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Photo: galio from Flickr (CC BY-SA 2.0)

Wer meint, der Sozialismus sei mit dem Tod von Fidel Castro endgültig untergegangen, dem muss man vehement widersprechen. Der Sozialismus lebt. Er lebt in einer neuen Spielart. Er blüht und gedeiht und verdrängt den Kapitalismus und seine Wirtschaftsordnung, die Marktwirtschaft, zunehmend. Nicht durch einen tiefen Einschnitt, wie es der Fall der Mauer für den DDR-Sozialismus war. Nein, der Sozialismus kommt auf Samtpfoten daher, schleichend und aus vielen unterschiedlichen Ecken. Die Saat, die Castro, Che Guevara und andere „Revolutionäre“ in den 1960er und 1970er Jahre in die Köpfe Millionen junger Menschen der westlichen Welt eingepflanzt haben, ist längst aufgegangen.

Vielleicht hat die neue Variante des Sozialismus sogar eine gesellschaftliche Akzeptanz. Heute traut die Mehrheit dem Einzelnen nicht zu oder will ihm nicht zugestehen, selbst über sein Schicksal oder sein Lebensglück zu bestimmen. Es gilt als modern, wenn der Staat nicht nur den Menschen in Existenznot hilft, sondern auch denjenigen, die sich bislang selbst geholfen haben. „Vätermonate“ oder „verpflichtende Kindergartenjahre“ zeigen das. Der Staat übernimmt einen Erziehungsauftrag, den bis dahin die Eltern gegenüber ihren Kindern wahrgenommen haben. Der Staat wird so zum Übervater mit Mutti als Kanzlerin.

Es ist eine Art Scheinmoderne, die uns hier vorgespielt wird. Nicht mehr die kleinste Einheit in der Gesellschaft, der Einzelne oder die Familie, werden vor den Übergriffen der Mehrheit geschützt, sondern unter dem Duktus einer Demokratisierung in allen Lebensbereichen werden die Rechte des Einzelnen immer mehr zurückgedrängt und einer politischen Mehrheitsentscheidung unterworfen.

Diese Entwicklung umfasst nicht nur den engsten Bereich der Familie, sondern hat längst auch die Wirtschaft erreicht. Auch hier wird der einzelne Unternehmer durch politische Mehrheiten im Parlament zum vermeintlichen Glück gezwungen. Auch hier findet letztlich ein Eingriff in die Privatautonomie und das Eigentum statt. Beide werden waidwund geschossen. Wenn Sigmar Gabriel die Übernahme eines heimischen Technologieunternehmens an einen chinesischen Investor verhindern kann und dabei ist, ein Gesetz zur Investitionsprüfung vorzubereiten, das Übernahmen ausländischer Investoren an deutschen Unternehmen unter Zustimmungsvorbehalt der Regierung stellt, ja dann verkommt das Eigentum nur noch zu einer leeren Hülle. Auch auf Kuba gibt es formal noch privates Eigentum.

Gabriels Agieren ist Teil einer Entwicklung, die die Wirtschaft, ihre Verbände und die Gewerkschaften längst erreicht hat. Eine „Verkumpelung“ der Akteure ist die Folge. Zwar sind nur noch etwa zwanzig Prozent der Arbeitnehmer Gewerkschaftsmitglieder, dennoch wird die Kungelei der Gewerkschaftsfunktionäre mit den Arbeitgeberverbänden zum Maßstab für alle Arbeitnehmer gemacht. Unternehmer werden mit dem goldenen Zügel in die Tarifbindung gezwungen, um die Existenz der Gewerkschaften trotz schwindender Akzeptanz zu sichern.

Wer sich brav dem Tarifvertrag unterwirft, wird durch Regelungen in der Zeitarbeit, bei der betrieblichen Altersvorsorge oder beim Lohngleichheitsgesetz großzügig belohnt. Den Mindestlohn handeln längst nicht mehr einzelne Unternehmer und Arbeitnehmer aus, sondern die BDA und Gewerkschaften schlagen ihn der Regierung vor. Mehr Korporatismus geht nicht.

Diese „Verkumpelung“ der großen Unternehmen mit den Gewerkschaften und der Regierung ist Kennzeichen dieser „neuen“ Wirtschaftspolitik. Sie passt zur großen Koalition, die Scheingefechte in der Öffentlichkeit führt, in Wirklichkeit sich aber in allen großen Fragen einig ist. Der schleichende Verfassungsbruch ist nicht ohne. Die „negative Koalitionsfreiheit“ ist von unserem Grundgesetz ebenso geschützt wie das Recht, sich als Arbeitgeber oder Arbeitnehmer aktiv zusammenzuschließen. Sich nicht in das Tarifkartell zu begeben, darf daher nicht diskriminiert werden. Mit Marktwirtschaft hat diese Kungelwirtschaft nur noch am Rande zu tun. Im 19. Jahrhundert nannte man diese Wirtschaftsform „Kathedersozialismus“. Sie war der Wegbereiter der verheerenden Sozialismen des 20. Jahrhunderts.

Die Ablehnung dieses Dirigismus und Korporatismus liegt auch dem Konzept der Sozialen Marktwirtschaft zugrunde. Der erste Wirtschaftsminister Ludwig Erhard sah in jeder korporativen Lenkung der Wirtschaft eine Einschränkung der Grundfreiheiten und eine Aushöhlung des Rechts auf freie Entfaltung. Er lehnte also diese Eingriffe prinzipiell ab. Sein Credo war: „Es gibt nur eine gerechte Verteilung und das ist die, die durch die Funktion des Marktes erreicht wird. Der Markt ist der einzig gerechte demokratische Richter, den es überhaupt in der modernen Wirtschaft gibt.“

Erstmals erschienen in Tichys Einblick.

Photo: DIE LINKE. Landesverband Baden-Württemberg from flickr.com (CC BY-ND 2.0)

Seit einiger Zeit treffen Wähler unerwartete, unkonventionelle und für manch einen unbequeme Entscheidungen. Politiker und Journalisten analysieren eine Vertrauenskrise des Establishments. Ist eine Ursache dieser Vertrauenskrise womöglich das mangelnde Vertrauen der Politiker in ihre Bürger?

Leben wir in einer Diktatur?

Die Politik ist in Verschiss – selbst bei den Bürgern, die nicht sofort mit Vorwürfen wie Lüge oder Betrug operieren. Die Einschätzung, dass sich der Abstand zwischen Politikern und Normalbürgern immer mehr vergrößert, wird inzwischen von vielen dieser Politiker selbst geteilt und kommuniziert (in der Regel mit der Floskel, man müsse Politik nun besser erklären). Das aufkommende Misstrauen hat allerdings auch relativ wenig mit der gesunden Politik- und Staatsskepsis zu tun, die aufgeklärten Bürgern gut zu Gesichte steht. Es ist oft an der Grenze zum pauschalen Hass auf „die da oben“. Der zivilisierte Diskurs, der eine freiheitliche Demokratie und eine Offene Gesellschaft ausmacht, gerät dadurch zunehmend in die Defensive. Doch liegt das an der Verrohung der Bevölkerung? Oder spielt vielleicht die Politik eine wesentlich größere Rolle als die Rede vom „Wutbürger“ vermuten ließe?

In der Staatsform der Demokratie, wo der Bürger der Souverän ist, ist es von zentraler Bedeutung, dass Politiker den Bürgern – ihren Wählern! – vertrauen. Schwindet dieses Vertrauen, besteht nicht nur die Gefahr, dass die Bürger ihrerseits das Vertrauen entziehen. Es wird letztlich auch an den Grundfesten unseres Gemeinwesens gerüttelt – ist es doch Kennzeichen despotischer und autoritärer Herrschaft, dass ein Herrscher den Untertanen misstraut. Natürlich ist keine der westlichen Demokratien eine Tyrannei oder Diktatur. Mit Blick auf Länder wie Nordkorea, Syrien oder Venezuela sind solche Vergleiche mehr als zynisch. Doch mangelndes Vertrauen der politischen Verantwortlichen in die Bürger löst bei manchem jenes Gefühl der Hilflosigkeit und des Ausgeliefertseins aus, das auch der Untertan eines Gewaltherrschers empfindet. Drei Aspekte stehen exemplarisch für diesen Vertrauensverlust: die Terrorbekämpfung, die Eurokrise und der neue Paternalismus.

„Ein Teil dieser Antworten würde die Bevölkerung verunsichern.“

Deutschland ist erfreulicherweise eines der Länder, in dem Bürger am sensibelsten auf staatliche Überwachung reagieren, und in dem ein sehr waches Gespür für Fragen des Datenschutzes herrscht. Regierungen anderer Länder, wie etwa der USA oder Großbritanniens, sind da weniger zimperlich. Für die einen mögen Email- und Telefonüberwachung, unzählige Überwachungskameras und komplizierte Einreise-Formalitäten das Gefühl von Sicherheit hervorrufen. Viele aber fühlen sich als unbescholtene Bürger schikaniert und mitunter auch bedroht durch einen wachsenden Überwachungsstaat. Im Zweifel ist es, wie bei der NSA-Affäre, ja nicht einmal der eigene Staat, der das Privateste der Menschen durchschnüffelt. Wer liest unsere Daten? Wozu werden sie genutzt? Ist Terrorbekämpfung der einzige Grund für die Sammelwut?

Als 2010 die Eurokrise ausbrach, stand vor allem Beschwichtigung auf der Tagesordnung. Es bedurfte eines medialen Schwergewichts wie Hans-Werner Sinn, um die Risiken der Target-Salden aufzudecken. Haftungsmechanismen wurden verschleiert. Selbst viele Bundestagsabgeordnete waren ahnungslos, wieviel Geld wieder einmal für eine Rettung krisenbedrohter Staatshaushalte in der EU aufgewandt werden mussten. Und die Politik der EZB ist nicht nur für Laien kaum mehr nachvollziehbar. Während die verantwortlichen Politiker beschwichtigend behaupteten, sie hätten alles im Griff, wuchs unter den Bürgern das mulmige Gefühl, dass ihnen eine realistische Perspektive vorenthalten werde. Viele hatten damals schon den Eindruck, den Innenminister de Maizière im November 2015 mit seinem berühmten Diktum hervorrief: „Ein Teil dieser Antworten würde die Bevölkerung verunsichern.“

Eigenverantwortliche Bürger

Ein bereits länger anhaltender Trend des Misstrauens gegenüber der eigenen Bevölkerung findet sich in den mannigfaltigen Ausprägungen des Paternalismus. Immer mehr politische Maßnahmen werden ergriffen, um Bürger zum „verantwortlichen“ Konsum, zur „gesunden“ Ernährung oder zu „richtigen“ Entscheidungen hinzuführen. All diese Initiativen suggerieren, dass Politiker und Bürokraten den einfachen Bürgern an Wissen, Einsicht und eventuell auch moralischer Größe überlegen sind, was sie dazu prädestiniert, diese auf den rechten Weg zu weisen. Man hat nicht mehr das Gefühl, als selbstverantwortliches Individuum ernstgenommen zu werden. Die Botschaft, die durch den wachsenden Paternalismus bei vielen ankommt, lautet: „Wir vertrauen Dir eigentlich nicht …“

Unser freiheitlich-demokratisches Gemeinwesen wird gefährdet durch das mangelnde Vertrauen der Politik in den Bürger. Eine Kehrtwende in der politischen Kultur tut Not. Politiker können ihren Bürgern nicht nur bittere Wahrheiten zutrauen, sie müssen es auch – sie haben eine Rechenschaftspflicht gegenüber ihren Wählern. (In Frankreich erlebten wir vor kurzem bei der Wahl von François Fillon zum Präsidentschaftskandidaten der Republikaner, dass das funktionieren kann.) Unter Umständen gehört dazu auch bisweilen das Eingeständnis, selber nicht genau zu wissen, was die richtige Lösung ist. Alles ist besser, als sich in Nebel zu hüllen, um niemanden zu „verunsichern“. Die staatliche Überwachung muss immer wieder auf den Prüfstand und muss der Prämisse unterworfen sein, dass eine überwältigende Mehrheit der Menschen unbescholtene Bürger oder Gäste sind, deren Privatsphäre zu schützen zu den obersten Pflichten des Staates gehört.

Und schließlich müssen politische Entscheidungsträger wieder mehr Respekt vor den eigenverantwortlichen Entscheidungen ihrer Bürger haben. Ihre eigenen Ansichten darüber, was gut und richtig ist, dürfen nicht der Maßstab für politische Maßnahmen sein. Der Griff zur Zigarette, zum Schokoriegel oder zum Steak ist Teil der Privatsphäre der Menschen und zugleich Ausdruck ihrer eigenen Entscheidungsfähigkeit. Wer ihnen diese abspricht, sägt letztlich am eigenen Ast: denn in einer Demokratie ist diese Entscheidungsfähigkeit der Grund dafür, dass Politiker im Amt sind. Die Politik muss sich das Vertrauen der Bürger verdienen – der beste Weg dorthin besteht darin, wenn die Politik wieder den Bürgern vertraut. Es mag helfen, wenn sich Politiker wieder bewusstmachen, wer der Souverän ist.

Photo: Paxson Woelber from Flickr (CC BY 2.0)

Die Offene Gesellschaft lebt von Individuen, die für ihr Leben, Handeln, Reden und Denken Verantwortung übernehmen. Wenn ein Staat das seinen Bürgern abnimmt oder gar verbietet, gefährdet er die Grundlagen von Demokratie, Recht und Freiheit.

Der Dünkel der Meinungs-Hegemonie

In den letzten Tagen ist viel über die Gründe für die Wahl Donald Trumps zum 45. Präsidenten der Vereinigten Staaten nachgedacht worden. Eine Erklärung, die häufig vorgebracht wird, lautet, sie sei ein Protest gegen Establishment und Elite gewesen. Auch wenn die Nachwahlerhebungen eher darauf hindeuten, dass ökonomische Überlegungen ausschlaggebend waren, hat dieses Element doch eine große Rolle gespielt. Nicht zuletzt, weil Trumps Anti-Eliten-Rhetorik sein vielleicht wichtigstes Markenzeichen war. Der Riss, der auch unabhängig von Trump durch die amerikanische Gesellschaft geht, hat viel mit der Meinungs-Hegemonie linksliberaler, progressiver Kreise zu tun. Die Dominanz und Aggressivität, mit der Safe Spaces und Veggie-Days eingefordert werden, ruft Gegenreaktionen hervor, die nicht minder aggressiv sind. Verbissenheit, Humorlosigkeit und Dünkel können selbst berechtigte Anliegen nachhaltig zerstören.

Einer der zentralen Punkte an der Eliten-Kritik – nicht nur in den USA – besteht darin, dass viele Menschen das Gefühl haben, ihnen werde vorgegeben oder gar vorgeschrieben, was sie zu denken, zu sagen und zu tun hätten. Dabei handelt es sich wohlgemerkt um ein Gefühl. Auch vor hundert Jahren haben Knigge, Beichtvater oder Mutter sexistische Sprüche sanktioniert. Und ein homosexueller Vegetarier muss sich in der Kleinstadt im amerikanischen Mittwesten wohl ebenso häufig rechtfertigen wie ein konservativer Soldat an einer Westküsten-Universität. Aber dennoch hat dieses Gefühl durchaus auch einen sehr realen Kern. Denn wenn (egal von welcher Seite) argumentiert wird, die eigene Position sei nicht nur maßgeblich, sondern auch objektiv richtig und gut, dann führt das bei Andersdenkenden natürlich zu Empörung. Zu recht.

Wie die Linke ihre antiautoritären und emanzipatorischen Grundsätze verriet

Besonders problematisch wird es dann, wenn aus der Überzeugung, im Besitz der Wahrheit zu sein, entsprechende Maßnahmen folgen. Sozialer Druck, der sich in der argumentativen Auseinandersetzung und auch in Tabus äußert, wird von Konservativen, Linken und Liberalen als Mittel genutzt und ist trotz aller Übertreibungen grundsätzlich ein legitimes Mittel, die eigene Position voranzubringen. Illegitim ist es hingegen, das Argument durch die Vorschrift zu ersetzen. Das sollten gerade Linke deutlich sehen. Ein wesentlicher Bestandteil ihrer Ideengeschichte handelt von der Emanzipation. Frauen, Juden, Sklaven, Farbige, Homosexuelle – sie alle wurden unterdrückt durch einen Staat, der seine Zwangsmittel einsetzte, um damals vorherrschende Gesellschaftsvorstellungen durchzusetzen.

Wie so oft trifft hier wieder die scharfsinnige Beobachtung des englischen Historikers Lord Acton zu, dass Macht die Tendenz hat, zu korrumpieren. Denn die Vormachtstellung, die linke Kreise im intellektuellen Diskurs über die vergangenen Jahrzehnte gewonnen haben, hat auch ihren ursprünglichen antiautoritären und emanzipatorischen Ansatz korrumpiert. Anstatt ihre Diskurs-Hoheit weise, klug und bedächtig einzusetzen, um in der Gesellschaft gegen Vorurteile und Diskriminierung vorzugehen, säen sie selber Vorurteile und diskriminieren Menschen, die anderer Meinung sind als sie.

Freiraum und Vertrauen

Und nicht nur das: sie nutzen zunehmend dieselben Formen der Macht, die einst genutzt wurden, um reaktionäre Überzeugungen durchzusetzen. Waren früher persönliche Entscheidungen wie Ehescheidung verboten und Homosexualität strafbar, so sollen heute ebenso persönliche Entscheidungen auch mit Strafen belegt und mit Verboten gesteuert werden: mit den Mitteln des „sanften Paternalismus“; mit einer Besteuerung, die unser Konsumverhalten lenken soll; mit repressiven Maßnahmen gegen Andersdenkende in Schulen und Universitäten. Von missionarischem Eifer beseelt sehen sie sich als Wiedergänger der Philosophenkönige, von denen Platon schwärmte. An den Hebeln der Macht angekommen wollen sie endlich auch die anderen Menschen zu den Höhen der Erkenntnis und Moral führen, auf denen sie sich wähnen.

Die Gegenbewegung, die wir derzeit gegen diese Weltverbesserung mit Zwangsmitteln erleben, wird das Problem nicht beheben. Viel zu wirr und erratisch sind die Thesen der Kämpfer wider „Genderwahn“ und Political Correctness. Und oft genug richten sie sich auch gegen die Fundamente der Offenen Gesellschaft und des respektvollen Umgangs. Die Antwort, mit der vielleicht alle Seiten leben könnten, ist die Rückbesinnung auf die Selbstverantwortung. Das heißt: Jedem Menschen zuzutrauen, dass er sein eigenes Leben verantwortlich leben kann. Die Gründe zu respektieren, die Menschen für ihre Überzeugungen und Handlungen haben, auch wenn man sie persönlich ablehnt. Freiraum und Vertrauen sind nicht nur in der Kindererziehung fundamentale Prinzipien – sie sind grundsätzlich die angemessenen Mittel im Umgang miteinander.

Friedliche Koexistenz statt einer uniformen Gesellschaft

Der wesentliche Unterschied zwischen Konservativen und Linken einerseits und Liberalen andererseits besteht darin, dass erstere eine konkrete Vorstellung davon haben, was richtig und falsch ist und ihre eigenen Werte für andere verbindlich machen wollen. Dagegen will der Liberale die Gesellschaft nicht gestalten. Sein Ziel ist einzig der Ordnungsrahmen, innerhalb dessen jeder seine eigenen Überzeugungen leben kann. Er will ein System, das die friedliche Koexistenz verschiedenster Überzeugungen und Lebensentwürfe möglich ist. Er will kein „einig Volk von Brüdern“, sondern eine Ordnung gegenseitiger Toleranz. Er vertraut weder auf die Macht des Establishments, noch auf die Macht der Straße – er vertraut auf die Macht der besseren Idee, deren natürlicher Nährboden der Respekt vor dem anderen ist. Das brachte schon vor über 70 Jahren Ludwig von Mises in seinem Buch „Bürokratie“ auf den Punkt mit den Worten:

„Wer seine Landsleute bessern möchte, muss dabei auf Überzeugung zurückgreifen. Dies allein ist der demokratische Weg, Veränderungen zu erreichen. Wenn jemand bei dem Versuch scheitert, andere von der Richtigkeit seiner Ideen zu überzeugen, sollte er die Schuld dafür seiner eigenen Unfähigkeit geben. Er sollte kein Gesetz – mit anderen Worten: Zwang und Nötigung durch die Polizei – fordern.“

Photo: United States Mission Geneva from Flickr (CC BY-ND 2.0)

Mit dem Verdikt „undemokratisch“ wird der Schrecken von TTIP und CETA anschaulich an die Wand geworfen. Es ist verwunderlich, dass dieser Vorwurf verstummt, sobald es um Organisationen wie die OECD, die WHO oder gar die Klimakonferenzen geht, die zum Teil erheblich gravierendere Defizite aufweisen.

Technokratie schlägt Demokratie

Als Beweis für den undemokratischen Charakter der Freihandelsabkommen mit den USA und Kanada wird immer wieder auf Schiedsgerichte verwiesen, die „in Hinterzimmern“ und jenseits „demokratischer Kontrolle“ tagen und entscheiden würden. Wie sieht es eigentlich mit der demokratischen Legitimation und der Kontrolle durch die Öffentlichkeit aus bei anderen transnationalen Abkommen und Organisationen? Die Weltgesundheitsorganisation etwa macht in regelmäßigen Abständen Vorschläge, die weit über die Bekämpfung von AIDS, Polio und Teenage-Schwangerschaften hinausgehen und dennoch häufig ohne große Diskussion in nationales Recht übernommen werden.

Erst vor kurzem schlug sie vor, zuckerhaltige Produkte mit einer Steuer von mindestens (!) 20 Prozent zu versehen. Zucker und Salz, Fett, Alkohol und Tabak – all das steht auf der Abschussliste. Und mittlerweile gehen die Ideen auch weit über bloße Aufklärung und Prävention hinaus: vom Werbeverbot über Zusatzsteuern bis hin zu neutralen Zigarettenschachteln („plain packaging“ – es gibt auch bereits Forderungen, dieses Konzept auf Alkohol und „ungesundes“ Essen auszuweiten). Solche Vorschläge, die im Gewand technokratischer Neutralität, wenn nicht gar wissenschaftlicher Objektivität daherkommen, werden in vielen Ländern unbesehen übernommen. Demokratischer Kontrolle und vor allem öffentlicher Diskussion entziehen sich die Befürworter solcher Regelungen indem sie sich mit der Aura internationalen Expertentums umgeben.

Eine Spielwiese für Bürokraten und Lobbyisten

Dabei ist die WHO selber eine durch und durch undemokratische Organisation – und zwar noch viel deutlicher als das internationale Schiedsgerichte sein können. Während es sich bei Letzteren um Gremien handelt, die jeweils von Fall zu Fall einberufen werden, hängt an der WHO ein gigantischer bürokratischer Apparat mit 8500 Mitarbeitern. Eine „Kontrolle“ findet statt durch Delegierte, die von ihren jeweiligen Mitgliedsstaaten gesandt werden: also zum Beispiel aus Nordkorea, Russland, Zimbabwe und Venezuela. Und natürlich steht auch die Pharmaindustrie nicht tatenlos beiseite, sondern nutzt diese weltweite Organisation auch zur Lobbyarbeit für ihre eigenen Produkte und gegen Konkurrenten, gerade in den weniger entwickelten Ländern.

Die OECD, die ganz ähnliche Politikempfehlungen gibt, von PISA bis zur Aufweichung von Datenschutz im Zusammenhang mit „Steuerflucht“, ist ebenso wenig durchschaubar. Die Delegationen werden von den Regierungen entsandt und können in ihren eigenen Hinterzimmern auch mancherlei Agenda ersinnen, die dann rasch Verbindlichkeit erlangt. Diese und viele andere Organisationen und ständige Konferenzen sind in vielerlei Hinsicht der Kontrolle durch Parlamente und Öffentlichkeit entzogen, betreiben ihre eigene Agenda und sind Einflüssen ausgesetzt, die zumindest zweifelhaft sind: von Industrielobbyisten bis zu Vertretern von Diktaturen und Unrechtsregimen.

Je stärker Menschen betroffen sind, umso mehr sollten sie mitreden können

Allein, in die Kritik kommen sie nur selten. Und das liegt wahrscheinlich daran, dass sie zum Teil tatsächlich „für die gute Sache kämpfen“, sich aber insbesondere auch immer diesen Anstrich geben. Wer etwas gegen dicke Kinder, Raucherbeine und Steuerflucht tut, der muss ja auf der guten Seite der Macht stehen. Aber so einfach ist es nicht. Ganz unabhängig davon, was die tatsächlichen Motive dieser Akteure sein mögen – ihre Lösungen sind in der Regel weder zielführend noch gerecht. Strafsteuern und Verbote für alle Konsumenten, Einheitsstandards oder weltweit verbindliche Vorgaben sind der sicherste Weg in eine tatschlich ungerechte Welt, wo sich alle den Vorgaben einer Technokraten-Elite zu beugen haben.

Wie findet eigentlich demokratische Kontrolle statt? Sie hat viel damit zu tun, wie unmittelbar, allgemein und langfristig etwas ist. Je stärker Menschen betroffen sind, umso mehr sollten sie mitreden können. Wenn – Stichwort Schiedsgerichte – die Stadt Hamburg ihren Verpflichtungen gegenüber Vattenfall nicht nachkommt und sich daraufhin auf einen Vergleich einigt, dann haben wir keinen Mangel an demokratischer Kontrolle. Kontrolliert werden müssen und können Senat und Bürgerschaft, die für die Vertragsverletzungen zuständig sind. Es ist ein Kernelement der repräsentativen Demokratie, dass bestimmte Aufgaben wie etwa Vertragsabschlüsse an Abgeordnete und Exekutivorgane delegiert werden und die Kontrolle dann alle paar Jahre für die Gesamtbilanz durchgeführt wird.

Demokratiedefizit: von missionarischem Eifer beseelte Technokraten

Ganz anders verhält es sich bei politischen Maßnahmen, also da, wo nicht einzelne und konkrete Entscheidungen getroffen werden, sondern allgemeinverbindliche Regeln bestimmt werden. Während etwa im Fall von Vattenfall nur mittelbar die Hamburger Steuerzahler und darüber hinaus einige Anwohner und einige Angestellte betroffen sind, treffen 20 % Zuckersteuer, erhöhte Überwachung oder ähnliche Repressalien alle Bürger, ja alle Konsumenten eines Staates. Hier ist viel deutliche demokratische Kontrolle gefordert!

Anstatt sich an der vermeintlichen und zum Teil auch tatsächlichen Intransparenz rund um TTIP und CETA aufzureiben, die die allermeisten Menschen ohnehin kaum irgendwie betrifft, sollten wir das Augenmerk auf diejenigen undemokratischen und intransparenten Akteure richten, die Maßnahmen durchsetzen, die fast jeden von uns betreffen. Nicht Unternehmen, die für sich, ihre Eigentümer, Angestellten und Kunden Rechtssicherheit haben wollen sind das Problem. Das Problem sind von missionarischem Eifer beseelte Technokraten, die uns alle zu besseren Menschen machen wollen. Notfalls auch gegen unseren expliziten Willen. Hier besteht ein gravierendes Demokratiedefizit, das angegangen werden will.

Photo: Aad van der Drift from Flickr (CC BY 2.0)

In Freiburg oder Düsseldorf rümpft man schnell mal die Nase, wenn Bürger in Dresden oder Rostock wieder einmal auf die Straße gehen, meist gegen und seltener für etwas protestieren. Sie werden „Wutbürger“ genannt, was in den Medien zum Schimpfwort verunglimpft wird. Diese „Wutbürger“ werden dann als etwas rückständig und unterbelichtet dargestellt, weil sie aus dem tiefsten Dunkeldeutschland entstammen. Sie lesen keine Zeitungen mehr, informieren sich nur noch im Internet und neigen zu Verschwörungstheorien. Wenn wir am Montag den 26. Jahrestag der deutschen Wiedervereinigung feiern, dann ist diese Einordnung keine gute Entwicklung. In dieser „Wutbürger“-Stigmatisierung kommt eine vermeintliche intellektuelle Überlegenheit des Kulturbürgertums im Westen gegenüber dem Osten zum Ausdruck.

Nicht alles, wofür Leute in Dresden und anderswo auf die Straße gehen, muss einem persönlich gefallen, aber hier kommt etwas zum Ausdruck, das in westdeutschen Milieus verloren gegangen ist. Die Sensibilität für Veränderungen. Wahrscheinlich ist dies auch Ergebnis des Wendeprozesses 1989. Damals gab es von der SED-Führung Durchhalteparolen, die eine evolutorische Veränderung der DDR versprachen, eine Zwei-Staaten-Lösung zum Ziel hatten, aber die Vorherrschaft der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands nicht in Frage stellte. Und dann kam alles plötzlich ganz anders. Es war das Nichterkennen der Realität, die die DDR zum Einsturz brachte. Vielleicht ist die Realitätsverweigerung auch heute der Grund, wieso viel mehr ostdeutsche Bürger auf die Straße gehen, sich bei Wahlen viel volatiler verhalten und etablierten Parteien stärker misstrauen als im Westen.

Diese hohe Sensibilität in Ostdeutschland führt dazu, dass gesellschaftliche Veränderungen früher erkannt, thematisiert und angesprochen werden. Das muss unserem demokratischen Gemeinwesen nicht schaden. Diese Entwicklung übt Druck auf die Parteien aus, sich stärker und intensiver um die Sorgen der Bürger zu kümmern. Gleichzeitig überhöht diese Entwicklung die Parteien in unserer Demokratie nicht weiter. Sie reduziert sie wieder auf die Rolle, die ihnen das Grundgesetz zugewiesen hat. Sie „wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit“. Sie bestimmen also nicht alles und über jeden, sondern sind lediglich ein Teil des demokratischen Gemeinwesens.

Letztlich gewinnt die Demokratie dadurch. Abzulesen ist dies sogar an der Wahlbeteiligung. Lange Zeit galten die neuen Bundesländer als Beispiel für Politikverdrossenheit. Zeitweise gingen in den ostdeutschen Bundesländern weniger als die Hälfte der Wahlberechtigten zur Wahl. Ein größeres Misstrauensvotum gegenüber der parlamentarischen Demokratie kann es eigentlich nicht geben. Doch es ändert sich wieder. Gingen 2006 in Sachsen-Anhalt lediglich 44 Prozent der Wahlberechtigten zur Wahl, waren es 10 Jahre später bereits 61 Prozent. Nichtwähler, die von Wahlbeobachtern bereits abgeschrieben waren, gehen heute wieder zur Wahl. Vielleicht ist diese Entwicklung auch ein Beweis dafür, dass die Bürger der Politik wieder etwas zutrauen.

Insofern haben die Bürger der neuen Bundesländer auch der Demokratie insgesamt in Deutschland ihre Lebendigkeit ein Stück weit zurückgegeben. Doch große Freude sollte nicht aufkommen. Wenn man auch andere Landtagswahlen betrachtet, dann gehen rund ein Drittel der Wahlberechtigten weiterhin nicht zur Wahl. Eigentlich müsste diese Entwicklung die Parteien aufrütteln und über neue Formen der Partizipation nachdenken und entscheiden lassen.

Wenn sich der Parteienstaat immer mehr Macht und Kontrolle aneignet, braucht es in der Demokratie eine Gegenmacht. Institutionalisiert ist es traditionell der freiheitliche Rechtsstaat. Parteien, Regierungen und das Parlament dürfen nicht alles. Das Individuum genießt im freiheitlichen Rechtsstaat unveräußerliche Rechte, gegen die kein Parlament, keine Regierung und erst Recht keine Partei vorgehen kann. Doch dies alleine beschränkt die Allmacht der Parteien und ihrer Regierung zu wenig. Es braucht auch die Gegenmacht durch direktdemokratische Elemente. Nur wenn Parlament, Regierung und Parteien Gefahr laufen, dass ihr Wunsch nach immer mehr Macht und Einfluss vom Bürger jeder Zeit begrenzt werden kann, verhalten sie sich anders. Es braucht also ein Rückholrecht der Bürger für demokratische Entscheidungen der Regierung und des Parlaments. Es geht daher um eine Machtbegrenzung, um den Missbrauch der Macht zu beschränken. Die Macht und ihre Begrenzung war das große Thema des britischen Liberalen mit deutschen Wurzeln, Lord Acton, im 19. Jahrhundert. Sein wohl berühmtester Satz lautet: „Macht hat die Tendenz zu korrumpieren und absolute Macht korrumpiert absolut.“ Der neue Imperativ sollte daher lauten: Lasst uns mehr direkte Demokratie wagen!