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Von Dr. Titus Gebel, Unternehmer, Mitgründer der Deutschen Rohstoff AG, Gründer der Initiative “Free Private Cities“.

Vor vielen hundert Jahren waren die Menschen in Deutschland eingeengt durch Landesherren, Lokalfürsten und Bischöfe, die hohe Steuern forderten und das tägliche Leben bis ins kleinste regulierten. Der Kaiser war fern und hatte wenig Macht. Wer Freiheit, Selbstbestimmung und wirtschaftliche Verbesserung suchte, für den gab es nur einen Weg. Er musste in eine Freie Reichsstadt gelangen. Denn der Spruch „Stadtluft macht frei“ galt zu jener Zeit wörtlich. Der Leibeigenschaft konnte entgehen, wer entflohen und nach einer Frist von einem Jahr und einem Tag nicht wieder gefasst wurde. Am besten verließ man die Stadt während dieses Zeitraums nicht; „nach Jahr und Tag“ galt man als freier Mann.

Wieso konnten Freie Reichsstädte überhaupt existieren? Wieso ließen die Fürsten das zu? Tatsächlich waren „Freie und Reichsstädte“ das Ergebnis eines langen Kampfes ihrer Bewohner um mehr Selbstbestimmung. Dieses Abtrotzen von Rechten vom jeweiligen Stadtherrn, von vielen Rückschlägen gezeichnet, mündete schließlich in eine Art Stadtverfassung bis hin zur weitgehenden Unabhängigkeit (Freie Städte) bzw. Direktunterstellung unter kaiserliche Hoheit (Reichsstädte).

In der Stadt Köln etwa fand erstmals 1074 ein größerer Aufstand gegen den herrschenden Erzbischof statt, aufgrund von dessen Ungerechtigkeiten gegenüber Kölner Kaufleuten. Dieser wurde brutal niedergeschlagen. Aber der Drang zu mehr Eigenständigkeit war nicht aufzuhalten. 1103 ist ein eigenes Gericht erwähnt, das Schöffenkolleg, das vom erzbischöflichen Stadtherrn unabhängig war. Ab 1130 bezeichneten sich die Schöffen nach römischem Vorbild als Senatoren. 1216 konnte erstmals ein Stadtrat gegen den Widerstand des Erzbischofs eingerichtet werden. Schließlich verbündeten sich die Kölner 1288 mit einem der umliegenden Territorialfürsten gegen ihren Erzbischof, und besiegten diesen in der Schlacht von Worringen. Seitdem verwalteten sich die Kölner selbst.

Ähnliche Entwicklungen fanden anderswo statt. Die Freien Reichsstädte blühten auf und zogen scharenweise neue Siedler an. Und dann geschah etwas Überraschendes. Die bisherigen Stadtherren versuchten auf einmal nicht mehr, die städtische Unabhängigkeit zu verhindern, sondern versprachen im Gegenteil Ansässigen und Neusiedlern verbriefte Stadtrechte auf ihrem Territorium. Sie wussten um die wirtschaftliche Prosperität freier Städte und rechneten sich dadurch einen eigenen Vorteil aus. Die Städte wiederum bildeten im Laufe der Zeit mächtige Bündnisse wie den Süddeutschen Städtebund oder die Hanse, welche in ganz Nordeuropa Mitgliedstädte hatte und auch Großmächten trotzen konnte.

Vor diesem Hintergrund soll ein Vorschlag gemacht werden, wie wir in Anknüpfung an historische Vorbilder und unter Zuhilfenahme moderner Entwicklungen unser Zusammenleben in Zukunft gestalten könnten. Die Rede ist von Freien Privatstädten.

Analysieren wir zunächst den „Markt des Zusammenlebens“: Staaten existieren, weil offenbar eine Nachfrage nach ihnen besteht. Eine staatliche Ordnung schafft einen Rahmen, innerhalb dessen der Mensch sozial interagieren und friedlich Leistungen und Güter tauschen kann. Das Bestehen von Sicherheit und festen Regeln macht es möglich, dass Menschen in grosser Zahl mit- und nebeneinander leben können. Ein derartiges Zusammenleben ist so attraktiv, dass dafür auch erhebliche Freiheitseinschränkungen akzeptiert werden. Vermutlich würden selbst die meisten Nordkoreaner das Verbleiben in ihrem Land dem freien, aber einsamen Robinson-Dasein vorziehen.

Wenn man nun die Leistungen des Staates bieten und gleichzeitig dessen Nachteile – immer mehr Besteuerung, Bevormundung und Gängelung bei gleichzeitig permanenter Änderung der Spielregeln – vermeiden könnte, hätte man ein besseres Produkt geschaffen. Mein persönliches Fazit nach über 30 Jahren politischer Aktivität lautet, dass echte Freiheit im Sinne von Freiwilligkeit und Selbstbestimmung auf demokratischem Wege nicht zu erreichen ist. Diese Werte werden schlicht nicht ausreichend nachgefragt.

Aber warum nicht ein entsprechendes Nischenprodukt anbieten? Hat es Erfolg, werden mehr Menschen Vergleichbares wollen. Und warum sollten „Staatsdienstleistungen“ nicht rein privatwirtschaftlich von Unternehmen angeboten werden können? All das, was wir vom Markt her kennen, ließe sich auf unser Zusammenleben übertragen: die enorme Vielfalt des Produktangebotes, das Recht etwas nicht zu kaufen, was uns nicht gefällt, schliesslich der Wettbewerb zwischen den verschiedenen Modellen, der dafür sorgt, dass diese immer billiger und immer besser werden. Der „Staatsdienstleister“ bietet auf einem abgegrenzten Territorium ein bestimmtes Modell an und nur derjenige, dem dies zusagt, siedelt sich dort an. Solche Konzepte müssen attraktiv sein, sonst kommt niemand bzw. wandert wieder ab in andere Systeme.

Freie Privatstädte sind aus bekannten Elementen zusammengesetzt, stellen für sich genommen jedoch eine neuartige Alternative zu bisherigen Regierungssystemen dar. Sie sind herkömmlichen Staaten in mehreren Bereichen überlegen und haben daher auch eine Aussicht auf Umsetzung. Sie sind wie folgt charakterisiert:

1. Freie Privatstädte sind souveräne oder zumindest teilautonome Gebiete, welche als gewinnorientierte Unternehmen geführt werden. Für einen Jahresbeitrag gewährleistet die Betreibergesellschaft als Staatsdienstleister Schutz von Leben, Freiheit und Eigentum in einem abgegrenzten Gebiet. Die Teilnahme ist freiwillig.

2. Alle Bewohner haben mit der Betreibergesellschaft einen schriftlichen „Bürgervertrag“ geschlossen, der die gegenseitigen Rechte und Pflichten abschließend regelt. Dieser umfasst die vom Betreiber zu erbringenden Leistungen und die dafür zu bezahlende Summe, daneben die in der Freien Privatstadt geltenden Regeln. Dieser Bürgervertrag kann nicht einseitig geändert werden. Im Übrigen können die Bürger tun, was sie möchten, solange sie anderen nicht schaden.

3. Im Falle von Konflikten über Einhaltung oder Auslegung des Bürgervertrages ist jeder Bürger berechtigt, unabhängige Schiedsgerichte anzurufen, die nicht der Organisation des Betreibers angehören.

Diese Konstruktion hat den Vorteil, das sie bereits erprobt und bewährt ist. Sie entspricht dem, was wir aus den privaten Geschäften des täglichen Lebens kennen. Sei es der Brötchenkauf beim Bäcker, der Abschluss einer Versicherung oder die Beauftragung eines Steuerberaters. Stets liegt ein gegenseitiger, einvernehmlich geschlossener Vertrag zu Grunde. Dieser regelt, welches Produkt oder welche Dienstleistung zu welchen Bedingungen und zu welchem Preis zu liefern ist. Das gilt selbst dann, wenn der Vertrag – wie beim Bäcker – nur durch schlüssiges Verhalten zustande gekommen ist. Der Käufer weiß, dass sein Vertragspartner ein wirtschaftliches Interesse hat; dieser muss ihm weder Gemeinwohl noch Menschheitsrettung als Motive vorgaukeln. Bei Streitigkeiten kann man sich an unabhängige Gerichte oder Schiedsstellen wenden. Kein Verkäufer würde damit durchkommen, dass er nachträglich einseitig den Vertragsinhalt ändert oder eine Streitschlichtung ausschließlich durch eigene Einrichtungen erlaubt.

Auch in einer Freien Privatstadt bezahlt der Bürger nur für das, was er bestellt hat. Er hat einen Rechtsanspruch darauf, dass der Vertrag eingehalten wird, sowie einen Schadensersatzanspruch bei Schlechterfüllung. Streitigkeiten zwischen Bürgern und dem Betreiber werden vor neutralen Schiedsgerichten verhandelt. Ignoriert der Betreiber die Schiedssprüche oder missbraucht er seine Macht auf andere Weise, wandern seine Kunden ab, und er geht in die Insolvenz. Als privater Staatsdienstleister trägt er ein eigenes wirtschaftliches Risiko. Er kann die Kunden auch nicht zwingen, sein Produkt abzunehmen, sondern muss allein durch die Attraktivität seines Angebots Nachfrager finden.

Um eine Freie Privatstadt umzusetzen, ist eine Autonomie im Sinne territorialer Souveränität notwendig. Dies bedeutet nicht zwingend vollständige Unabhängigkeit, aber erfordert zumindest das Recht, die eigenen Angelegenheiten selbständig regeln zu dürfen. Zur Etablierung einer Freien Privatstadt bedarf es daher einer vertraglichen Vereinbarung mit einem bestehenden Staat. In diesem Vertrag räumt der Mutterstaat der Betreibergesellschaft das Recht ein, auf einem abgegrenzten Territorium die Freie Privatstadt zu den vereinbarten Bedingungen zu errichten.

Bestehende Staaten können für ein solches Konzept gewonnen werden, wenn sie sich Vorteile davon versprechen. Insofern unterscheiden sie sich nicht von den Fürsten aus der Zeit der Freien Reichsstädte. Um die Stadtstaaten Hong Kong, Singapur oder Monaco hat sich ein Kordon von dicht besiedelten und wohlhabenden Gegenden gebildet. Dessen Einwohner versteuern in den Mutterstaat. Wenn nun in einem vormals strukturschwachen oder unbesiedelten Gebiet derartige Gebilde entstehen, dann ist dies auch für den Mutterstaat ein gutes Geschäft. Dies ist auch einer der Gründe, weshalb Hongkong nach 1997 nicht von China einverleibt wurde.

Spinnt man den Gedanken weiter, könnten Freie Privatstädte auch ein Ausweg für unterdrückte Minderheiten und Flüchtlinge in Krisenregionen werden.

Wem gehört nun eine Freie Privatstadt? Sie gehört zunächst einmal allen, die dort Eigentum haben. Und wem gehört die Betreibergesellschaft? Hier ist von der Einzelfirma über die Aktiengesellschaft bis hin zur Genossenschaft alles denkbar. Vorstellbar ist, dass jeder Bewohner mit Ansiedlung einen Anteil an der Betreibergesellschaft erwirbt. Er hätte damit teil am wirtschaftlichem Erfolg und auch Mitspracherecht auf den Gesellschafterversammlungen, die über die Besetzung der Verwaltung entscheiden. Ebenso vorstellbar ist, dass der Staatsdienstleister nur einer Privatperson oder ausschließlich den Bewohnern gehört. Und auch alle Arten von Zwischenformen sind denkbar.

Die Eigentumsverhältnisse an der Betreibergesellschaft und die Regelung der Mitsprache sind gar nicht der entscheidende Punkt. Entscheidend ist, dass der Betreiber oder auch ein von der Mehrheit gewähltes Gremium nicht immer mehr Befugnisse an sich ziehen und den Bewohnern in ihre Lebensgestaltung hineinreden kann. Daher sind der Vertrag mit jedem einzelnen und die entsprechende Rechtsposition so wichtig. Es geht um größtmögliche Selbstbestimmung, nicht um größtmögliche Mitbestimmung. Wenn jeder frei entscheiden kann, was er tun und wie er leben möchte, gibt es auch für Mitbestimmungsorgane wie Parlamente keinen wirklichen Bedarf. Diese laufen zudem immer Gefahr, von Interessengruppen oder der Regierung für ihre Zwecke gekapert zu werden.

Im Grunde stellt der Betreiber als Dienstleister nur den Rahmen, innerhalb dessen sich die Gesellschaft ergebnisoffen entwickeln kann. Die einzige Veränderungssperre zugunsten von Freiheit und Selbstbestimmung ist der Bürgervertrag. So können sich zwar die Bewohner auf eine Interessenvertretung einigen und etwa einen Gemeinderat etablieren. Aber auch wenn 99% der Bewohner dort mitmachen und sich freiwillig den Mehrheitsentscheidungen unterwerfen, hat dieses Gremium kein Recht, den übrigen 1%, die damit nichts zu tun haben wollen, seine Ideen aufzuzwingen. Das ist der Punkt, an dem bisherige Systeme regelmäßig gescheitert sind: die dauerhafte Gewährleistung der individuellen Freiheit.

Weder Demokratie, noch Verfassung, noch Gewaltenteilung, noch ausgeklügelte Checks and Balances haben sich als geeignet erwiesen, die Rechte des Einzelnen dauerhaft zu schützen. Stets reißen im Laufe der Zeit Gruppen oder Einzelpersonen die Macht an sich und missbrauchen diese nach eigenem Gutdünken.

Das liegt allerdings auch daran, dass alle bisherigen Ordnungen auf einem Über-/ Unterordnungssystem beruhen. Eine Seite ordnet an, die andere muss parieren. Eine Seite ändert ständig die Spielregeln, die andere kann nichts dagegen tun. Das betrifft leider auch die Regeln, die zum Schutz des Einzelnen gedacht sind. Die jeweiligen Machthaber tragen zudem kein eigenes wirtschaftliches Risiko für Fehlentscheidungen, sind rechtlich immun gegen Haftung und haben gegenüber den Regierten keine einklagbaren Verpflichtungen. Eine derartige Macht ohne Haftung korrumpiert am Ende jeden.

In der Freien Privatstadt hingegen ist jeder Souverän Seiner Selbst, der aufgrund freiwilliger Vereinbarung einen echten Vertrag mit einem mehr oder weniger gewöhnlichen Dienstleister abgeschlossen hat. Beide Parteien sind formal gleichberechtigt und somit rechtlich auf Augenhöhe. An die Stelle des Verhältnisses Obrigkeit-Untertan tritt das Verhältnis Kunde-Dienstleister. In herkömmlichen Systemen ist der Bürger zur Steuerzahlung verpflichtet, ohne ein korrespondierendes Leistungsrecht zu haben. In einer Freien Privatstadt stehen Leistung und Gegenleistung in einer direkten Beziehung. Beide Vertragspartner haben einen Anspruch auf Vertragserfüllung, d.h. der Betreiber kann vom Bürger die Zahlung des festgesetzten Beitrags verlangen, aber eben keine zusätzlichen Beträge. Der Bürger wiederum kann vom Betreiber einklagen, dass dieser seinen vertraglichen Verpflichtungen nachkommt, indem er etwa Sicherheit und ein funktionierendes Zivilrechtssystem gewährleistet. Wer der Betreibergesellschaft gerade vorsteht und wem diese gehört, ist für das Funktionieren des Modells ohne Belang.

Im Ergebnis weisen Freie Privatstädte gegenüber den Staaten wie wir sie kennen, erhebliche Wettbewerbsvorteile auf:

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Photo: Sven Gaedtke from Flickr (CC BY-SA 2.0)

Das Reformationsjubiläum stellt in diesem Jahr den 200. Jahrestag des Wartburgfestes in den Schatten, das einen spannenden Einblick gewährt in die Licht- und Schattenseiten des Liberalismus in Deutschland. Gerade in einer sich radikalisierenden Zeit wie der unseren ist der Blick auf diese Geschichte wichtig.

Zensur bekämpfen und Bücher verbrennen?

Hunderte von Studenten und auch etliche Professoren zogen am 18. Oktober 1817 auf die Wartburg, um ein deutliches politisches Signal auszusenden in einer Zeit, als viele politische Kräfte in Europa die alte Ordnung wiederherstellen wollten. Viele der „35 Grundsätze und 12 Beschlüsse“, die im Nachgang festgehalten wurden, gehören zum Kernbestand freiheitlichen Denkens auf der ganzen Welt. Nach dem 1792 erschienenen Meisterwerk „Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen“ des ersten deutschen Liberalen Wilhelm von Humboldt sind diese Grundsätze und Beschlüsse das zweite umfassende Dokument des deutschen Liberalismus. Zu den Forderungen gehörten individuelle Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Bürgerrechte, Freihandel, Meinungsfreiheit und die Abschaffung von Geheimpolizei und Zensur.

Freilich hatte das Fest auch sehr bittere Schattenseiten. Im Anschluss an den offiziellen Teil griffen einige der Teilnehmer zu einer besonders drastischen Variante der ihnen doch eigentlich verhassten Zensur: sie verbrannten Bücher. Im Feuer landeten Werke ihrer erklärten Feinde – der „Reaktionäre“ und „Kleinstaater“. Doch nicht nur die politischen Gegner standen im Fokus. Einem der Bücher, die den Flammen übergeben wurden, wurde hinterhergerufen: „Wehe über die Juden, so da festhalten an ihrem Judenthum und wollen über unser Volksthum und Deutschthum spotten und schmähen!“ Kein Wunder, dass der Dichter Heinrich Heine in gewohnt bissiger Weise über das Wartburgfest urteilte:

Auf der Wartburg krächzte die Vergangenheit ihren obskuren Rabengesang, und bei Fackellicht wurden Dummheiten gesagt und getan, die des blödsinnigsten Mittelalters würdig waren! Auf der Wartburg herrschte jener beschränkte Teutomanismus, der viel von Liebe und Glaube greinte, dessen Liebe aber nichts anders war als Haß des Fremden, und dessen Glaube nur in der Unvernunft bestand, und der in seiner Unwissenheit nichts Besseres zu erfinden wußte, als Bücher zu verbrennen!

Die Falle des deutschen Einheitsstrebens

Seit den frühesten Tagen hatten liberale Bewegungen in Deutschland immer damit zu kämpfen, dass sich in ihrem Umfeld Leute befanden, die zumindest einige ihrer Grundüberzeugungen nicht teilten. Dazu trugen mancherlei unglückliche Umstände bei: Etwa, dass das Prinzip des Föderalismus und der Subsidiarität, das über unsere Geschichte einer der wichtigsten Beiträge zu einer liberalen Institutionen-Kultur wurde, im Donner der National-Begeisterung des 19. Jahrhunderts als „Kleinstaaterei“ zum Feind Nummer Eins wurde. Die autokratische Herrschaft vieler Fürsten trieb freiheitliche Geister in die Arme eines völlig illiberalen Ideals des allumfassenden Gesamtstaates. Was sie bekamen, war am Ende der preußisch dominierte Militär- und Wohlfahrtsstaat.

Wie ein roter Faden zog sich diese Ambivalenz des deutschen Liberalismus bis zum Ende des Deutschen Kaiserreiches durch. Während in der ersten Hälfte des Jahrhunderts und insbesondere während der Revolution von 1848 ein eher romantisch-sentimentaler Patriotismus viele Liberale zu Freunden des deutschen Gesamtstaates werden ließ, änderte sich dies in der zweiten Hälfte: Einem weltweiten Trend folgend wandelten sich immer mehr Liberale zu veritablen Nationalisten. Die meisten verzichteten lieber auf Staatsskepsis als auf ihr Nationalgefühl.

Aufgerieben zwischen links und rechts

In einem Graubereich fand sich über die ganze Zeit ihrer Existenz (1866-1918) die Nationalliberale Partei, deren Vertreter sich für Rechtsstaat, Verfassung und Parlamentarismus einsetzten. Zugleich war sie aber auch eine starke Klientelpartei, die sich die Interessen des Großbürgertums und der Industrie zu eigen machte – eine unglückliche Allianz, die erst Ludwig Erhard zerbrochen hat. Sie bildete die wichtigste Machtbasis des ganz und gar nicht liberalen Bismarck und unterstützte leidenschaftlich seinen Kampf gegen Sozialisten und Katholiken, der jeglicher freiheitlichen Überzeugung Hohn sprach. Zunehmend fanden in ihr begeisterte Verfechter von Kolonialismus, Militarismus und sogar Antisemitismus eine Heimat. Ab Mitte der 1880er Jahre war sie, wie der Historiker Hans-Ulrich Wehler schrieb, eine „bismarcktreue, stramm nationale, etatistische und imperialismusfreundliche“ Partei.

Auf der anderen Seite wandte sich etwa der Historiker Theodor Mommsen, in vielem ein aufrechter Liberaler und einer der wichtigsten Kämpfer gegen den Antisemitismus, im Alter zunehmend der Sozialdemokratie zu. Auch andere Liberale wie Johann Jacoby oder der mit 69 Jahren im KZ Buchenwald ermordete Rudolf Breitscheid fanden letztlich bei den Sozialdemokraten eine Heimat. Es waren in der Zeit des Kaiserreichs nur wenige Liberale um Eugen Richter und Franz August von Stauffenberg, die weder nach links noch nach rechts ausschwenkten.

„Hier stehe ich, ich kann nicht anders.“

Was liegt der Versuchung zugrunde, die sich seit jenem Treffen auf der Wartburg durch den deutschen Liberalismus zieht, rechte oder linke Positionen zu übernehmen oder sich ihnen gar ganz anzuschließen? Es war ein Zusammenspiel aus drei Faktoren: An erster Stelle stehen mangelnde Selbstgewissheit und Durchhaltevermögen. Damit hängt die zweite Ursache zusammen, dass sich Liberale zu oft dem Zeitgeist angeschlossen haben – gleich, ob er nun links oder rechts wehte. Und schließlich kommt noch die banale Sehnsucht hinzu, mitspielen zu wollen, und der Wunsch, an die Töpfe und Räderwerke der Macht gelassen zu werden.

Das 300jährige Reformationsjubiläum führte damals die Studenten auf die Wartburg, wo Luther einst Unterschlupf gefunden hatte. Die Person Luthers kann aus freiheitlicher Sicht höchst kritisch gesehen werden, ist er doch einer der Begründer des modernen Etatismus. Doch eines kann auch nach 500 Jahren noch ein Vorbild sein: Sein Mut und seine Standfestigkeit als er 1521 beim Reichstag zu Worms vor dem Kaiser und den versammelten Herrschern des Reiches seine Positionen und Überzeugungen verteidigte. Man hat ihm später die Worte in den Mund gelegt „Hier stehe ich, ich kann nicht anders.“ Diese Geisteshaltung hätte vielen Liberalen in der Vergangenheit gutgetan und steht ihnen auch heute noch gut zu Gesichte. Mögen Mut, Überzeugungstreue und Konsistenz auch kurzfristig unangenehm und gefährlich sein – langfristig sind sie die Grundlage dafür, die Welt zu verändern.

Eine ausführlichere Darstellung der Geschichte des Liberalismus in Deutschland finden Sie im Nachwort des Buches „Wie wir wurden, was wir sind“ von Eamonn Butler, das im März in der „Edition Prometheus“ erscheint.

Photo: Bruce Guenter from Flickr (CC BY 2.0)

Freihandel hat im Augenblick keinen besonders guten Ruf. Weder bei Demonstranten in deutschen Großstädten noch bei Wählern in den alten Industrieregionen der USA. Höchste Zeit, mit einem kleinen Ausflug in die Geschichte daran zu erinnern, was der Freihandel bringt: Frieden und Wohlstand für alle.

Das Elend der Armen im Großbritannien des 19. Jahrhunderts

In diesen Tagen begegnet uns immer wieder die Weihnachtsgeschichte von Charles Dickens – vielfach verfilmt (besonders anrührend in der Version mit den Muppets). Die Geschichte erinnert uns daran, wie wichtig es ist, dass wir auch auf unseren Nächsten schauen. Sie legt den Finger in die Wunde der Indifferenz, des Egoismus und der Gier. Charles Dickens ist der Chronist der Armen und Notleidenden im Großbritannien des 19. Jahrhunderts schlechthin. Keiner konnte so anschaulich und einfühlsam die Nöte der Armen schildern wie er – ganz besonders der Kinder.

Doch wo lag die Verantwortung für dieses Elend? Waren es die kapitalistischen Ausbeuter, die Miethaie, erbarmungslosen Geldverleiher und all die anderen Schurken, deren Gier und Boshaftigkeit Dickens so eindrücklich geschildert hat? Ja. Aber nicht nur. Natürlich gab und gibt es unter den Besitzenden und Reichen viele rücksichtslose Menschen. Aber ebenso gibt es unter ihnen verantwortungsvolle, fürsorgliche und hilfsbereite Menschen, die ihren Nächsten im Blick behalten. Eine Menschengruppe pauschal zur Verantwortung zu ziehen, ist immer eine sehr schlechte Idee.

Der ungeschriebene Roman von Charles Dickens

Es gibt eine Geschichte, die Charles Dickens hätte schreiben können. Schade, dass er das nie getan hat, denn er hätte seine Sprachgewalt und sein Talent damit durchaus in den Dienst einer sehr guten Sache stellen könne. Es wäre eine Erzählung gewesen, in der, wie in so vielen seiner Geschichten, ein Unternehmer eine große Rolle spielt. In der es um Arme und Notleidende geht und um die Gier der Reichen und ihre Besitzstandswahrung. In der es um ein paar sehr sympathische Helden geht und um die sonderbaren Verstrickungen, die zu ihrem Erfolg führen. Es ist die Geschichte der Freihandelsbewegung.

Die Globalisierung war schon seit Beginn der Neuzeit für manch einen bedrohlich. Mit dem rasant wachsenden Handel in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wuchs diese Bedrohung. Eine Gruppe, die das Gefühl hatten, dass ihnen die Felle wegschwimmen, waren die englischen Großgrundbesitzer. Diese kleine und enorm wohlhabende Gruppe von überwiegend Adligen hatte mit sinkenden Getreidepreisen zu kämpfen, weil dank des technischen Fortschritts nunmehr günstigeres Getreide aus Deutschland oder den Ländern Osteuropas importiert werden konnte. Sie nutzten ihren leichten Zugang zur Macht, um sich für höhere Zölle auf Getreide-Importe (die sogenannten Corn Laws) stark zu machen – mit Erfolg. Selbst in Zeiten schwerer Hungersnöte waren die Menschen im Land gezwungen, das überteuerte einheimische Getreide zu kaufen.

Zwei reale Helden

Auftritt unseres Helden: Richard Cobden wird 1804 als viertes von elf Kindern eines armen Bauern im äußersten Süden Englands geboren. Mit 15 Jahren geht er nach London, um im Warenhaus seines Onkels zu arbeiten. Der sieht den Bildungshunger seines Neffen mit einer Mischung aus Unverständnis und Missfallen. – Dickens hätte sich die Szenerie nicht besser ausdenken können. – Der junge Richard arbeitet sich nach oben: mit 24 gründet er seine erste eigene Firma. Doch auch wenn die Geschäfte gut laufen, kann unser Held die Finger nicht von den großen Fragen seiner Zeit lassen. Er ist einfach ein klassischer Weltverbesserer, ein Gutmensch.

1835 veröffentlicht er sein erstes Buch: „England, Ireland, and America“. Es ist ein flammendes Plädoyer für die Begrenzung öffentlicher Ausgaben, Freihandel und Pazifismus. Darüber hinaus macht er sich stark für ein besseres Bildungswesen – schließlich hatte er selbst die Erfahrung gemacht, wie wichtig Bildung ist. Nun braucht aber auch jeder Held einen Freund, der ihm zur Seite steht: Sherlock Holmes seinen Watson, Winnetou seinen Old Shatterhand und Frodo seinen Sam. Dieser Freund ist der sieben Jahre jüngere John Bright, den Cobden in dieser Zeit in der Nähe von Manchester trifft. Die beiden teilen dieselben Ideale, für die sie ihr Leben lang eintreten sollten – in guten wie in bösen Tagen: Freiheit, Frieden und Wohlstand für alle.

Eine Graswurzelbewegung für den Freihandel

In der Schutzpolitik für Großgrundbesitzer sehen sie eine Maßnahme, die diesen Idealen diametral entgegenstand. Darum gründen sie im Jahr 1838 die Anti-Corn Law League – eine der frühesten Graswurzelbewegungen der Geschichte. Während Cobden der strategische Kopf der Bewegung ist, wird der sehr begnadete Redner Bright das Aushängeschild. Sie haben gelernt von den Männern und Frauen um William Wilberforce, die einige Jahrzehnte zuvor erfolgreich die Sklavenbefreiung durchgesetzt hatten. Sie verteilen über neun Millionen Pamphlete, um ihr Anliegen zu erklären, führen im ganzen Land Versammlungen und Demonstrationen durch und können Millionen von Unterschriften für ihre Petitionen sammeln. Die Basis ihrer Bewegung sind die Arbeiter und Armen, von deren Nöten uns Charles Dickens so eindrucksvoll berichtet.

Nachdem die Anti-Corn Law League 1846 an ihr Ziel gekommen ist und die Zölle beseitigt wurden, folgen in den nächsten Jahrzehnten viele weitere Maßnahmen zugunsten des Freihandels, die zu einem erheblichen Wirtschaftsausschwung führen – und damit eben auch zu einer substantiellen Verbesserung der Lage einfacher Arbeiter. Cobden ist später der Chef-Unterhändler für den britisch-französischen Freihandelsvertrag im Jahr 1860. Dieser Vertrag ist der Startschuss für ein Freihandelssystem in Europa, das in seinen Grundzügen bis 1914 Bestand hat.

Unerschrockene Pazifisten

Doch mit dem Erfolg von 1846 ist die Geschichte unseres Helden noch nicht zu Ende. Es liegen noch heftigere Herausforderungen vor ihm. Dass ihn eine Zeit lang nicht nur große Teile der britischen Bevölkerung, sondern auch Menschen in ganz Europa begeistert feiern, ist nicht von langer Dauer. Cobden und sein Freund Bright haben nämlich ein Anliegen, das ihnen vielleicht noch wichtiger ist als der Freihandel: sie sind radikale Pazifisten und Anti-Imperialisten. Der Zeitgeist ist hier freilich nicht auf ihrer Seite.

Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts ist vielmehr geprägt von einem rasanten Aufstieg von Nationalismus und Militarismus. Kolonien und Eroberungen werden sowohl aus Prestigegründen begrüßt als auch, weil man glaubt, davon als Land wirtschaftlich zu profitieren. Überall wittert man Feinde und man sieht sich inmitten eines globalen Machtkampfes. Der Krimkrieg (1853-1856) und der Zweite Opiumkrieg (1856-1860) versetzen Großbritannien in Kriegsbegeisterung und beim Amerikanischen Bürgerkrieg finden sich die meisten auf Seiten der Südstaaten wieder.

Weltverbesserer, die tatsächlich die Welt verbessern

In diese Stimmung platzen unsere Helden mit ihren Forderungen nach Abrüstung, Diplomatie, konsequenter militärischer Zurückhaltung und einem Rückzug aus den Kolonien herein. Spielverderber. Nachdem sie wenige Jahre zuvor von der Bevölkerung begeistert gefeiert wurden, werden sie nun plötzlich Gegenstand des öffentlichen Hasses. Cobden, Bright und ihre Freunde sind allesamt eigentlich keine Politiker. Sie sind eher überzeugte Aktivisten. Für sie stehen ihre Ideale im Vordergrund. Und deshalb halten sie stand und dienen als Mahnung in einer verrückten Zeit, die im 20. Jahrhundert auf einen schrecklichen Höhepunkt zulaufen wird.

Mit ihrem Pazifismus sind sie leider weniger erfolgreich als mit ihrem Kampf um den Freihandel. Mit diesem freilich haben sie einen wesentlichen Anteil daran, dass Millionen von Menschen – zunächst in Großbritannien, aber dann auch in ganz Europa – den Weg aus der Armut finden. Sie haben dafür gesorgt, dass nicht nur eine kleine Elite von den Segnungen des Fortschritts, der Technik und der Globalisierung profitieren, sondern alle. Sie haben den Mächtigen und Reichen wesentliche Instrumente der Unterdrückung aus der Hand geschlagen. Und sie haben den Armen einen Weg eröffnet zu einem besseren Leben. Ihr Einsatz für Freihandel und Frieden ist immer auch ein Einsatz für andere. Sie sind Weltverbesserer, die tatsächlich die Welt verbessern. Wenn das mal nicht eine großartige Erzählung geworden wäre, wenn sich Dickens nur daran gemacht hätte …

„Ich habe einen Traum“

Gerade in Zeiten wie den unseren, wo eine unheilige Allianz aus Politikern auf der Rechten wie Donald Trump und fanatischen Aktivisten auf der Linken wie Campact und Attac zum Generalangriff auf Freihandel und Globalisierung ruft, sollte man sich wieder die wunderbaren Worte in Erinnerung rufen, die Richard Cobden im Jahr 1846 fand, und mit denen er ein Vorläufer jener berühmten „Ich habe einen Traum“-Rede Martin Luther Kings wurde:

Ich richte meinen Blick weiter. Ich sehe, dass das Freihandelsprinzip die moralische Welt bestimmen wird wie das Gravitationsprinzip unser Universum: indem es Menschen einander nahebringt; indem es den Gegensatz der Rassen, Bekenntnisse und Sprachen beseitigt; indem es uns in ewigem Frieden aneinander bindet. Und ich habe noch weiter geschaut. Ich habe spekuliert, ja wohl geträumt, von einer fernen Zukunft, vielleicht in tausend Jahren.

Ich habe darüber spekuliert, was das Ergebnis davon sein mag, dass dieses Prinzip obsiegt. Ich glaube, dass es das Antlitz der Erde verändern wird, indem es ein Prinzip des Regierens hervorbringen wird, das sich vollständig vom derzeitigen unterscheidet. Ich glaube, dass das Streben nach großen und mächtigen Reichen absterben wird; das Streben nach gigantischen Heeren und bedeutenden Flotten; nach den Mitteln, die benutzt werden, um das Leben zu zerstören, und um die Früchte der Arbeit zu verwüsten. Ich glaube, dass all das nicht mehr nötig sein wird und auch nicht mehr angewandt wird, wenn die Menschheit erst eine Familie geworden ist und Mensch mit Mensch aus freien Stücken die Früchte seiner Arbeit brüderlich austauscht.

Erstmals erschienen auf dem Ökonomen Blog.

Photo: dierk schaefer (CC BY 2.0)

Die DDR-Vergangenheit wird verharmlost, vertuscht, verklärt. Es hat Folgen für die heutige Politik, wenn ein „Schutzwall“ nicht als mörderisches Instrument gesehen wird und eine exzessive Planwirtschaft nicht als Weg zur Verelendung großer Bevölkerungsteile.

Mauer, Stasi und Mangelwirtschaft als Pflichtübungen

Wenn Sie dieser Tage in Berlin unterwegs sind, kann es passieren, dass Sie in eine S-Bahn steigen, auf der für das DDR-Museum geworben wird. Hierbei handelt es sich nicht etwa um einen Erweiterungsbau der Gedenkstätte im Stasi-Gefängnis Hohenschönhausen, um die Schrecken der 40 Jahre langen Diktatur darzustellen. Eher im Gegenteil: Das DDR-Museum liegt in bester Lage an der Spree gegenüber dem Berliner Dom. Der Besucher kann sich in alte Trabis setzen, sich über die FKK-Kultur und die Blech-Münzen amüsieren, etwas Kalter-Krieg-Grusel empfinden und in einem authentischen DDR-Wohnzimmer umherwandeln – inklusive Abhörstation.

Mauer, Stasi und Mangelwirtschaft kann man natürlich schwerlich auslassen. Aber man will den etwa 600.000 Menschen, die jährlich das Museum besuchen, ja nicht die Stimmung vermiesen. Und so ist die Darstellung dieser Aspekte der DDR eher eine Pflichtübung, die auch noch absolviert wird. Wer will schon den spanischen Schulklassen, britischen Fanclubs und japanischen Rentnerinnen, die sich gerade zwischen dem Döner am Hackeschen Markt und dem Bummel über die Friedrichstraße befinden, die Geschichten erzählen von Unterdrückung und Umweltverpestung, von Fremdenfeindlichkeit und Familienzerwürfnissen, von Misswirtschaft und Mauertoten?

Stalinisten als Namensgeber

Das Museum ist eines der prominentesten Beispiele für DDR-Nostalgie, aber bei weitem nicht das einzige. Mitten durch Berlin laufen gleich zwei große Straßen, die nach Karl Marx benannt sind, auf dem Gebiet der ehemaligen DDR gibt es noch unzählige von ihnen. Auch Rosa Luxemburg fungiert als Namensgeberin für Straßen, Plätze, Schulen und sogar eine Stiftung. Also die Frau, die feststellte „Wer sich dem Sturmwagen der sozialistischen Revolution entgegenstellt, wird mit zertrümmerten Gliedern am Boden liegenbleiben.“ Auch der ausgemachte Stalinist Ernst Thälmann geistert noch allenthalben mit Denkmälern und als Namensgeber durch die östlichen Teile unseres Landes. All diese kulturellen Reminiszenzen an ein diktatorisches Regime sind in etwa so absurd als würde man einen Erlebnispark Deutscher Kolonialismus aufmachen, wo man lustige Tropenhüte erwirbt, mit einer Bimmelbahn die Ostafrikanischen Zentralbahn nachspielt und alle zwei Stunden einem traditionellen Tanz der Papua zusehen kann.

Doch nicht nur die Symbole und Souvenirs sind erhalten geblieben. Auch in vielen Köpfen ist die DDR noch oder wieder ein Sehnsuchtsort. Nach der Wiedervereinigung war sie vor allem für die „Wendeverlierer“ das positive Gegenbild zur neuen Realität. Diese Menschen verhalfen der zur PDS gewandelten SED zum Überleben. Inzwischen gibt es eine neue Gruppe, für die die Vorstellung umfassender Fürsorge und echten Schutzes an Attraktivität gewinnt. Es sind die Menschen, die sich überrannt fühlen von der Globalisierung, denen gesellschaftliche Veränderungen zu schnell gehen und die das Gefühl haben, vernachlässigt zu werden.

Die Versuchung, Verantwortung abzugeben

Vernachlässigung war nun wahrhaft nicht das Problem des DDR-Regimes. Für jeden wurde ein Arbeitsplatz gefunden, für jeden die Konsummöglichkeiten bestimmt und viele hatten einen ganz persönlichen Ansprechpartner und Kümmerer im Ministerium für Staatssicherheit. Der marktwirtschaftlich organisierte und freiheitlich-demokratische Rechtsstaat bietet da wesentlich weniger Komfort und verlangt ein wesentlich höheres Maß an Selbstverantwortung. Natürlich gibt es auch in diesem System immer wieder Verlierer – zumindest im Kontrast zu den Gewinnern. Weil die DDR-Vergangenheit jedoch nie wirklich aufgearbeitet wurde und landauf, landab eher der kitschige als der kritische Blick dominiert, fällt es den Verlierern schwer zu erkennen, dass sie selbst als Verlierer im jetzigen System noch viel besser dran sind.

Ein Resultat der mangelhaften bis ungenügenden DDR-Vergangenheitsbewältigung ist der rege Zuspruch, den Kritiker und Gegner von Marktwirtschaft, freiheitlicher Demokratie und offener Gesellschaft derzeit erfahren. Bei den Wahlen in den ostdeutschen Bundesländern haben Parteien am linken und am rechten Rand in den letzten beiden Jahren zwischen 33 und 42 Prozent der Wähler hinter sich versammeln können. Diese Wähler sind nicht lauter Kommunisten und Rassisten. Es sind insbesondere auch Menschen, die sich – oft mit guten Gründen – schwertun, zu akzeptieren, dass unser gesellschaftliches und politisches System ihnen mehr Selbstverantwortung zumutet als sie zu übernehmen bereit oder vielleicht auch imstande sind.

Der Preis, den ein vermeintlich einfacheres, überschaubares und sichereres System á la DDR uns abverlangt, ist vielen zu wenig bewusst. Wer den Durchmarsch der Parteien der einfachen Antworten auf der Linken und Rechten stoppen will, muss auch bei einem besseren Geschichtsverständnis ansetzen. Darum ist es eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, noch viel deutlicher als bisher klarzumachen, dass zentrale Planungsbehörden und Einheitsprodukte, Mauern und politische Gefängnisse zu den ganz großen Tragödien unseres Landes, ja unseres Kontinents gehören. Das hatte schon vor bald zehn Jahren der bedeutende Historiker Hans-Ulrich Wehler vorausgesehen: „Eine intensive Beschäftigung mit der DDR-Vergangenheit ist dringend geboten. Die Konsequenzen dieses Staates sind doch nicht nur in Bitterfeld, sondern auch in der Gesellschaft noch über Jahrzehnte zu beobachten.“

Photo: Wikimedia Comons

Sechs Millionen Deutsche machten im vergangenen Jahr Urlaub in Polen. Zwei Millionen Polen und Polnisch-Stämmige leben dauerhaft in Deutschlands. Polen ist unser siebtwichtigster Handelspartner. Aber nur wenige wissen um die leuchtende Vergangenheit des Landes.

Eine Ausnahmeerscheinung in finsteren Zeiten

Entgegen der üblichen Wahrnehmung war das Mittelalter gar nicht eine so finstere Zeit. Dagegen war die darauffolgende frühe Neuzeit in einer Weise düster, die sich oft durchaus mit den finsteren Zeiten des 20. Jahrhunderts messen kann. Die Epoche zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert war in Europa geprägt von blutigen Glaubenskämpfen, von der zunehmenden Konzentration von Macht im Absolutismus und vom rasanten Wachstum des starken Staates. Inmitten dieser erstickenden Atmosphäre war die „Adelsrepublik Polen“ ein einzigartiges Phänomen, in dem jene Werte gedeihen konnten, die erst heute, etliche hundert Jahre später, in ganz Europa unser Selbstverständnis prägen.

Das Königreich Polen und das Großfürstentum Litauen bildeten bereits ab 1385 eine Personalunion. 1569 wurden die bisher gemeinsam regierten beiden Reiche in einer Realunion zusammengeführt. Gleichzeitig gab es eine massive Verfassungs-Revision, die aus dem neu entstandenen Reich ein Staatswesen mit beispielloser Freiheit machte. Das erbliche Königtum wurde abgeschafft zugunsten eines Wahlkönigtums. Damit einher ging eine deutliche Schwächung der Stellung des Königs, der mehr ein oberster Beamter war als ein klassischer Herrscher. Diese Entwicklung war dem absolutistischen Trend im Rest Europas diametral entgegengesetzt. (Ausnahmen bildeten nur noch die Vereinigten Niederlande und, mit Abstrichen, ab der „Glorious Revolution“ von 1688 auch Großbritannien.)

Demokratie und Toleranz

Gewählt wurde der König vom Adel sowie von Vertretern der freien Städte. Der Adel war freilich in Polen nicht eine kleine Elitenkaste. Ihm gehörten etwa 15 % der Bevölkerung an. Zum Vergleich: In Großbritannien, dem selbsterklärten „Mutterland der Demokratie“ durften erst nach der großen Reform von 1832 vergleichbar viele Bürger wählen. Die Adligen fanden sich alle zwei Jahre für sechs Wochen zusammen im Sejm, einem der ältesten Parlamente der Welt. Ausgestattet mit umfangreichen Veto-Möglichkeiten bestimmten sie über Gesetzgebung und Fiskalfragen sowie über außenpolitische Angelegenheiten. In der Zeit zwischen den Sejm-Sitzungen wachten 16 gewählte Senatoren darüber, dass der König sich an die Beschlüsse des Parlaments hielt. Außerdem gab es ein verbrieftes Recht zum Widerstand, sollte der König gegen „Recht, Freiheit, Privilegien und Gebräuche“ verstoßen.

Seit dem „Warschauer Religionsfrieden“ von 1573 gab es in der Republik auch garantierte Religionsfreiheit. In einer Zeit höchster Intoleranz zwischen den großen Konfessionen, gegenüber freikirchlichen „Sekten“ und „Ketzern“ und natürlich gegenüber Juden lebten in Polen Angehörige unterschiedlichster Konfessionen und Religionen friedlich zusammen: Katholiken, Protestanten, Orthodoxe, Juden und Muslime. Für viele verfolgte Anhänger protestantischer Freikirchen war Polen der einzige Zufluchtsort in Europa. Neben den religiösen Traditionen konnten sich auch kulturelle Eigenheiten in dem Vielvölkerstaat halten: Polen, Litauer, Ukrainer, Weißrussen, Esten, Letten, Slowaken, Ungarn, Moldauer, Juden, Deutsche, Armenier und Tataren fanden sich in einem föderalistisch organisierten Gemeinwesen zusammen.

Friedliche Koexistenz, wenn Macht begrenzt ist

Inmitten der zentralstaatlich organisierten, absolutistischen und kriegslüsternen europäischen Monarchien hatte es die Freiheitsinsel Polen-Litauen zunehmend schwer. Im Laufe des 18. Jahrhunderts wurde es aufgerieben zwischen den Großmächten in der Umgebung: Russland, Preußen, Österreich und Schweden bedrohten es von außen und durch Intrigen auch von innen. Auch der Versuch einer Verfassungsreform im Jahr 1791, die das Land modernisieren und noch weiter demokratisieren sollte, konnte den Untergang nicht abwenden. Nachdem bereits bei der ersten Polnischen Teilung 1772 bedeutende Teile des Landes von Russland, Preußen und Österreich annektiert worden waren, verschwand der Staat 1793 bis 1795 vollständig von der Landkarte. Die als „Goldene Freiheit“ bezeichnete Epoche war unwiderruflich vorbei.

Die beispiellose Freiheit, die über 200 Jahre hinweg in Polen-Litauen herrschte, sollte uns heute viel stärker wieder ins Bewusstsein kommen. Gerade in einer Zeit, in der sich nach dem Brexit-Votum die Gewichte innerhalb der EU verschieben könnten. Und gerade in einer Zeit, in der in vielen Staaten des östlichen Europas die Traditionen der Toleranz und Offenheit einen schweren Stand haben. Die Geschichte der „Goldenen Freiheit“ kann uns Warnung und Inspiration zugleich sein: Die Warnung lautet, dass die Freiheit immer bedroht ist durch die Macht. Die Entwicklungen in Russland in den letzten Jahren und in der Türkei in der jüngsten Zeit darf Europa nicht ignorieren. Zugleich zeigt die Geschichte aber auch vorbildhaft, dass eine friedliche Koexistenz vieler unterschiedlicher Lebensentwürfe möglich ist – gerade dann, wenn Macht nicht zentralisiert und absolutistisch ist. Das sei insbesondere den Verantwortlichen in Brüssel ans Herz gelegt …

Der Philosoph Karl Popper, dessen Geburtstag sich gestern jährte, stellte schon 1958 in einem Vortrag zum Thema „Woran glaubt der Westen“ (und die Geschichte Polen-Litauens beweist: auch der Osten glaubt daran!) fest:

„Unser Stolz sollte es sein, dass wir nicht eine Idee haben, sondern viele Ideen; dass wir nicht einen Glauben haben, nicht eine Religion, sondern viele, gute und schlechte. Es ist ein Zeichen der überragenden Kraft des Westens, dass wir uns das leisten können. Die Einigung des Westens auf eine Idee, auf einen Glauben, auf eine Religion, wäre das Ende des Westens, unsere Kapitulation, unsere bedingungslose Unterwerfung unter die totalitäre Idee.“