger Entscheidungen und zum unblutigen Herrschaftswechsel. Mehr nicht. Dieses Verfahren ist wertvoll, weil es Mitsprache ermöglicht und Konflikte eindämmt. Aber es ist kein absoluter Wert, sondern lediglich Bedingung der Möglichkeit von Freiheit und Selbstbestimmung. Dass Demokratie nicht notwendigerweise diese Ergebnisse zeitigt, demonstrierten und demonstrieren Politiker wie Hugo Chavez, Vladimir Putin oder Recep Erdogan sehr eindrücklich, die alle auf demokratischen Wegen ins Amt gekommen sind. Alexis de Tocqueville warnte schon vor über 150 Jahren, die Demokratie könne zu einer „Tyrannei der Mehrheit“ ausarten. Seine Mahnung hat sich seitdem immer wieder eindrucksvoll bestätigt.

Demokratie ist niemals für sich genommen gut. Demokratie bedarf einer Bestimmung, um gute Wirkungen zu zeitigen. Es gehört zu den großen Leistungen der Autoren des Grundgesetzes, dass Sie das Wort demokratisch in der Regel mit dem Wort freiheitlich kombiniert haben und zugleich die Bedeutung des Rechtsstaates betont haben. Demokratie ist nur solange gut, wie sie das Individuum schützt.

Weltweit berufen sich Freiheitsverächter auf das Votum einer Mehrheit

Zurück zum Brexit: Natürlich steht außer Frage, dass das Referendum in einem Land durchgeführt wurde, das keine ernsthaften Zweifel zulässt an seiner freiheitlichen Tradition und Prägung, ja eine der wichtigsten Brutstätten freiheitlichen Gedankenguts überhaupt ist. Die unterlegenen Bürger tun gut daran, sich an die Spielregeln des demokratischen Geschäfts zu halten – auch an die inoffiziellen, sprich: Die Verteufelung der anderen Wähler zu vermeiden („xenophobe alte Männer, die uns unsere Zukunft versauen“).

Auf der anderen Seite sollten jene, die sich in der Tradition der – gerade englischen und schottischen – Aufklärung sehen, keine unkritische Verherrlichung der Demokratie betreiben. Das ist gerade heute gefährlich in einer Zeit, in der autoritäre und freiheitsfeindliche Politiker weltweit Oberwasser haben. Von den Philippinen bis Polen, in Ungarn, Russland, Venezuela und der Türkei können sich Freiheitsverächter auf das Votum einer Mehrheit berufen. Sie berufen sich auf den Auftrag des Volkes bei ihrem Unterfangen, die Errungenschaften der Bürgergesellschaft zurückzudrängen.

Es ist an der Zeit, Demokratie neu zu denken

Der Demokratie gebührt Respekt. Die Freiheit verdient Leidenschaft. Nicht umgekehrt. Denn es waren oft nicht demokratische Entscheidungen, die zu einem Mehr an Freiheit geführt haben. Es war in den meisten Fällen der entschlossene und mutige Einsatz von einzelnen Personen, die diese Welt verbessert haben – oft gegen den Widerstand breiter Mehrheiten. Die Sklavenbefreier, die Sufragetten und die Homosexuellenaktivisten sahen sich solchen Mehrheiten gegenüber. Die Vordenker unserer heutigen Freiheit waren oft genug einsame Menschen auf verlorenem Posten: von Richard Cobden über Ludwig von Mises bis zu Kurt Tucholsky. Niemals hätten sie zu ihrer Zeit Mehrheiten für ihre Überzeugungen gewinnen können. Wir aber ernten heute, was sie gesät haben.

Es ist an der Zeit, Demokratie neu zu denken. Gerade angesichts der demokratisch zustande gekommenen und kommenden Bedrohungen der Freiheit. Ein guter Denkanstoß mag in dem stecken, wie der englische Historiker Lord Acton die athenische Demokratie beschrieb: „Indem Solon jeden Bürger zum Wächter seiner eigenen Interessen machte, führte er das demokratische Element in den Staat ein.“ Demokratie bedeutet dann nicht mehr nur das reine Prozedere von Mehrheitsentscheidungen. Demokratie kann in diesem neuen Verständnis bedeuten, dass die Bereiche, in denen Menschen per Mehrheit über andere entscheiden, so weit wie möglich reduziert werden, damit jeder der Wächter seiner eigenen Interessen sein kann.

Und das sagen andere zum Thema:

Die abstrakte Anerkennung des Prinzips der Volkssouveränität vermehrt in nichts das Maß der Freiheit des Einzelnen, und wenn man dieser Souveränität einen Spielraum zuerkennt, den sie nicht haben sollte, kann die Freiheit diesem Prinzip zum Trotz oder sogar durch seine Einwirkung zugrunde gehen.
(Benjamin Constant, Grundprinzipien der Politik)

Das wahre demokratische Prinzip, dass keiner über das Volk Macht haben soll, wird so ausgelegt, dass keiner imstande sein soll, dessen Macht zu beschränken oder zu entkommen. Das wahre demokratische Prinzip, dass das Volk nicht gezwungen werden soll, zu tun, was es nicht will, wird so ausgelegt, dass es niemals gezwungen werden sollte, zu tolerieren, was ihm nicht gefällt. Das wahre demokratische Prinzip, dass der freie Wille eines jeden Menschen so unbehindert wie möglich sein soll, wird so ausgelegt, dass der freie Wille des gesamten Volkes durch nichts aufgehalten werden soll.
(Lord Acton, Sir Erskine May’s Democracy in Europe)

… er [Lord Acton] ist gegen die verhängnisvollste und gefährlichste von allen Fehlvorstellungen von Demokratie – gegen den Glauben, dass wir die Ansichten der Majorität als die richtigen und für die zukünftige Entwicklung bindenden annehmen müssen.
(Hayek, Wahrer und falscher Individualismus)

Der dogmatische Demokrat erachtet es als wünschenswert, dass möglichst viele Fragen durch Mehrheitsbeschluss entschieden werden, während der Liberale meint, dass es für den Bereich der Fragen, die so entschieden werden sollen, bestimmte Grenzen gibt. … Der Zentralbegriff des doktrinären Demokraten ist der der Volkssouveränität. Das heißt für ihn, dass die Herrschaft der Mehrheit unbeschränkt und unbeschränkbar ist. Das Ideal der Demokratie, die ursprünglich alle willkürliche Gewalt verhindern sollte, wird damit zur Rechtfertigung für eine neue willkürliche Gewalt.
(Hayek, Verfassung der Freiheit)

Die Idee der Allgewalt der Mehrheit ist … eine notwendige Folge der irrigen Ansicht, dass ein bestimmtes Verfahren zur Feststellung der Meinung der Mehrheit auf alle möglichen Fragen eine Antwort geben müsse, die wirklich die Meinung der Mehrheit widergibt. Dieser Irrtum hat zu dem merkwürdigen Glauben geführt, dass das bestehende demokratische Verfahren stets das gemeinsame Beste erzeuge, einfach, weil das gemeinsame Beste als das Ergebnis dieses bestimmten Entscheidungsverfahrens definiert ist.
(Hayek, Die Anschauungen der Mehrheit und die zeitgenössische Demokratie)

Wenn man darauf beharrt, dass Demokratie unbeschränkte Regierung bedeutet, dann glaube ich nicht an die Demokratie.
(Hayek, Die Sprachverwirrung im politischen Denken)

Wer das Prinzip der Demokratie in diesem Sinne akzeptiert, ist also nicht gezwungen, das Resultat einer demokratischen Abstimmung als einen autoritativen Ausdruck dessen anzusehen, was Recht ist. Er wird die Entscheidung der Majorität akzeptieren, um den demokratischen Institutionen die Arbeit zu ermöglichen. Es steht ihm aber frei, diese Entscheidung mit demokratischen Mitteln zu bekämpfen und auf ihre Revision hinzuarbeiten.
(Popper, Die Offene Gesellschaft und ihre Feinde)

Erstmals erschienen bei Peace Love Liberty.

6 Kommentare
  1. Daniel
    Daniel sagte:

    Aus dem obigen Text:

    „Das Volk hat vor einer Woche im Vereinigten Königreich überhaupt nichts entschieden. Eine solide, wenn auch nicht überwältigende Mehrheit von 1,27 Millionen Briten, die zur Wahl gegangen sind, haben sich für die Option „Leave“ ausgesprochen. Insgesamt haben 46,5 Millionen Briten abgestimmt.“

    Zitat aus der ‚Zeit‘ Online-Ausgabe vom 24.06. (http://www.zeit.de/politik/ausland/2016-06/brexit-ergebnis-briten-stimmen-fuer-ausstieg-aus-der-eu):

    „Laut offizieller Angaben aus der Auszählung kamen die Befürworter des Brexit auf 51,9 Prozent, lediglich 48,1 Prozent stimmten für den Verbleib. Insgesamt votierten 17.410.742 Wähler für Austreten, 16.141.241 für Drinbleiben, meldete der Sender unter Berufung auf das vorläufige Endergebnis.“

    Im obigen Text scheinen einige Zahlenangaben nicht zu stimmen. Zunächst hätten die erwähnten 1.27 Millionen definitiv keine Mehrheit bei 46.5 Millionen Wählern insgesamt gehabt, noch scheint 46.5 Millionen die korrekte Zahl an Wählern (total) zu sein. Ich würde darum bitten, die in dem Artikel auftauchenden Zahlen noch einmal zu prüfen.

    Ansonsten vollste Zustimmung und ein großes Lob an Herrn Schneider für seinen wie immer sehr treffenden Beitrag.

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  2. gogo49
    gogo49 sagte:

    Guter Artikel. Auch Galileo Galilei’s Behauptung, die Erde sei doch keine Scheibe, wurde mehrheitlich abgelehnt, Mehrheit ist in der Tat kein Wert an sich. Auch Dummheit kann als Mehrheit kommen.

    Noch was: würde in England nochmal abgestimmt, käme höchstwahrscheinlich was anderes heraus. Man kann „Wählerwillen“ mit einer einzigen Abstimmung gar nicht bestimmen, weil taktisch und protestlerisch gewählt wird. Sieht der Wähler, was er angerichtet hat, wählt er vielleicht anders. Man müsste sie also mehrmals hintereinander machen, iterativ, bis das Ergebnis genügend stabil ist. Mit online wäre es doch möglich.

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    • Die Wahrheit
      Die Wahrheit sagte:

      Ich halte die Entscheidung des Brexit richtig, und zwar nicht aus Dummheit sondern weil es so nicht weitergehen kann und eine Neuausrichtung notwendig ist und die Nähe zu den Menschen gesucht werden muss.
      Glauben dass der europ. Rat oder Komission alles richtig entscheidet weil klug und nicht auch von Egoismen, Überheblichkeit(am Hebel der Macht zu sitzen) oder Angst getrieben wird, ist Irrglaube.

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  3. Peter Triller
    Peter Triller sagte:

    Vieles kann ich unterschreiben, nicht jedoch die Äußerungen zur Volkssouveränität. „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“ so steht es in unserer Verfassung und in vielen anderen freiheitlichen Verfassungen anderer Nationen und das hat seinen Grund.

    Die Volkssouveränität ist die Basis von Freiheit und freiheitlicher Demokratie, was sonst? Richtig ist, dass eine Überhöhung der Nation oder des Volkes zu Kollektivismus und Tyrannei führt, aber auch die Überhöhing des Individualismus ist nicht ohne Gefahren, wie jede Übertreibung.

    Zur Zeit sehe ich eher die Gefahr, dass eine Marginalisierung des Begriffs „Volk“ erfolgt ( wer Volk heute ausspricht, wird gleich in die rechte völkische Ecke geschoben) , in dem die westlichen Länder in multikulturelle, multinationale und multireligiöse Gesellschaften transformiert werden und dadurch die innere Wertegemeinschaft und gemeinsamen kulturellen und sozialen Bezugspunkte der jeweiligen Staatsvölker minimalisiert werden, die aber Voraussetzungen für eine funktionierende, freiheitliche Gesellschaft sind. Nur wenn ich weiß, dass die jeweilige Mehrheit nicht gänzlich andere Interessen vertritt als ich und ich darauf vertrauen kann, als Minderheit auch mal wieder zur Mehrheit zu werden, akzeptiere ich demokratische Entscheidungen.

    In stark heterogenen und atomisierten Gesellschaften ohne inneren Zusammenhalt bildet sich dieses Vertrauen schwerer. Vielvölkerstaaten sind daher häufig nur autokratisch und autoritär zu regieren. diese Tendenz ist z.B. in der Brüsseler Bürokratie deutlich zu verspüren. Daher auch die Polemik gegen direkt-demokratische Entscheidungen in einzelnen Mitgliedsländern oder Äußerungen des noch Bundespräsidenten, dass die Bevölkerungen und nicht die Eliten das Problem seien.

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    • Die Wahrheit
      Die Wahrheit sagte:

      Vielleicht ist statt „Volk“ der Begriff die „Bevölkerung“ oder „Menschheit“ besser, es polarisiert nicht.
      Das Problem ist, dass wer zuviel Macht hat und will – es schwerlich wieder hergibt. Siehe aktuell Erdogan.

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  4. Die Wahrheit
    Die Wahrheit sagte:

    Personen sind korrumpierbar/erpressbar.
    Das Volk ist verführbar.

    Wie kann dem begnet werden? Wahrscheinlich z.B. durch Bildung, den Entzug von Waffen und hoher Vermögen, wobei mir bewusst ist auch das ist nicht komplett und sicher nicht perfekt.

    Wie bekommt man Menschen dazu am gleichen Strang zu ziehen, statt gegeneinander zu arbeiten?
    Wie kann man der Habgier, die ungesund ist, entgegentreten?
    Volksentscheide in allen Bereichen derart, dass Menschenrechte eingehalten werden.
    Wenn ein Mensch verhungern, Selbstmord begehen oder um zu überleben töten muss sind Menschenrechte nicht eingehalten.

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