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Der Neoliberalismus ist am Ende – könnte man meinen. In Wahrheit ist der Neoliberalismus pragmatisch, verbindend und innovativ, und bietet Antworten auf die großen Fragen unserer Zeit.

Neoliberalismus: Der HSV der Politik?

Wir schreiben das Jahr 1938: In Paris trifft sich eine Gruppe bekannter liberaler Intellektueller und Akademiker. Der Einladung des amerikanischen Publizisten Walter Lippmann folgen unter anderem der spätere Nobelpreisträger Friedrich August von Hayek und mit Alexander Rüstow und Wilhelm Röpke zwei Väter der deutschen Sozialen Marktwirtschaft. Die 26 Teilnehmer des „Colloque Walter Lippmann“ treibt eine wichtige Frage um: Wie kann eine liberale Antwort auf Massenarbeitslosigkeit und die totalitären Staaten Hitlers und Stalins aussehen? Schließlich scheinen dem etablierten „Laissez-faire“-Liberalismus die Ideen auszugehen. Das Treffen endet mit der Schöpfung des Wortes „Neoliberalismus“. Dabei handelt es sich nicht um die Begründung eines homogenen Dogmas. Es ging den Teilnehmern des Kolloquium viel mehr darum, freiheitliche Ideen im internationalen Austausch weiterzuentwickeln und daraus passende Politikvorschläge abzuleiten.

Wir schreiben das Jahr 2018: Rechtspopulisten gewinnen überall auf der Welt an Zustimmung. Umweltschutz und Globalisierung offenbaren völlig neue Herausforderungen. Und der Neoliberalismus? Verkommen zum Kampfbegriff, mit dem die meisten Menschen nichts als „entfesselte“ Märkte und überhöhte Managergehälter verbinden. Der Neoliberale sei unsozial und unökologisch; im allerbesten Fall wird ihm noch ein wenig Wirtschaftskompetenz zugeschrieben. In dieser Wahrnehmung ist der Neoliberalismus der HSV der Politik: Irgendwann in den 80er Jahren mal erfolgreich gewesen, verkommen zu einer Truppe überbezahlter Egoisten, die nichts gebacken bekommt und der alle nur das Ende wünschen. Aufgeben wäre nun einfach. Doch stattdessen sollten wir uns für eine neoliberale Renaissance einsetzen. Lassen Sie mich erklären warum.

Der Neoliberalismus ist pragmatisch

Warum ist es so schwer, eine einheitliche Definition für den Neoliberalismus zu finden? Der Grund liegt in seiner Dynamik. Es geht ihm nicht darum, eiserne Gesetze für alle Zeiten festzuschreiben. Stattdessen ist der Neoliberalismus wettbewerbs- und überzeugungsgeleitet. Nur deshalb konnte er so unterschiedliche Ausprägungen wie die Soziale Marktwirtschaft in Deutschland oder den „Thatcherismus“ im Vereinigten Königreich annehmen. In beiden Fällen boten neoliberale Ideen die nötigen Antworten auf die vorliegenden Probleme. Im Nachkriegsdeutschland war dies der komplette Neuaufbau einer Wettbewerbsordnung, die durch marktwirtschaftliche Anreize und sozialen Ausgleich ein erneutes Abdriften in den Totalitarismus verhindern sollte. Im Großbritannien der 80er Jahre hingegen war dies die Sanierung eines vom Ruin bedrohten Staatshaushaltes durch Privatisierungen und die Senkung der Staatsquote.

Viele politische Ideen verschwinden auch deshalb früher oder später in der Versenkung, weil sie sich dem Wettbewerb verschließen. Einmal entwickelte Lösungen gelten als unumstößlich und werden nicht mehr hinterfragt. Ein Neoliberalismus im Sinne des Colloque Walter Lippmann kennt jedoch keine unumstößlichen Systeme. Im Wettbewerb der Ideen setzen sich diejenigen Lösungen durch, die unter Berücksichtigung neoliberaler Überzeugungen am erfolgversprechendsten scheinen. Wenn überhaupt, dann kann man den erfolgreichen Neoliberalen der 60er und 70er Jahre vorwerfen, auf dem Höhepunkt ihres Erfolges diesem Wettbewerb entflohen zu sein. Dieser Hochmut hat der Marke vielleicht sehr geschadet, ihre Qualität ist davon aber komplett unberührt.

Der Neoliberalismus ist verbindend

Doch was verbindet die Neoliberalen? Der ehemalige Executive Director des Londoner „Adam Smith Institute“, Sam Bowman, beschreibt den Neoliberalen anhand einiger Überzeugungen: Einerseits als marktfreundlichen Verfechter von Eigentumsrechten, andererseits überzeugt von der Notwendigkeit einer gewissen Umverteilung. Dazu undogmatisch, international, empathisch mit denjenigen Menschen, die es weniger gut getroffen haben, und vor allem optimistisch, dass Fortschritt die Menschheit voranbringt. In Zeiten, in denen allerhand politische Kräfte von links und rechts sich vor allem durch gesellschaftliche Spaltung profilieren, könnte eine solche Vision des Neoliberalismus das überall dringend gesuchte Gegengewicht bilden.

So stellt auch Bowman fest, dass diese Beschreibung eines Neoliberalen auf viele Menschen in seiner Umgebung zutrifft. Und tatsächlich braucht es nicht viel Fantasie um sich vorzustellen, wie sich Wähler der unterschiedlichsten Parteien auf diese Werte verständigen. Vieles, was gerade die junge Generation umtreibt, offenbart im Grunde ein neoliberales Weltbild: Der Drang sich international zu vernetzen und die Beschäftigung mit der Armutsbekämpfung. Oder im Besonderen die stetig wachsende Bedeutung der „Sharing Economy“. Schließlich eröffnen Anbieter wie uber und AirBnB nie dagewesene Märkte und Möglichkeiten zum (kapitalistischen) Austausch. Ja, viele wären überrascht, wie neoliberal sie eigentlich denken.

Der Neoliberalismus ist innovativ

In der großen Politik allerdings spielen Neoliberale heute keine große Rolle mehr. Dabei sind die Herausforderungen von heute denen von 1938 gar nicht unähnlich. Fortschritt und Globalisierung haben die Menschheit einerseits auf ein ungeahntes Wohlstandsniveau gehoben. Doch damit einher gehen neue Probleme wie der Umweltschutz oder der Umgang mit Menschen, deren Kinder erst von der Globalisierung profitieren. Wir sollten nicht versuchen, diese Probleme einfach auszusitzen und zu ignorieren, denn das hat noch nie funktioniert.

Die neoliberalen Reformen im 21. Jahrhundert könnten dann auch so ganz anders aussehen als diejenigen Thatchers, Reagans oder Erhards. Seien es polyzentrisch organsierte im Wettbewerb miteinander stehende Privatstädte, Global Skill Partnerships in der Migration oder ein regulierter Organhandel. All diese Ideen sind undogmatisch, problemlösungsorientiert und sie vereinen das, was wir über menschliches Zusammenleben gelernt haben, mit dem Streben nach Fortschritt und Verbesserung. Sie sind neoliberal.

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Von Matthias Still, Unternehmer und PR-Berater, Fackelträger bei Prometheus.

Vor zwei Millionen Jahren saß einer unserer Vorfahren in Afrika unter einem Baum und grübelte. Der Tag war heiß und das Leben beschwerlich: Essen sammeln, einen sicheren Schlafplatz finden, sich gegen wilde Tiere wehren – alles musste man selber machen und das auch noch mit bloßer Hand. Der Alltag bestand vor allem aus einem ganz zentralen Tagesordnungspunkt: dem Überleben. Und das war oftmals gar nicht so einfach. Also fummelte unser Urmensch an einem runden Stein herum. Dabei kam er auf die Idee, die obere Hälfte so lange zu bearbeiten, bis sie spitz war. Und so wurde aus dem eher nutzlosen Stein ein Werkzeug: Der Faustkeil. Die erste disruptive technologische Erfindung der Menschheit.

Was genau der Urmensch, der zu diesem Zeitpunkt noch ein Vorgänger der Gattung Homo sapiens war, mit dem Faustkeil machte, lässt sich nur erahnen: Für die Selbstverteidigung, für das Zerkleinerung von Nahrung oder als Werkzeug, um weitere Werkzeuge herzustellen, kann er gedient haben.

Und doch hat dieser primitiv behauene Stein etwas ganz Besonderes bewirkt: Er ließ in unseren urzeitlichen Vorfahren eine erste Ahnung erglimmen, dass sie nicht einfach wehrlos einer rauen und hochgradig lebensgefährlichen Natur ausgesetzt waren. Sie konnten sich aufmachen, um diese zumindest ein bisschen zu zähmen, sie für das eigene Überleben zu nutzen und sich bei Gefahren vor ihr zu schützen.

Menschen erfinden, um das Leben einfacher und besser zu machen

Auf bahnbrechende Erfindungen wie das Rad, die Schrift oder gar die Dampfmaschine musste man dann noch ein paar Hunderttausend Jahre warten. Innovation hatte in der frühen Geschichte des menschlichen Daseins nichts mit Geschwindigkeit zu tun. Doch der Gedanke, durch Erfindungsreichtum die eigene, Natur gegebene Begrenztheit zu überwinden, sollte zu einem der mächtigsten und wirkungsreichsten in der Menschheitsgeschichte werden.

Warum kommen Menschen überhaupt auf die Idee, Dinge zu erfinden? Es hat fast immer damit zu tun, das Leben einfacher und besser zu machen. Wir alle würden heute in der unwirtlichen Umgebung unserer Vorfahren kaum eine Woche überleben. Wie selbstverständlich nehmen wir Erfindungen wie elektrischen Strom  oder Heizsysteme hin, die uns zu jeder Zeit Licht spenden und vor Kälte schützen. Wie einfach ist es für uns, Lebensmittel im nächsten Supermarkt zu kaufen, anstatt sie sammeln oder jagen zu müssen.

Der technische Fortschritt hat unser Leben massiv verbessert. Und je schneller er sich vollzieht, umso schneller leben wir immer besser. Werkzeuge, Maschinen und Fertigungsverfahren ermöglichen erst das, was Ökonomen „Arbeitsteilung“ nennen – die womöglich wichtigste Grundlage unseres wirtschaftlichen Wohlstands. Ohne Technik müssten wir nämlich alle das Gleiche machen: Ums Überleben kämpfen, Tag für Tag.

Innovationen eröffnen Benachteiligten neue Optionen, ihr Leben zu gestalten

Doch das ist noch nicht alles: Der technologische Fortschritt sorgt nicht nur für wirtschaftlichen Wohlstand, sondern auch für so etwas wie „soziale Gerechtigkeit“ (lassen wir hier einmal außer Acht, dass unter diesem Begriff höchst unterschiedliche Dinge verstanden werden). Über Jahrtausende war das menschliche Zusammenleben vom Prinzip des „Survival of the fittest“ bestimmt. Der, der am schnellsten vor dem Säbelzahntiger wegrennen konnte, hatte Glück. Der, der schneller war als der Langsamste, auch noch. Aber der Langsamste hatte Pech. Kinder, Alte, Verletze, Behinderte hatten schlechte Überlebenschancen, wenn es eng wurde. Das ist heute anders: Technologische Innovationen eröffnen bislang Benachteiligten ganz neue Optionen, ihr Leben zu gestalten: Auf Seiten der politischen Linken spricht man hier oft von „gesellschaftlicher Teilhabe“. Erfindungsreichtum und Innovation sind die eigentlichen Treiber dieser Teilhabe: Und ganz im Gegenteil zum vermeintlich fürsorglichen Sozialstaat leisten sie dies ohne die Kosten der Teilhabe Dritten aufzulasten. Um nur ein paar Beispiele zu nennen: Der medizinische Fortschritt hat nahezu alle großen Volkskrankheiten und Epidemien hierzulande ausgerottet – und damit Millionen Menschen Leid und Elend erspart. Moderne Hilfsmittel ermöglichen es heute Menschen mit Handicap zu arbeiten und für den eigenen Broterwerb zu sorgen – anstatt auf Almosen angewiesen zu sein.

Und auch für die Zukunft sieht es rosig aus: Innovationen wie das autonome Auto werden dazu führen, dass sich Menschen selbständig fortbewegen können, die derzeit ausschließlich auf den öffentlichen Nahverkehr angewiesen sind: Blinde beispielsweise oder Personen, die durch fehlende Gliedmaße stark beeinträchtigt sind – aber auch Senioren, die sich im fortgeschrittenen Alter nicht mehr sicher als Fahrer betätigen können. Die Strategie automatisiertes und vernetztes Fahren der Bundesregierung geht davon aus, dass der Personenverkehr bis zum Jahr 2030 deutlich zunehmen wird – und autonome Fahrzeuge eine wichtige Rolle dabei spielen werden. Damit könnte das selbst fahrende Auto am Ende für mehr gesellschaftliche Teilhabe sorgen als alle ehrenwerten Absichten des Bundesteilhabegesetzes.

Auch wenn er schnell ist und uns manchmal überfordert: Der technologische Fortschritt hat Zustimmung verdient. Er ist der soziale Treibstoff unserer Zeit.

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Mit Mächtigen vom Schlage Seehofers und Trumps verschiebt sich das Verständnis der Politik. Diese modernen Gladiatoren stehen für Symbolpolitik und persönliche Eitelkeiten anstatt ihrer eigentlichen Aufgabe gerecht zu werden.

Die Gladiatoren betreten das politische Kolosseum

Es braust Jubel auf, als die Gladiatoren das Innere des politischen Kolosseums betreten. Zuerst zeigt sich Bundesinnenminister Horst Seehofer als „Retiarius“, bewaffnet mit Dreizack und Wurfnetz. Sein Spezialgebiet: Das Einfangen von fliehenden Widersachern, erst kürzlich fing er 69 auf einen Schlag. Auf der anderen Seite betritt Donald Trump das große Rund. In der schweren Rüstung des „Provocator“ beeindruckt er die Zuschauer. Nicht immer zu seinem Vorteil, denn häufig scheint es ihm schwer zu fallen, durch seinen gold-glänzenden Helm Freund und Feind voneinander zu unterscheiden. Zuletzt betritt Boris Johnson als „Murmillo“ die Arena. Sein Helm wird geschmückt von bunten Federn, die in alle Richtungen abstehen. Er stolziert kurz voller Erhabenheit an den Zuschauern vorbei, um hier und da einen abfälligen Kommentar loszuwerden – da ist er auch schon wieder im Inneren des modernen Kolosseums verschwunden.

Tatsächlich ähnelt das Schauspiel, das die Mächtigen vieler westlicher Demokratien in den letzten Monaten aufführen, immer stärker dem Schaulauf römischer Gladiatoren. Seehofer, Trump und Johnson stehen dabei nur exemplarisch für eine grundlegende Wesensveränderung in der Politik. Statt Problemlösung entwickeln sich Eitelkeiten und abstrakte Souveränitätsbegriffe zum Kerngegenstand der Politik. Grund genug, um für eine Rückkehr auf den Marktplatz der Politik zu plädieren!

Die Politik sollte ein Marktplatz sein, kein Kolosseum

Die liberalen Demokratien des Westens sind ein beispielloses Erfolgsmodell. Sie zeichnen sich aus durch Rechtsstaatlichkeit, Minderheitenschutz und inklusive demokratische Institutionen. Dieses institutionelle Gerüst kann selbst die Wirrungen eines Donald Trump abfedern – für einige Zeit zumindest. Ebenso wichtig ist allerdings das (Selbst-)Verständnis von Politik. Im Laufe der Menschheitsgeschichte und in der Tradition der athenischen, polnischen, britischen, niederländischen, amerikanischen und vieler anderer Republiken wurde Politik immer stärker geprägt von einer Art Marktplatz-Mentalität. Auf dem Marktplatz werden Probleme gelöst; auch wenn der Problem-Begriff häufig etwas – teils auch deutlich – zu weit gefasst wird. Auf dem Marktplatz ist der Umgangston nicht egal. Es geht nicht darum, Ängste zu schüren, und Eitelkeiten stehen zumindest nicht für denjenigen an erster Stelle, der ein vorteilhaftes Geschäft machen möchte. Der Marktplatz ist kein Spektakel, hier wird auf der Grundlage von Fakten debattiert und es wird schlicht gearbeitet.

Den modernen Gladiatoren der Politik ist der politische Marktplatz fremd. Sie empfinden gar Verachtung für die Art und Weise wie hier in zähen und langwierigen Verhandlungen die scheinbar unbedeutendsten Probleme gelöst werden. Trump und Co wollen die großen Erfolge und die großen Gefühle. Was interessiert es da, welche konkreten Auswirkungen Handelsbeschränkungen oder der Brexit auf die eigene Volkswirtschaft haben? Es geht schließlich beiderseits des Atlantiks darum, das ‘eigene Land zurückzugewinnen‘. Souveränität und Kollektivismen werden zum Selbstzweck, dessen Umsetzung, wenn überhaupt, nur wenigen etwas bringt. Das verklärt auch die Sinne der Zuschauer, die über all dem Spektakel mitunter ihre tatsächlichen Probleme vergessen. Ein Effekt, den sich schon die römischen Kaiser gern zu eigen machten: Brot und Spiele.

Nelson Mandela zeigte der Welt, dass es auch anders geht

Dass es auch anders geht, zeigt das Beispiel Nelson Mandelas, der in dieser Woche 100 Jahre alt geworden wäre. 1990, nach 28 Jahren in Haft, kommt er frei und leitet gemeinsam mit dem letzten südafrikanischen Präsidenten des Apartheid-Regimes, Frederik de Klerk, die friedliche Transition ein. Nach einem Jahrhundert der brutalen Unterdrückung dürstet es vielen der über 30 Millionen Schwarzen, Farbigen und Asiaten nach Rache an der rücksichtlosen weißen Minderheitsregierung – und Mandela ist ihr unantastbarer Volksheld. Es wäre nur verständlich gewesen, wenn Mandela dem Drängen der Massen (und der eigenen Frau) nachgegeben und eine rassistische Umkehrungspolitik umgesetzt hätte, wie kurz darauf Simbabwes berüchtigter Ex-Diktator Robert Mugabe.

Doch anstatt den Unterdrückten scheinbar ‚ihr Land zurückzugeben‘, setzte Mandela auf Versöhnung und die Lösung von tatsächlichen Problemen. Unter einer Regierung der nationalen Einheit arbeitete eine von Desmond Tutu geleitete Kommission Verbrechen Stück für Stück auf und entschädigte viele Opfer. Gleichzeitig verantwortete Mandelas Regierung eine neue Verfassung und den Anschluss von Millionen Haushalten an das Strom- und Wassernetz. 1990 hatte Mandela nicht nur jeden Grund, sondern sogar eine gewisse Legitimation zum Spektakel. Dass er den Weg über den politischen Marktplatz wählte, prägt Südafrikas erfolgreiche Entwicklung bis heute.

Wir sollten das Kolosseum einfach verlassen

Dass Politiker vom Schlage Donald Trumps einen ähnlichen Weg gehen könnten wie einst Nelson Mandela, davon träumen wohl nicht einmal die Kühnsten unter uns. So amüsierend das Schauspiel der Gladiatoren häufig wirkt – die echten Probleme und Anliegen sollten nicht in Vergessenheit geraten. Vor allem sollten sich die Bürger von dem Spektakel nicht ablenken lassen. Selbst wenn Abschiebungen rechtmäßig sein sollten – was tragischerweise in letzter Zeit nicht immer der Fall war – sollte das Seehofer‘sche Gejubel darüber nicht davon ablenken, dass Deutschland noch immer kein richtiges Einwanderungsgesetz hat. Dass Donald Trump sich immer wieder auf der internationalen Bühne blamiert, sollte nicht die echten Krisen, Machtverlagerungen und Spaltungen, die er auslöst, überlagern. Dass Boris Johnson die biedere Theresa May auf groteske Weise hilflos aussehen lässt, sollte nicht verdecken, dass der Brexit für die EU und Großbritannien eine gigantische administrative Herausforderung darstellt. Für all das braucht es wieder mehr Politiker, die die Werte des Marktplatzes leben. Und es braucht uns Zuschauer, die das Kolosseum einfach mal verlassen.

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Nicht nur Bier kann äußerst bekömmlich sein. Auch das Studium älterer Denker kann unsere geistige Verdauung anregen und zu unserer intellektuellen Gesundheit beitragen. Dazu eignet sich hervorragend der Schweizer Historiker Jacob Burckhardt, der heute vor 200 Jahren geboren wurde.

Ein Erzskeptiker als Craft Beer

Arthur Schopenhauer, Alexis de Tocqueville, John Stuart Mill, George Eliot, Lord Acton, Friedrich Nietzsche – in die Reihe dieser unkonventionellen Querdenker des 19. Jahrhunderts gehört auch der Schweizer (Kunst-)Historiker Jacob Burckhardt, den der Journalist Dirk Schümer einst spöttisch, aber sehr zutreffend einen „Erzskeptiker“ nannte. Er lässt sich nicht einem politischen Lager zuordnen und eignet sich nicht als Leitfigur einer Denkschule wie etwa Hegel, Marx oder de Maistre. Würde man ihn – unbotmäßiger Weise – mit einem Bier vergleichen, wäre er das Gegenteil von einem Heineken, Becks oder gar Oettinger. Er ist eher wie ein Craft Beer oder ein Produkt der Privatbrauerei Härle im Allgäu, der kürzlich vom Bundesgerichtshof untersagt wurde, ihr Bier als bekömmlich anzubieten. Burckhardt ist individuell, geschmacksintensiv und unverwechselbar.

Seine große Forschungsleidenschaft galt der Renaissance. In seinem 1860 erschienenen Werk „Die Cultur der Renaissance in Italien“ legte er ausführlich dar, wie diese Epoche das Individuum befreite und ihm in Wissenschaft und Technik, Politik und vor allem Kunst ganz neue Entfaltungsmöglichkeiten eröffnete. Mag seine etwas einseitige und überenthusiastische Deutung heute auch längst relativiert worden sein, so sind doch die Werte, die er dieser Epoche zuschrieb auch heute noch für den freiheitlich gesonnenen Menschen von zentraler Bedeutung. Burckhardt, der ähnlich wie Friedrich August von Hayek dem rationalistischen Ansatz der französischen Aufklärung wenig abzugewinnen vermochte, zeichnete ein Bild der Renaissance, das sie als die wahre Aufklärung erscheinen lässt. Die Liberalität und Besonnenheit, die er dieser Zeit zuschrieb, erinnert an die großen schottischen Aufklärer wie Adam Ferguson, David Hume und Adam Smith. Dabei übersah er freilich, dass der Fanatismus eines Savonarola oder Calvin den radikalen französischen Aufklärern nähersteht als seiner bürgerlichen Toleranz; er übersah die Parallelen zwischen Luther und Rousseau, Machiavelli und Metternich, Heinrich VIII. von England und Bismarck.

Das „täglich wachsende Pflichtenheft“ des Staates

Das erst posthum erschienene Buch „Weltgeschichtliche Betrachtungen“, gegen seinen Willen veröffentlichte Vorlesungsmanuskripte, war über die Jahrzehnte erfolgreich und ist auch heute in seinen Beobachtungen noch bemerkenswert aktuell. Mit großer Hellsicht sah er die Gefahr, die für den Einzelnen wie für die Menschheit von dem Phänomen der Macht ausgeht – darin seinem Zeitgenossen und Kollegen Lord Acton sehr ähnlich. Wie die beiden anderen „Erzskeptiker“ Edmund Burke und Wilhelm von Humboldt stand er staatlicher Machtausweitung sehr misstrauisch gegenüber, insbesondere – ganz aktuell – auch der Schuldenmacherei. So schrieb er schon in den späten 1860er Jahren die ahnungsvollen Sätze:

„Die neuere Redaktion der Menschenrechte verlangt das Recht auf Arbeit und auf Subsistenz. Man will eben die größten Hauptsachen nicht mehr der Gesellschaft überlassen, weil man das Unmögliche will und meint, nur Staatszwang könne dieses garantieren. … man oktroyiert dem Staat in sein täglich wachsendes Pflichtenheft schlechtweg alles, wovon man weiß oder ahnt, dass es die Gesellschaft nicht tun werde. Überall steigen die Bedürfnisse und die dazu passenden Theorien. Zugleich aber auch die Schulden, das große, jammervolle Hauptridikule des 19. Jahrhunderts. Schon diese Art, das Vermögen der künftigen Generationen vorweg zu verschleudern, beweist einen herzlosen Hochmut als wesentlichen Charakterzug.“

Ein Warner vor Sozialismus und Nationalismus

Ein besonderer Graus war Burckhardt die Idee, die Geschichte als einen notwendigen Ablauf zu verstehen. Als vorhersehbare Verwirklichung des „Weltgeistes“, den Hegel beschworen hatte, und den Burckhardts Jahrgangsgenosse Karl Marx schließlich zu einer Theorie ausarbeitete, die unbeschreibliches Elend, Tod und Vernichtung hervorbringen sollte. Auch die Tendenz, Geschichte anhand – vermeintlich – großer Männer und – ebenso vermeintlich – bedeutungsvoller Kollektive wie Nation oder Volk zu erzählen, bekämpfte er mit Vehemenz. Mit Schaudern stellte er fest: „Wer … einer Gesamtheit Größe, Macht, Glanz verschafft, dem wird das Verbrechen nachgesehen, namentlich der Bruch abgedrungener politischer Verträge, indem der Vorteil des Ganzen, des Staates oder Volkes, absolut unveräußerlich sei und durch nichts auf ewig beschädigt werden dürfe“.

Schon hundert Jahre vor James Buchanan und Gordon Tullock stellte Burckhardt das Problem der Public Choice dar, als er bemerkte: der Staat „soll über den Parteien stehen; freilich sucht jede Partei sich seiner zu bemächtigen, sich für das Allgemeine auszugeben.“ Und das gefährliche Prinzip, das im Hintergrund von Wohlfahrtsstaat und Paternalismus steht, beschrieb er mit messerscharfer Präzision: „Die allmähliche Gewöhnung an gänzliche Bevormundung aber tötet endlich jede Initiative; man erwartet alles vom Staat, woraus dann bei der ersten Verschiebung der Macht sich ergibt, dass man alles von ihm verlangt, ihm alles aufbürdet.“ Sozialismus und Nationalismus – die beiden großen Geißeln der Menschheit im 20. Jahrhundert, hatte Burckhardt schon weitsichtig beschrieben.

Prost, Professor Burckhardt!

Doch zurück zum bekömmlichen Bier. Burckhardt entstammte zwar einer Familie, die viele reformierte Pfarrer hervorgebracht hatte. Doch war ihm der Rigorismus und die Freudlosigkeit vieler Reformatoren im Laufe seiner Beschäftigung mit der Renaissance zunehmend sauer aufgestoßen. Seine Leidenschaft galt mehr und mehr der Liberalität und Lebensfreude der katholischen Renaissance Italiens. Was hätte dieser Mann, der sich seitenlang über die „ängstliche Moralität“ des Savonarola im Florenz des späten 15. Jahrhunderts echauffieren konnte, wohl zum Richterverbot der Bekömmlichkeit gesagt? Auch dazu stehen schon bemerkenswerte Zeilen in seinen „Weltgeschichtlichen Betrachtungen“:

„Es ist eine Ausartung und philosophisch-bürokratische Überhebung, wenn der Staat direkt das Sittliche verwirklichen will, was nur die Gesellschaft kann und darf. … Die ‚Verwirklichung des Sittlichen auf Erden‘ durch den Staat müsste tausendmal scheitern an der inneren Unzulänglichkeit der Menschennatur überhaupt und auch der der Besten insbesondere. Das Sittliche hat ein wesentlich anderes Forum als den Staat; es ist schon enorm viel, dass dieser das konventionelle Recht aufrechthält. Er wird am ehesten gesund bleiben, wenn er sich seiner Natur (vielleicht sogar seines wesentlichen Ursprungs) als Notinstitut bewusst bleibt.“

Photo: Zsolt Palatinus from flickr (PDM 1.0)

Der Europa-Tag in der vergangenen Woche wird in Erinnerung an den so genannten Schuman-Plan begangen. Schulklassen landauf, landab diskutieren mit den örtlichen Bundestagsabgeordneten über die Zukunft der EU und Europas. Es braucht immer Anlässe, um nach vorne zu schauen. Sehr wenig wird aber bei dieser Gelegenheit über die Entstehungsgeschichte berichtet. Das ist bedauerlich, denn daraus könnte man viel für die Zukunft lernen.

Am 9. Mai 1950 präsentierte der damalige französische Außenminister Robert Schuman einen Plan für die Zusammenlegung der französischen und deutschen Kohle- und Stahlindustrie, der letztlich in der „Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl“ mündete. Die sogenannte Montanunion gilt heute als eine der Geburtsstunden der Europäischen Gemeinschaft und der heutigen Europäischen Union.

Es war ein industriepolitisches Projekt erster Güte, das gleichzeitig die außenpolitischen Interessen Frankreichs berücksichtigen sollte. Deutschland sollte an den Westen gebunden werden, und die französische Regierung wollte die eigene Stahlindustrie durch den billigen Import von Koks und Kohle aus Deutschland puschen. Der Spiegel berichtete 1951 von einer Rede Schumans vor Gewerkschaftern in Metz wo er sagte, allein „um den französischen Stahlexport zu erleichtern“, habe Frankreich „diese Mission übernommen“.

Die europäische Einigung ging anschließend zwar weiter, der ursprünglich Plan Schumans scheiterte jedoch kläglich. Weder hat Deutschland heute noch billige heimische Steinkohle, noch hat Frankreich eine florierende Stahlindustrie. Die deutsche Steinkohleförderung war spätestens zu Beginn der 1970er Jahre nicht mehr wettbewerbsfähig und musste ab 1975 durch den so genannten „Kohlepfennig“ subventioniert werden. Das Bundesverfassungsgericht untersagte diese Sonderabgabe auf den Strompreis und er wurde nach 20 Jahren 1995 wieder abgeschafft. Die Kohleindustrie wurde anschließend aus dem Staatshaushalt weiter subventioniert. Bis 2002 fielen so Subventionen von 80 bis 100 Mrd. Euro an. Vielleicht ist das Schicksal des „Kohlepfennigs“ ja ein gutes Vorbild für den so genannten „Solidaritätszuschlag“. Zeit wäre es!

Im Verlauf ging es der französischen Seite nicht viel besser. Frankreich hat heute faktisch keine nennenswerte Stahlindustrie mehr. Unter den 50 größten Stahlunternehmen der Welt kommt kein einziges aus unserem Nachbarland. Mit 14,4 Millionen Tonnen Stahl produzieren französische Unternehmen gerade einmal 9 Prozent der Produktion in der EU. Zum Vergleich: chinesische Stahlhersteller produzieren über 800 Millionen Tonnen Stahl pro Jahr.

Abschottung hat diesen Prozess nicht aufgehalten. Seit geraumer Zeit müssen chinesische Hersteller zwar bis zu 72 Prozent Importzölle auf Stahlprodukte bezahlen. Dazu teilt die EU-Kommission mit: „Die EU-Kommission schützt mit den Strafzöllen die europäischen Stahlhersteller vor unfairen Handelspraktiken und schafft faire Wettbewerbsbedingungen in der Stahlbranche. Der Stahlsektor leidet unter einer weltweiten Überkapazität.“

Letztlich geht es also um den Schutz der heimischen Industrie. Sie sollen höhere Preise am Markt realisieren können, damit Arbeitsplätze gesichert werden. Umgekehrt heißt das aber auch, dass die Kunden mehr ausgeben müssen, als sie eigentlich müssten. Und weitergesponnen, bedeutet dies, dass europäische Kunden mehr Geld für die Produkte bezahlen müssen als ohne diese Zölle. Letztlich trägt also der Endverbraucher in Europa die Last der Zölle, ohne dass die jeweilige Industrie vom weltweiten Wandel in der Stahlindustrie nennenswert profitieren würde.

Der Grund ist ganz einfach. Keine EU-Kommission, keine Regierung und auch kein Politiker haben das Wissen, wirtschaftliche Entwicklung voraussagen zu können. Im Gegenteil. Versuchen sie es dennoch, richten sie mehr Schaden als Nutzen an. Sie haften nicht für ihr Handeln, sondern andere tun dies für sie. Die 80 bis 100 Milliarden Euro, die bis Anfang der 2000er Jahre in die Kohlesubventionierung geflossen sind, haben den Strukturwandel an Rhein und Ruhr nicht befördert, sondern behindert. Strukturen wurden aufrechterhalten, Neues konnte sich nicht ausreichend entfalten und eine allgemeine Subventionsmentalität machte sich überall breit. Deshalb ist die Unterbindung des Wettbewerbs durch staatliche Planungsphantasien immer falsch. Sie kommen zwar mit wohlfühlenden Worten wie „fair“, „gerecht“ oder „nachhaltig“ daher, letztlich sind das aber alles, wie Hayek es bezeichnen würde, „Wieselwörter“, die man nicht greifen kann, sondern einem aus der Hand entgleiten, sobald man sie fassen will. Mit Friedrich August von Hayek muss man diesen Apologeten staatlicher Planungsgläubigkeit daher zurufen: „Es ist die Hauptaufgabe des Wettbewerbs zu zeigen, welche Pläne falsch sind.“ Wenn europäische Politiker immer wieder die Axt an diesen Wettbewerb legen, gefährden sie dessen Blüten und Früchte. Die reiche Ernte des Wettbewerbs können Europas Bürger nur ernten, wenn der Baum gehegt und gepflegt wird.

Erstmals veröffentlicht bei Tichys Einblick.