Photo: K-Screen Shots from Flickr (CC BY 2.0)

Helfen, Rücksicht nehmen, ein guter Mensch sein – wer würde das nicht wollen? All das sind freilich individuelle Tugenden. Wenn Staat und Politik versuchen, uns dabei zu „unterstützen“, etwa durch den Kampf gegen „Hass-Sprache“, führt das oft zu gravierenden Folgen, die eigentlich keiner wollen kann.

Das Anbrechen des Hass-Zeitalters?

Nach dem Brexit machten plötzlich alarmierende Berichte die Runde, dass es einen sprunghaften Anstieg sogenannter Hass-Verbrechen gegenüber Ausländern gegeben habe. Der deutsche Justizminister wies kürzlich auf den besorgniserregenden Anstieg von „Hass-Reden“ in den sozialen Netzwerken um 176 Prozent hin und drohte den Betreibern der Netzwerke mit staatlichen Eingriffen. Beim Europarat ist eine eigene „Kommission gegen Rassismus und Intoleranz“ angesiedelt, die sich um die Erfassung und Bekämpfung von Hass-Verbrechen kümmert.

Diese Kommission hat viel zu tun, wenn sie die 47 Länder des Europarates beständig im Blick behalten möchte. Und vor allem, wenn sie die Balance halten möchte: Sie muss autokratisch regierte Länder wie Russland und Aserbaidschan ebenso in den Blick nehmen wie offene Demokratien wie Island und Portugal. Das führt dann zu so schwammigen Formulierungen wie der aus dem Jahr 2013 (!), dass in Deutschland „der rassistische und besonders der fremdenfeindliche Charakter in Teilen der öffentlichen Debatte … immer noch nicht ausreichend verdeutlicht“ werde. Was genau ist denn ein fremdenfeindlicher Charakter? Oder auch: wo findet sich konkret die „erhebliche (sic!) Diskriminierung von LGBT-Personen“? Und sind anonyme Bewerbungsverfahren bei der „Vergabe von Aufträgen, Darlehen, Zuschüssen und anderen Leistungen“ in irgendeiner Weise sinnvoll durchführbar? Man merkt bei der Lektüre der Berichte, dass hier eine Bürokratie am Werk ist, die nicht darauf ausgerichtet ist, sich selbst überflüssig zu machen, um es vorsichtig zu formulieren.

Schwammige Zahlen, unklare Begriffe

Natürlich gibt es abstoßende, gefährliche und zum Teil auch in erheblichem Ausmaß strafbare Diskriminierung gegenüber Menschen, die als andersartig empfunden werden. Und natürlich folgt auf böse Worte nicht selten auch die böse Tat. Jedes hasserfüllte Wort und jeder Faustschlag sind Verletzungen, die nie passieren sollten. Sobald aber mit Trends, Daten, Zahlen argumentiert wird, wird es sehr schnell unübersichtlich. Wenn man zum Beispiel versucht, herauszufinden, wie es zu dem von der Bundesregierung festgestellten Stand von 3084 „Hass-Postings“ in sozialen Netzwerken kommt, landet man im Nirgendwo. Man muss sich zufrieden geben mit der Aussage, dass es in der Statistik für politisch motivierte Kriminalität keine eigenständige Kategorie für Hasspostings gibt: „Die Fallzahlen wurden über eine Abfrage des Themenfeldes ‚Hasskriminalität‘ unter Eingrenzung auf das Tatmittel ‚Internet‘ ermittelt.“

In einer Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage aus dem Bundestag zum Thema „politisch motivierte Kriminalität“ kommt dann zum Vorschein, dass es sich in etwa drei Vierteln der Fälle um Volksverhetzung handeln soll. Der Bundesrichter Thomas Fischer formuliert dazu pointiert: „Man könnte ja eigentlich sagen: Beleidigung ist strafbar; üble Nachrede und Verleumdung sind strafbar; Volksverhetzung, Bedrohung, Gewaltverherrlichung sind strafbar, Befürwortung von Straftaten ist strafbar: Also wo um Himmels willen soll da jetzt noch eine ‚Lücke‘ sein? Wie viele ‚Hater‘ konnten denn aufgrund des bestehenden Rechts nicht zu Strafe oder Schadensersatz verurteilt werden? Was soll das überhaupt für ein merkwürdiger Tatbestand sein, ‚Hass‘ zu formulieren?“

Die Opfer-Inflation

Gegen Hass zu sein, ist gut. Aber was ist Hass? 62.518 Hassverbrechen wurden von der britischen Polizei 2015/16 aufgenommen, rund Zehntausend mehr als im Vorjahr, fast 80 Prozent davon mit rassistischem Hintergrund. Was Hass ist, definiert hier aber nicht der Gesetzgeber, sondern derjenige, der das vorgebliche Verbrechen meldet. Definiert wird ein Hass-Verbrechen in den Leitlinien der britischen Polizei nämlich allein durch die Wahrnehmung des Opfers oder des Zeugen. Die Meldung kann über ein einfaches Online-Formular erfolgen, das man anonym und ohne Beweise oder Belege vorzuweisen benutzen kann. Kein Wunder, dass die Statistik Amok läuft …

Wir erleben derzeit einen weltweiten Trend zur Viktimisierung: In den USA tobt an den Universitäten die Debatte um sogenannte „safe spaces“, wo sich Studenten frei von jeder Diskriminierung aufhalten können sollten – und liefert beständig Wasser auf die Mühlen der Trump-Unterstützer. In vielen westlichen Staaten inszenieren sich Rechtspopulisten als Opfer eines Mainstreams, der ihre Meinungsfreiheit beschneide. Muslime beanspruchen für sich, die „neuen Juden“ zu sein. Es scheint ein Wettbewerb darum zu bestehen, wer nun mehr diskriminiert werde – gerade so, als befänden wir uns in einem repressiven Gesellschaftsumfeld wie dem Herrschaftsgebiet der Taliban.

Persönliche Verantwortung nicht verstaatlichen

Dieser inflationäre Gebrauch des Opfer-Konzepts führt zu anderen Folgen als denjenigen, die viele sich wünschen, die etwas gegen Diskriminierung tun wollen. Es führt etwa zu einem sich gegenseitig aufschaukelnden Konflikt: Wenn sich der hypersensible Akademiker beständig über die „falsche“ Sprache beschwert, führt das bei der rabiaten Kleinunternehmerin zu Gegenreflexen und so beginnt eine Spirale der Eskalation. Wenn man durch anonyme Meldeformulare Opfern von verbaler oder tätlicher Gewalt einen möglichst leichten Zugang zu Schutz und Gerechtigkeit ermöglichen möchte, führt das zum Missbrauch dieser Gelegenheit. Durch diese Opfer-Inflation auf allen Seiten wird der Begriff entwertet – was sich ja bereits im Sprachgebrauch von Jugendlichen niederschlägt, die demjenigen, dessen Bierflasche grade zu Boden gefallen ist, zurufen: „Du Opfer!“ Wirklichen Opfern ist dadurch nicht geholfen.

Der Schutz unserer Mitmenschen vor Übergriffen, vor Hass und Gewalt, auf welcher Seite sie auch immer stehen mögen, ist in Fällen klarer Gewaltanwendung natürlich Sache der Strafverfolgungsbehörden. Sie ist aber ganz oft auch Sache jedes Einzelnen – gerade in jenen Grauzonen, die als „Hass-Rede“ bezeichnet werden. Indem Politiker uns diese Verantwortung abnehmen, schwächen sie das Anliegen und die Gesellschaft als Ganze. Wir dürfen unsere persönliche Verantwortung nicht verstaatlichen. Es ist Aufgabe jedes einzelnen von uns, einzuschreiten, wenn jemand beschimpft oder diskriminiert wird. Es ist unsere Aufgabe, unsere Kinder so zu erziehen, dass sie im Modus des Respekts denken, reden und handeln. Es ist unsere Aufgabe, dafür zu werben, dass der soziale Druck wächst auf diejenigen, die aus Hass reden und handeln. Nur so kann eine nachhaltige Veränderung geschehen zum Besten aller. Alles andere ist Augenwischerei.

1 Antwort
  1. John Brown
    John Brown sagte:

    Man sollte schon den Begriff der „Hass-Rede“ als solchen hinterfragen. Was soll das eigentlich sein, Hass-Rede, wenn damit – wie ja bekannt wird – eben nicht nur strafrechtlich relevante Äußerungen gemeint sind, sondern – ja, was eigentlich? Die schwammige Definition öffnet dem Missbrauch dieses Konzepts Tür und Tor. Dadurch lassen sich ohne weiteres auch provokante Äußerungen, pointierte Kritik oder schlicht dissidente Meinungen kriminalisieren. Es ist ein subtiler Schritt hin zu einem immer autoritärer werdenden Staat. Ich will nicht den Teufel an die Wand malen, das ist sicherlich keine zwangsläufige Entwicklung. Aber es fällt mir schwer, darin etwas positives zu erkennen, eingedenk dessen, dass ja eigentlich alles gefährliche bereits (zurecht) strafbar ist, wie Fischer ja angemerkt hat. Wozu dann also diese neue Regelung?
    Noch interessanter wird es, wenn man sich anschaut, wer eigentlich im Namen der NoHateSpeech-Kampagnen aktiv ist und wie die aufgebaut sind. Da wird eine Dichotomie von Hass und Liebe aufgestellt: Auf der einen Seite die Bösen, auf der anderen die Guten. Das ist populistisch, und es ist eine Infantilisierung des politischen Diskurses. Mir ist das zu blöd. Es geht nicht um Gut und Böse, es geht um widerstreitende Interessen. Da ist kein Platz für Moral. Der Modus der Politik ist Macht.

    Insofern kann man das berechtigt noch weitaus kritischer sehen.

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