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Photo: Jean-Pierre Dalberá from Flickr (CC BY 2.0)

Friedrich August von Hayek gibt tiefe und zeitlose Anregungen, welchen Wert ein Projekt wie die Europäische Union auf der einen Seite haben kann, aber gleichzeitig auch, welche Gefahren eine solche Gemeinschaft birgt, wenn sie auf den falschen Prinzipien beruht.

In dem Aufsatz „Die wirtschaftlichen Voraussetzungen föderativer Zusammenschlüsse“ von 1939 schreibt Hayek im Kontext des aufkommenden Zweiten Weltkrieges von den Gefahren des nationalistischen Protektionismus, der schlussendlich in den Krieg zwischen den Völkern münden kann. Seine Lösung für die Zukunft ist eine ökonomische Union der europäischen Länder, welche als Hauptzweck die Sicherung des Friedens und die Förderung von Wohlstand durch einen gemeinsamen Binnenmarkt hat. Nicht nur der Optimismus Hayeks in solch dunkler Stunde, sondern auch die Übereinstimmungen zwischen seiner Vision für die europäischen Nationalstaaten und den tatsächlichen Leitlinien der Römischen Verträge sind erstaunlich. So schreibt er:

„Es wird mit Recht als einer der großen Vorteile eines Bundesstaates angesehen, dass in ihm die Hindernisse für die Bewegung von Menschen, Gütern und Kapital zwischen den Staaten wegfallen und die Schaffung gemeinsamer Gesetze eines einheitlichen Geldwesens und gemeinsame Regulierung des Verkehrs möglich wird. Die materiellen Vorteile, die die Schaffung eines so großen Wirtschaftsgebietes mit sich bringt, können kaum überschätzt werden.“

In vielerlei Hinsicht dürfte die Europäische Union, zumindest in ihren Anfängen, somit in den Augen Hayeks ein Erfolgsprojekt gewesen sein. Und auch heute sollten wir trotz aller Schwierigkeiten und gerechtfertigter Kritik an der Europäischen Union nicht die Errungenschaften der Römischen Verträge vergessen, welche weiterhin das Fundament der Europäischen Union bilden: Freier Waren- und Dienstleistungsverkehr, freier Kapitalverkehr und die Personenfreizügigkeit.

Hayek skizziert allerdings nicht nur die Vorzüge einer Europäischen Union, sondern auch die damit verbundenen Probleme. So warnt er im letzten Kapitel „Ausblick auf die internationale Ordnung“ seines 1944 erschienen Klassikers „Der Weg zur Knechtschaft“ vor den Gefahren einer länderübergreifenden Wirtschaftsunion, welche er fünf Jahre vorher noch so wohlwollend beschrieben hatte. Selbst wenn nationaler Protektionismus in einer Europäischen Union überwunden würde, so sei Planwirtschaft auf einer internationalen Ebene ein noch viel größeres Übel. „Die Probleme der bewussten Lenkung des Wirtschaftsprozesses nehmen notgedrungen ein noch größeres Ausmaß an, wenn dasselbe auf internationaler Grundlage versucht wird.“

Eine politische Union kann zudem schnell zur Gefahr für alle Freiheiten werden, denn „je geringer die Übereinstimmung in den Anschauungen ist, umso mehr wird man sich auf Gewalt und Zwang verlassen müssen.“

Es gibt eine Reihe von Trends in der Europäischen Union, die als eine solche Bedrohung der freiheitlichen Ordnung gesehen werden müssen: Die Kommission, der Rat und das Parlament mischen sich in viele Einzelfragen ein und fühlen sich dafür zuständig. Unveräußerliche Bürgerrechte werden bei der anlasslosen Vorratsdatenspeicherung beschränkt, die Dezentralität der Marktwirtschaft wird durch eine zunehmende zentrale Investitionslenkung ersetzt, der Binnenmarkt wird durch die Verschärfung der Entsenderichtlinie untergraben und die Altersvorsorge der Bürger wird durch den Geldsozialismus der EZB bedroht. Seit Jahren versucht die EU-Kommission, die Mehrwertsteuersätze zu harmonisieren und die Bemessungsgrundlage für die Unternehmensteuern anzugleichen, um dann später mit einheitlichen Steuersätzen gänzlich die Unterschiede abzuschaffen. Selbst die Urteile des Gerichtshofs der Europäischen Union dienen im Zweifel oft dem Machtzuwachs der Institutionen der Europäischen Union gegenüber den Mitgliedsstaaten.

Dieser Weg, der letztlich in die Unfreiheit und Knechtschaft zu führen droht, dient einem höheren Ziel: der Vollendung des europäischen Superstaates. Es sind diese kollektivistischen Ideen, die den Gründungsmythos der europäischen Einigung gefährden und letztlich zerstören.

Will man hingegen ein Europa der Vielfalt und der Freiheit, welches Hayek wie auch den europäischen Gründervätern vorschwebte, dann braucht es einen institutionellen Ordnungsrahmen, der Recht und Freiheit gegenüber politischer Willkür schützt und sichert. Und es braucht klare Regeln, die allgemein, abstrakt und für alle gleich sind, damit sie nicht umgangen oder interpretiert werden können.

Dazu gehört auch, dass die EU Abschied vom Dogma einer „ever closer union“ nimmt und stattdessen das Prinzip der Subsidiarität wieder in den Mittelpunkt ihrer Gemeinschaft stellen muss. Es muss freiwillige vertiefte Zusammenarbeit dort geben, wo ein Konsens erzielt werden kann. Dieser Konsens muss nicht für alle Zeiten gelten, sondern Mitgliedsstaaten müssen ein Recht erhalten, Kompetenzen zurückzufordern. Die Union muss flexibel und vielfältig sein. Als monolithischer Einheitsblock würde sie sich auf das Abstellgleis der Geschichte begeben, unfähig zur Anpassung, unfähig zur Entwicklung.

Erstmals erschienen in Tichys Einblick.

Photo: Matt Runkle from Flickr (CC BY 2.0)

Bis zur Bundestagswahl haben alle stillgehalten: Der IWF, die griechische Regierung und auch die Kanzlerin. Über die Schuldentragfähigkeit Griechenlands wurde der Mantel des Schweigens gehüllt. Der schwelende Zwist zwischen IWF und den Euro-Staaten, ob Griechenland einen Schuldenerlass bekommen soll, wurde vorübergehend unter den Teppich gekehrt. Zu weit gehen die Ansichten auseinander. Der IWF beteiligt sich an den Krediten für Griechenland nur, wenn es einen Schuldenschnitt und ein Verbleib im Euro-Raum gibt. Der ehemalige Finanzminister Wolfgang Schäuble lehnte das immer wieder ab, um das griechische Desaster in seinem Haushalt nicht wirksam werden zu lassen. Er wollte damit verhindern, dass dies vor der Wahl zum Thema wird und vertagte es auf das kommende Jahr. So wurde bislang immer agiert. Immer sollte Zeit gewonnen werden. Jetzt ist er nicht mehr Finanzminister und kann das Problem anderen überlassen.

Doch nach sieben schlechten Jahren sind sieben gute Jahre immer noch nicht in Sicht. Griechenland darbt ökonomisch und politisch weiter vor sich hin. Der griechische Staat hat heute 325 Milliarden Euro Schulden, das ist mehr als vor 7 Jahren, als das Elend so abrupt öffentlich wurde. Heute ist die Industrieproduktion auf dem Niveau der späten 1970er Jahre. Seit 2008 hat Griechenland 45 Prozent seines Bruttoinlandsproduktes eingebüßt. Die in regelmäßigen Abständen immer wieder veröffentlichen positiven Wasserstandsmeldungen aus Griechenland sind nicht wirklich ernst zu nehmen. Wie kaputt die Wirtschaft ist, zeigt die Summe der notleidenden Kredite in den Büchern der Banken: 42,7 Prozent der Immobilienkredite sind faul. 53,6 Prozent der Konsumentenkredite und 44,4 Prozent der Unternehmenskredite sind mehr als 90 Tage im Zahlungsverzug. Zwar ist der Schuldenstand im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung inzwischen auf schwindelerregende 180 Prozent gestiegen, doch die Tragfähigkeit ist nicht mehr so sehr das Problem. Die Sozialisierung der griechischen Schulden im Euroraum hat dazu geführt, dass die durchschnittliche Zinsbelastung der Hellenischen Republik bei unter 2 Prozentpunkten (!) liegt. Viel geringer ist die Zinsbelastung Deutschlands auch nicht, sie liegt aktuell bei 1,5 Prozentpunkten.

Wenn die Pläne der Eurofinanzminister und auch des IWF so aussehen, dass die durchschnittliche Laufzeit der griechischen Schulden von 20 auf 40 oder 50 Jahre verlängert wird, dann mag das dem griechischen Ministerpräsidenten Tsipras gefallen, weil er dann seine Militärausgaben weiter hochhalten und sogar steigern kann. Damit entspricht er zwar den Forderungen des amerikanischen Präsidenten, aber die Probleme Griechenlands sind dadurch längst nicht gelöst. Griechenland gibt 2,5 Prozent seines BIPs fürs Militär aus. Das ist mehr als Frankreich (2,3 Prozent) und mehr als Deutschland (1,2 Prozent). Und auch absolut gibt Griechenland wieder mehr Geld für die Verteidigung aus. Waren es 2013 noch 2,36 Milliarden Euro, so waren es 2016 bereits 2,55 Milliarden Euro. Griechenland schafft es nicht im Euro, das muss inzwischen allen klar sein. Man könnte beide Augen zudrücken, wenn diese Mentalität des Durchwurstelns sich nicht auf andere Eurostaaten übertragen würde und es nicht erhebliche Kollateralschäden für die Sparer in unserem Land mit sich bringen würde. Eine weitere Hängepartei ist weder Griechenland noch dem Steuerzahler zuzumuten. Deshalb muss jetzt der Grexit eingeleitet werden, um das Land außerhalb des Euro, aber in der EU zu entschulden. Griechenland braucht eine Chance für einen Neustart. Diese Chance wäre echte europäische Solidarität!

Griechenland sollte auch ein mahnendes Beispiel dafür sein, dass die Kollektivierung von Risiken in der EU die Probleme allenfalls hinausschiebt, aber nicht löst. Auch ein Eurozonenbudget, das Geld über Auflagen verteilt, wäre nach demselben Muster gestrickt, das gerade in Griechenland gescheitert ist. Und die Kollektivierung der Einlagensicherung, sei es heute, morgen oder übermorgen, würde das Problem des Bankensektors in Südeuropa nicht lösen, sondern Sparer in Deutschland für die Schieflagen von Banken in Griechenland oder Italien heranziehen.

Damit wird das Vertrauen in die EU und ihre Institutionen nicht gestärkt, sondern geschwächt. Wer die Euro-Schuldenkrise lösen will, muss Risiko und Haftung wieder zusammenführen. Nur so kann Verantwortung für eigenes Handeln entstehen und der Zins als Risikoindikator wieder seine wichtige Wirkung in der Marktwirtschaft entfalten. Eine neue Bundesregierung hat hier die Möglichkeit, endlich einen neuen Kurs einzuschlagen. Die Politik seit Ausbruch der Krise hat Europa nicht einer Lösung nähergebracht, sondern die Probleme nur noch zementiert, indem sie mit billigem Geld zugeschüttet wurden. Vielleicht gelingt es der neuen Regierung, diese defensive Strategie zu ersetzen durch eine mutige und nach vorwärts schauende, durch eine, die die Fundamente der Europäischen Einigung wieder ernstnimmt: Rechtsstaat, Marktwirtschaft und Eigenverantwortung. Das wäre besser für Griechenland, für Europa und für die Bürger unseres Landes.

Erstmals erschienen auf Tichys Einblick.

Photo: PublicDomainPictures from pixabay (CC0)

Selbstbewusst läutete gestern EZB-Chef Mario Draghi die letzte Phase seiner Präsidentschaft ein, die im November 2019 endet: „Es läuft gut, seit 17 Quartalen herrscht Wachstum“. Im Euroraum seien in den letzten 4 Jahren 7 Millionen neue Arbeitsplätze entstanden. Die Investitionen legen zu und das verfügbare Einkommen steige. Lediglich die Inflationsrate verharre in diesem Jahr bei 1,5 Prozent und steige im nächsten Jahr nur auf 1,6 Prozent. Die EZB sei daher von ihrem Inflationsziel von 2 Prozent noch weit entfernt.

Jetzt kündigt Mario Draghi an, das monatliche Schuldenaufkaufprogramm der EZB ab Januar von 60 auf 30 Milliarden Euro zu reduzieren. Fast könnte man meinen, die Normalität sei wieder erreicht. Doch nichts ist irriger. In einer Skala von 1 bis 10, von Normalität bis Ausnahmezustand, befindet sich der geldpolitische Kurs der EZB nicht mehr bei 9,5, sondern jetzt bei 9,4.

Bis Ende September werden die Notenbanken im Euroraum Schulden von Staaten, Banken und Unternehmen in der Größenordnung von 2.550 Milliarden Euro gekauft haben. Laufen diese Anleihen aus, dann werden in der gleichen Höhe neue gekauft, um die aus dem Nichts geschaffene Zentralbankgeldmenge nicht wieder unter die Schallmauer von 4.500 Milliarden Euro fallen zu lassen. Innerhalb von 10 Jahren stieg die von der Zentralbank selbst geschaffene Geldmenge um 450 Prozent. 2011 sagte mir ein Zentralbanker der EZB bei einer Diskussionsveranstaltung in Erfurt, es sei technisch gar kein Problem, die gestiegene Zentralbankgeldmenge wieder einzusammeln. Damals lag die EZB-Bilanzsumme noch bei 2.000 Milliarden Euro. Meine Antwort war damals, dass dies technisch sicherlich möglich sei. Die EZB müsse dafür nur Wertpapiere und Anleihen verkaufen und dieses zurückfließende Geld nicht wieder reinvestieren, doch politisch käme die EZB aus ihrer selbstgeschaufelten Grube nicht mehr heraus. Sie muss wie im Hamsterrad immer weitermachen.

6 Jahre später kann man sich das Ergebnis anschauen. Die EZB-Bilanz und damit die Zentralbankgeldmenge steigt weiter, nur nicht mehr so stark. Zusätzlich können sich die Banken weiter bis mindestens 2019 gegen Sicherheiten unbegrenzt Geld bei der EZB leihen. Zu hinterlegende Sicherheiten gibt es durch die Neuverschuldung der Euro-Staaten genug. Doch die Qualität der Sicherheiten wird immer schlechter. Denn wenn die Verschuldung im Euro-Raum auf über 90 Prozent der Wirtschaftsleistung gestiegen ist, Italien noch nie so hoch verschuldet war wie derzeit, dann hat die Qualität der Anleihen zwangsläufig gelitten. Viele Marktbeobachter meinen, im Oktober sei dann aber endlich Schluss mit dem Anleihenankauf, weil die EZB ihrer rechtliche Obergrenze von 33 Prozent aller am Markt ausstehenden Anleihen nahekommt. Doch auch dafür wird die EZB eine Lösung finden.

Gleichzeitig kostet das alles etwas. Es kostet die Anlegerseite ihr Vermögen in Lebensversicherung, Bausparverträgen und Festgeldern. Die DZ Bank hat vor einigen Monaten ausgerechnet, welchen Zinsverlust Anleger gegenüber normalen Zeiten inzwischen eingebüßt haben. Zwischen 2010 und 2016 waren dies in Deutschland 340 Milliarden Euro.

In diesem Umfeld kündigte Draghi gestern in der Pressekonferenz an, dass die Zinsen weit über den Zeitpunkt Ende September 2018 hinaus niedrig bleiben werden, da er auch 2019 lediglich mit einer Inflationsrate von 1,5 Prozent rechne. Die Enteignung des Sparvermögens geht also unvermindert weiter.

Die Politik der EZB ist in vielen Fragen jedoch nicht konsistent. Zwar hat die EZB das Problem der faulen Kredite in den Bankbilanzen endlich erkannt und neue Regeln aufgestellt, die die Banken zwingen sollen, neue faule Kredite schneller abzuwickeln. Doch gerade das ist teuer und geht zulasten des Eigenkapitals der Banken. Wollen sie mehr Kredite vergeben, was in den Augen der EZB notwendig ist, damit Investitionen und Wachstum entstehen, dann müssen sie ihr Eigenkapital eigentlich schonen. Bei fast 1.000 Milliarden alter fauler Kredite in Europa und über 365 Milliarden Euro (2016) alleine in Italien hängt dieses Problem eh wie ein Damoklesschwert über der fragilen Konjunktur im Euro-Club. Auch deshalb will die EZB das Problem auf die Staatengemeinschaft zurückverlagern. Sie unterstützt die Vollendung der Bankenunion. Auch ein „Backstop“ des Bankenabwicklungsfonds auf die Mittel des ESM gehört dazu. Wenn alle Banken irgendwann mal einen Topf mit 55 Milliarden Euro gefüllt haben sollten, dann wird dieser längst nicht ausreichen, um eine mittlere oder größere Bank tatsächlich abzuwickeln. Daher kommen die Geldingenieure auf die Idee, den Rückgriff auf die vollen Kassen des ESM zu nehmen.

Dazu gehört auch die Idee, den Bankrun durch eine europäische Einlagensicherung zu verhindern. Glaubt der italienische Sparer, dass im Zweifel die deutsche Einlagensicherung für sein Sparvermögen eintritt, hebt er vielleicht nicht sein ganzes Geld ab und legt es unter das Kopfkissen. Das ist die Hoffnung, doch schon an diesem Versuch sieht man, von Normalität ist die EZB und der Euro Lichtjahre entfernt.

Letztlich soll der Geldsozialismus durch eine Zwangsversicherung für alle Sparer im Euro-Club gerettet werden. Doch was ist, wenn das alles die Eurozone nicht beruhigt? Dann werden unbeteiligte Sparer und Steuerzahler in Deutschland und anderswo immer stärker in die kollektive Haftung hineingezogen.

Photo: Mehr Demokratie from Flickr (CC BY-SA 2.0)

Von Dr. Alexander Fink, Universität Leipzig, Senior Fellow des IREF – Institute for Research in Economic and Fiscal Issues und Kalle Kappner, Promotionsstudent an der Humboldt-Universität zu Berlin, Research Fellow bei IREF, Fackelträger von Prometheus.

In den meisten marktwirtschaftlichen Demokratien fallen Politiker nicht durch ein hohes Maß an korruptem Verhalten auf. Doch die beobachtbare und unsanktionierte Missachtung zuvor verabschiedeter Regelwerke durch Regierungsverantwortliche von EU- und Euro-Ländern in der jüngsten Vergangenheit könnte der Kooperationsbereitschaft in diesen Ländern langfristig abträglich sein.

Die marktwirtschaftlichen Demokratien des Westens genießen heute ein historisch beispielloses Ausmaß an Wohlstand und Frieden. Dieser Erfolg beruht maßgeblich darauf, dass viele der dort lebenden Menschen einige grundlegende Regeln des gesellschaftlichen Umgangs respektieren. Manche dieser Regeln sind strafrechtlich kodifiziert, etwa die Achtung vor dem Leben und Eigentum anderer Menschen. Andere sind ungeschrieben, etwa der Verzicht darauf, sich über den politischen Prozess individuelle Vorteile zulasten anderer anzueignen.

Dieser wünschenswerte Zustand ist nicht nur wirkungsvollen Sanktionen zu verdanken, sondern auch der Internalisierung von Normen. Unabhängig von drohenden externen Sanktionen wollen viele Menschen in vielen Situationen das Richtige tun. Studien legen allerdings nahe, dass Kooperationsnormen erodieren können, wenn gesellschaftlich einflussreiche Vorbilder vermehrt durch Missachtung von Regeln auffallen und dafür nicht sanktioniert werden – sei es in strafrechtlich relevanter Weise oder nicht.

Den Staat repräsentierende Politiker gehören zu den kritischen Vorbildern und nehmen somit Einfluss auf die Aufrechterhaltung von Kooperationsnormen. In den meisten marktwirtschaftlichen Demokratien fallen Politiker nicht durch ein hohes Maß an korruptem oder strafrechtlich relevantem Verhalten auf. Doch die beobachtbare und unsanktionierte Missachtung zuvor verabschiedeter Regelwerke durch Regierungsverantwortliche von EU- und Euro-Ländern in der jüngsten Vergangenheit – etwa der Maastricht-Kriterien, der Nicht-Beistandsklausel und des Dubliner Übereinkommens – könnte der Kooperationsbereitschaft in diesen Ländern langfristig abträglich sein.

Erfolgreiche und weniger erfolgreiche Gesellschaften

Gesellschaften, in denen kooperationsfördernde Regeln und Normen respektiert werden, schaffen Positivsummensituationen, reduzieren Unsicherheit in Interaktionen und bauen wertvolles Sozialkapital auf. Werden solche Regeln dagegen systematisch verletzt, verarmen Gesellschaften, werden instabil und ungerecht. Ihr öffentliches Leben ist durch Korruption, Gewalt und politische Vorteilsnahme geprägt.

Kooperationsfördernde Gesellschaften unterscheiden sich von kooperationsfeindlichen Gesellschaften in zwei maßgeblichen Punkten: Zum einen kommen Regeln der Strafverfolgungsbehörden ohne Ansehen der Person zur Anwendung. Respektspersonen und politisch Mächtige werden für Regelbrüche im selben Maße sanktioniert wie andere Menschen. In kooperationsfeindlichen Gesellschaften werden strafrechtliche Sanktionen dagegen selektiv angewandt und die politische Macht dient als Mittel, sich ungestraft über Regeln hinweg setzen zu können.

Verlässliche staatliche Sanktionen allein können den hohen Grad der Kooperation in erfolgreichen Gesellschaften jedoch nicht erklären. Die Durchsetzung kooperationsfördernder Regeln ausschließlich durch den Staat wäre schlicht zu aufwendig. Menschen in kooperationsfreudigen Gesellschaften profitieren von der ebenfalls ohne Ansehen der Person erfolgenden Achtung der ungeschriebenen Regeln des harmonischen Miteinanders – gegenüber Fremden ebenso wie gegenüber der Familie und Freunden. Auch in Gesellschaften, deren öffentliches Leben durch Korruption, Gewalt und politische Vorteilsnahme geprägt ist, strukturieren ungeschriebene Regeln des harmonischen Zusammenlebens die Interaktionen von vertrauten Personen. Aber im Umgang mit Fremden werden sie nicht beachtet. Enormes Kooperationspotential bleibt so ungenutzt.

 

 

Sozialisation verstärkt Kooperationsnormen

Experimente und Alltagserfahrung bestätigen, dass internalisierte Normen viele Menschen zu regelkonformem Verhalten anleiten, selbst wenn sie keinerlei Sanktionen oder Reputationsverluste zu befürchten haben: Sie geben zu hoch herausgegebenes Wechselgeld im Restaurant zurück, berichten im Labor unbeobachtet Würfelergebnisse wahrheitsgemäß und zahlen für entnommene Snacks, obwohl sie niemand beim Diebstahl beobachten kann.

Darüber hinaus gibt es Hinweise darauf, dass das Umfeld, in dem Menschen sozialisiert werden, einen entscheidenden Einfluss auf das Ausmaß und den Charakter der internalisierten Normen hat. Menschen, die in kooperationsfreudigen Gesellschaften aufwachsen, internalisieren die Regeln harmonischen Zusammenlebens und befolgen diese selbst dann, wenn keine Sanktionen drohen. Menschen, die in Gesellschaften aufwachsen, die durch verbreitete Regelbrüche charakterisiert sind, internalisieren dagegen Normen, welche das harmonische Zusammenleben behindern – das heißt, sie sehen Korruption, politische Vorteilsnahme und Gewalt eher als legitime Mittel an.

Ein fragiles Gleichgewicht

Dass das Aufwachsen in kooperationsfreudigen Gesellschaften zur Internalisierung von kooperationsfördernden Normen führt, bedeutet allerdings nicht, dass diese Normen nicht erodieren können. Experimente zeigen, dass Menschen ihre Kooperationsbereitschaft reduzieren, wenn sie sehen, dass andere Menschen in ihrem Umfeld selbiges tun. Beginnen manche Menschen – aus welchen Gründen auch immer – sich regelverletzend zu verhalten, kann das einen Kaskadeneffekt auslösen und zu einem neuen gesellschaftlichen Gleichgewicht führen, in dem die Regeln harmonischen Zusammenlebens nicht mehr befolgt werden.

Besonders kritisch ist das Verhalten von Vorbildern. Ihr Verhalten kann maßgebliche Auswirkungen wiederum auf das Verhalten anderer Menschen haben. Setzen sich Vorbilder über Regeln hinweg, ohne Sanktionen fürchten zu müssen, kann die Kooperationsbereitschaft aller Gesellschaftsmitglieder untergraben werden. Diese Vorbilder können familiäre oder gesellschaftliche Autoritäten, erfolgreiche Geschäftsleute und Politiker sein.

Schlechte Vorbilder: Politiker mit schwachem Regelbewusstsein

Politiker in westlichen Gesellschaften sind nicht sonderlich korrupt und fallen nicht durch überdurchschnittlich häufiges strafrechtlich relevantes Verhalten auf – ihnen drohen die gleichen Sanktionen wie anderen Gesellschaftsmitgliedern. Doch es verfestigt sich der Eindruck, dass sich Politiker häufig über die von ihnen selbst auf supranationaler Ebene gesetzten Regeln hinwegsetzen.

Nach Beginn der Finanzkrise leisteten einige EU-Staaten, darunter Deutschland, Hilfszahlungen an andere Mitgliedsstaaten – trotz der Nicht-Beistandsklausel, die eine gemeinsame Haftung für nationale Staatsschulden in der EU ausschließt. Die Maastricht-Kriterien – einst als maßgebliche Grundlage der europäischen Gemeinschaft etabliert – haben nach zahlreichen folgenlosen Verstößen ihre Glaubwürdigkeit eingebüßt. Das Dubliner Übereinkommen zur Zuständigkeit für Asylanträge wird zwei Jahre nach Einsetzen der Flüchtlingskrise trotz formaler Geltung de facto nicht mehr beachtet.

Sanktionsmöglichkeiten sind beschränkt

Grundlos werden Regelwerke nicht missachtet – kurzfristig mag das Vorgehen Vorteile bringen, indem schmerzvolle Insolvenzen abgewendet, unpopulärer Schuldenabbau aufgeschoben oder wenig wünschenswerte Pressebilder vermieden werden. Doch langfristig begünstigt die Missachtung bestehender Regeln nicht nur die Verschleppung notwendiger Reformen, sondern untergräbt möglicherweise die Kooperationsbereitschaft der Menschen, welche beobachten, dass Politiker auf höchster Ebene die Anwendung gar niedergeschriebener Regeln aussetzen.

Weshalb werden regelmissachtende Politiker nicht stärker sanktioniert? Ein Grund liegt darin, dass viele Menschen bereit sind, die Willkür von Politikern zu tolerieren, solange sie mit den verfolgten Zielen einverstanden sind. Doch selbst, wenn Wähler das Verhalten ihrer Vertreter nicht goutieren, sind ihre Möglichkeiten beschränkt: Eine Wahl alle vier oder fünf Jahre, bei der zwischen einer Handvoll Kandidaten ausgewählt wird, liefert keine Möglichkeit gezielt zu sanktionieren. Das unterscheidet Politiker beispielsweise von Geschäftsleuten, die nach Vertragsbrüchen entweder strafrechtlich belangt oder von potenziellen Geschäftspartnern gemieden werden und so einen starken Anreiz haben, geschriebene und ungeschriebene Regeln zu achten.

Langfristige Kosten ernst nehmen

Die langfristigen Kosten der Regelmissachtung durch Politiker werden möglicherweise deutlich unterschätzt. Die mit ihnen einhergehende Konsequenzen in Form von Regime-Unsicherheit und der Verschleppung von Reformen werden regelmäßig diskutiert. Wenig Aufmerksamkeit erhielten bisher jedoch die potentiellen langfristigen negativen Auswirkungen auf die Kooperationsbereitschaft aller Gesellschaftsmitglieder.

So sehr Menschen in erfolgreichen Gesellschaften massiv von freiwilliger Kooperation profitieren, so sehr können sie leiden, wenn ihre Kooperationsbereitschaft abnimmt. Derartige mögliche langfristige Folgen verdienen mehr Aufmerksamkeit durch die Wähler, weil sie das Potential haben, die Grundfesten erfolgreicher Gesellschaften zu erodieren. Nur wenn sich die Wähler dieser möglichen Konsequenzen bewusst sind, haben Politiker einen starken Anreiz, Regeln auch dann zu befolgen, wenn ihrer Ansicht nach hehre Ziele einen Regelbruch rechtfertigen könnten.

Erstmals erschienen bei IREF.

Photo: Marco Verch from Flickr (CC BY 2.0)

Sieben italienische Wissenschaftler, darunter auch der ehemalige Finanz- und Wirtschaftsminister Fabrizio Saccomanni, haben in dieser Woche in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung auf einen gemeinsamen Vorschlag von französischen und deutschen Ökonomen an gleicher Stelle reagiert, und vor deren Vorschlägen zur Weiterentwicklung der Euro-Zone gewarnt. Letztere plädierten in ihrem Artikel dafür, dass Deutschland mehr Risikoteilung zulassen solle und Frankreich mehr Marktdisziplin. Konkret plädierten die französisch-deutschen Schreiber für eine gemeinsame Einlagensicherung für Sparvermögen in der EU und gleichzeitig für eine Risikogewichtung der Banken beim Kauf von Staatsanleihen. Derzeit fehle es an einem gemeinsamen Kapitalmarkt, und die Risiken in der Eurozone würden auf die jeweiligen Staaten und die EZB verteilt.

Die Einlagensicherung sieht vor, dass Spareinlagen mit 100.000 Euro bei der jeweiligen Bank versichert sind, egal ob in Flensburg, Siena oder Athen. Die Frage ist: Wer trägt das Risiko einer Bankenschieflage im jeweiligen Land? Ist es die Sicherungseinrichtung in Spanien, Italien oder Griechenland? Oder ist in einem gemeinsamen Währungsraum eine gemeinsame Einlagensicherung dafür verantwortlich, also auch die Einlagensicherungseinrichtungen von Sparkassen und Volksbanken in Deutschland? Um dieses Frage geht es. Die EU-Kommission hat dafür in dieser Woche einen Kompromiss vorgeschlagen, der zu Beginn eine Art Rückversicherung vorsieht. Erstmal sollen die nationalen Einlagensicherungssysteme greifen. Haben diese kein Geld mehr, können sie sich von anderen Einlagensicherungssystemen Geld leihen. Erst langfristig sollen die Einlagensicherungssysteme zu einem einheitlichen System verschmolzen werden.

Bei der Nullgewichtung von Staatsanleihen doktert die Politik schon lange herum. Letztlich geht es darum, ob aufsichtsrechtlich eine griechische Staatsanleihe ebenso sicher ist wie eine deutsche. Das ist in der Realität natürlich nicht so, doch das ficht die Bankenaufsicht nicht an. Während Kredite an den Mittelstand mit 20 Prozent Eigenkapital von der Bank unterlegt werden müssen, kann eine Bank Staatsanleihen von Griechenland, Portugal oder Zypern ohne Eigenkapital in ihre Bücher nehmen.

Viele europäische Regierungen, aber auch die italienischen Autoren des FAZ-Artikels, wehren sich gegen eine Risikogewichtung. Sie vertreten die Ansicht, dass dann die folgenden Zinsunterschiede sofort wieder eine neue Krise heraufbeschwören würden. Die Gefahr ist durchaus nicht von der Hand zu weisen. Denn die öffentliche Verschuldung in Europa ist in den letzten Jahren massiv auf über 90 Prozent der Wirtschaftskraft angestiegen.

Würden die Zinsunterschiede zwischen Italien und Deutschland wieder ansteigen, dann wäre die italienische Verschuldung nicht mehr so einfach, vielleicht gar nicht mehr zu finanzieren. Italiens Staatsschulden erklimmen Monat für Monat einen neuen Höchststand. Er liegt derzeit bei 2.300 Milliarden Euro, im Verhältnis zur Wirtschaftskraft bei 134,5 Prozent (Juli 2017). Während die Verschuldung steigt, sinken die dafür zu zahlenden Zinsen enorm. In den 1980-Jahren betrugen die Renditen 10-jährigern Italienischer Staatsanleihen über 16 Prozent. Mit der Einführung des Euro sank die Rendite auf 6 Prozent und fiel dann auf 4 Prozent. Mit der Eurokrise stieg das Risiko wieder auf bis zu 7 Prozent. Erst mit der Intervention der EZB trat eine Beruhigung ein. Heute rentiert die italienische Anleihe mit 2 Prozent. Diesen Zustand will Italien möglichst lange konservieren.

Die italienischen Autoren, aber auch die deutsch-französischen Ökonomen in abgeschwächter Form, wollen das tragende Prinzip der Marktwirtschaft von Risiko und Haftung auseinanderfallen lassen. Wer die Einlagensicherung vereinheitlicht, sei es heute, morgen oder übermorgen, sorgt dafür, dass finnische, deutsche und niederländische Sparer für Schieflagen spanischer, griechischer oder italienischer Banken haften müssen, obwohl sie als Bürger weder auf die dortige Regierungspolitik noch auf die Geschäftspolitik der dortigen Banken irgendeinen Einfluss haben.

Vielleicht wäre es an dieser Stelle viel besser, das Absicherungsniveau in der Europäischen Richtlinie abzusenken. Denn haben Sparer mehrere Konten bei mehreren Banken, dann hängen sie über diesen Weg sehr leicht mit mehreren hunderttausend Euro mit drin. Muss dieses Risiko über eine staatlich festgelegte Versicherung in der ganzen Europäischen Union abgesichert werden? Wer das will, kann das gerne national oder in der jeweiligen Bank selbst tun. Die Sparkassen und Volksbanken in Deutschland kennen die sogenannte Institutssicherung. Sie retten sich gegenseitig und schützen damit die Spareinlagen ihrer Einleger faktisch unbegrenzt. Ihre Dachorganisationen überwachen die Institute, damit es zu keiner Schieflage kommt. Die Beiträge für die Institutssicherung richten sich nach dem Risiko der Bank. Wer weniger solide wirtschaftet, zahlt mehr und umgekehrt.

Risiko und Haftung fallen erst recht bei der Nullgewichtung der Staatsanleihen auseinander.  Ein Wechsel zu einem risikogewichteten Modell ist nicht einfach, aber mit Übergangsfristen möglich und notwendig. Ansonsten finanziert die EZB die Freibiermentalität der Euro-Staaten immer weiter. Doch irgendwann ist auch die Zeit des free lunch vorbei und die Realität kehr wieder ein. Wie groß der Kater danach ist, hängt davon ab, wie lange der Rausch angehalten hat. Europa muss mehr Marktwirtschaft wagen – nicht weniger.