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Von Justus Lenz, Leiter Haushaltspolitik bei Die Familienunternehmer/Die Jungen Unternehmer

Deutschland hat ein Problem. Jedenfalls dann, wenn die zunehmende Regeldichte und der mit ihr einhergehende Erfüllungsaufwand nicht als selbstverständlich angesehen werden. So gute Gründe es auch für viele einzelne Regeln geben mag – in der Summe hat die Belastung längst überhand genommen. Betroffen sind natürlich alle Bürger im Land. Besonders hart trifft es viele Unternehmer, die immer mehr Zeit und Geld in die Erfüllung bürokratischer Auflagen stecken müssen. Noch einmal besonders betroffen sind Gründer: Eigentlich müssten sie jede freie Minute in den Aufbau ihres Geschäftsmodells und die Akquirierung neuer Kunden stecken. In der Realität verbringen sie einen erheblichen Teil ihres Zeitbudgets mit Bürokratie.

Unbekannt ist das Problem wirklich nicht. Das Thema gehört vielmehr zum Standardrepertoire der Sonntagsreden. Nur in der Realität kommt trotzdem immer noch eine Schippe drauf. Nach den Mindestlohndokumentationspflichten und der Datenschutzgrundverordnung geht es aktuell um ein Rückkehrrecht aus Teil- in Vollzeit. Offensichtlich gelingt es uns in Deutschland nicht, auf neue Regeln zu verzichten. Aus ordnungspolitischer Sicht ist ein Rahmen für die wirtschaftlichen Aktivitäten der Marktteilnehmer unerlässlich. Bei vielen Regeln darf aber zumindest ein Zweifel angebracht sein, ob sie wirklich noch Spielregeln sind, oder nicht vielmehr in die Marktergebnisse eingreifen. Diese Diskussion müssen wir führen. Kurzfristig werden wir so aber nicht zum Ziel kommen, die bürokratischen Lasten zu senken.

Wenn man auf der Ebene der Regelsetzung nicht weiterkommt, bietet sich noch der Versuch an, den Erfüllungsaufwand zu reduzieren. Zum Glück bringt die Digitalisierung neue technische Möglichkeiten, an diesem Punkt anzusetzen. Für die staatlichen Verwaltungskosten hat der Normenkontrollrat in einem Gutachten 2015 berechnet, dass sich 30 Prozent der Kosten durch eine konsequente Umsetzung von E-Government-Lösungen einsparen lassen würden. Auf Seite von Unternehmern und Bürgern wären die Einsparungen sicher ebenfalls enorm. So geht die Bundesregierung laut der Antwort auf eine Kleine Anfrage der FDP beispielsweise davon aus, dass deutsche Arbeitnehmer mit einfachen Steuererklärungen rund 54 Millionen Stunden Arbeitsaufwand haben, um diese auszufüllen und abzugeben.

Das Beispiel von Estland zeigt, dass es auch anders geht. Normale Steuererklärungen brauchen dort nur wenige Minuten. Estland beweist, wie sehr eine konsequente Digitalisierung der Verwaltung das Leben für Bürger und Unternehmen vereinfachen kann.

Umso bedenklicher ist es, dass Deutschland auch bei der Verwaltungsdigitalisierung nicht vorankommt. Eine hohe Regeldichte, bei gleichzeitig hohen Kosten der Regeldurchsetzung und -erfüllung, ist eine äußerst schlechte Kombination. Bürger und Unternehmen werden so maximal belastet. Dabei ist die Reduzierung des Erfüllungsaufwandes eigentlich der Minimalkonsens, der sich zwischen Liberalen, Konservativen, Sozialdemokraten und Grünen beim Thema Bürokratie erzielen lassen müsste. Doch leider bleibt es bisher, trotz aller Ankündigungen, bei halbherzigen bis katastrophalen Versuchen. Dabei zeigt Estland, dass es technisch und organisatorisch geht – was in Deutschland fehlt, ist anscheinend der politische Wille.

Von Dr. Alexander Fink, Universität Leipzig, Senior Fellow des IREF – Institute for Research in Economic and Fiscal Issues und Fabian Kurz, Student der Volkswirtschaftslehre, ehemaliger Praktikant bei Prometheus. 

Das bedinungslose Grundeinkommen – kurz BGE – ist aktuell ein groß diskutiertes Projekt in der Arbeits- und Sozialpolitik. Das Konzept beinhaltet die regelmäßige Auszahlung eines festen Betrags an jeden Bürger. Bisher ist die empirische Datenlage zu den Folgen sehr dünn. Studien aus den USA aber zeigen aber auf, dass der Trend in Richtung Reduzierung des Arbeitsangebots geht.

Das bedingungslose Grundeinkommen sorgt in letzter Zeit für hitzige Diskussionen. Über ideologische Grenzen hinweg finden sich Befürworter und Gegner. Die Auswirkungen einer Einführung sind umstritten. Kritiker befürchten, dass die Menschen den Umfang ihrer Erwerbsarbeit einschränken und so die Finanzierung des bedingungslosen Grundeinkommens gefährden würden. Ein bedingungsloses Grundeinkommen wurde noch nie in einem größeren Maßstab in einem Land eingeführt. Experimentelle Ergebnisse, die Rückschlüsse darauf zulassen, wie Menschen auf ein bedingungsloses Grundeinkommen reagieren, sind deshalb leicht zu überschauen.

1.000 Euro für Alle

Das bedingungslose Grundeinkommen ist eine regelmäßige Zahlung an alle Bürger, unabhängig von ihrer finanziellen Situation. Es würde durch Steuereinnahmen finanziert werden. Im Gespräch sind beispielsweise um die 1.000 Euro pro Monat für jeden Bundesbürger. Bei rund 81 Millionen deutschen Staatsbürgern wird ersichtlich, dass die Finanzierung dieses Transfers eine Herausforderung wäre.

Für ein bedingungsloses Grundeinkommen, das alle Transferzahlungen ersetzt, spricht unter anderem ein geringer bürokratischer Aufwand, da die Bedürftigkeit der Empfänger nicht geprüft werden müsste. Wie wahrscheinlich es ist, dass es zu einer Umsetzung ohne Ausnahmen von dieser Regel käme, die diesen Vorteil konterkarieren würden, betrachten wir hier nicht.

Schlechte Anreize konventioneller Sozialtransfers

Heutige Sozialtransfers sind dagegen bürokratisch aufwendig und haben in ihrer jetzigen Ausgestaltung einen weiteren gravierenden Nachteil. Nehmen die Empfänger mehr als nur eine Tätigkeit im Rahmen eines Minijobs auf, reduzieren sich die Zahlungen maßgeblich oder gar vollständig. Für die Empfänger wirkt die Reduktion der Transfers wie eine Steuer auf zusätzliches Einkommen – netto erhöhen sich ihre Einkommen nicht eins zu eins mit dem Zuverdienst. Die durch die Reduzierung der Transfers ausgelösten impliziten Steuern sind – auch durch die Beiträge zu den Sozialversicherungen – relativ hoch. Wer als Alleinstehender eine Arbeit aufnimmt statt ALG II zu beziehen und 1.500 Euro brutto verdient, ist einem impliziten Steuersatz von etwa 80 Prozent ausgesetzt. Der monetäre Anreiz, eine Arbeit aufzunehmen, ist in solch einer Situation recht gering.

Das bedingungslose Grundeinkommen würde diese hohen impliziten Steuersätze für Geringverdiener umgehen. Jeder Euro Einkommen würde nach einem Vorschlag des Hamburger Ökonom Thomas Straubhaar mit 50 Prozent besteuert werden. Wer eine Arbeit aufnimmt, bezöge weiterhin das bedingungslose Grundeinkommen und könnte zusätzlich über 50 Prozent des erzielten Einkommens verfügen.

Die negative Einkommensteuer

Die von Milton Friedmann im Jahr 1962 vorgeschlagene negative Einkommensteuer weist Ähnlichkeiten mit der Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens auf. Auch sie mindert das Problem schwacher Anreize, bezahlter Beschäftigung nachzugehen. Fällt das Einkommen einer Person unter einen gewissen Betrag, zahlt sie keine Steuern mehr, sondern erhält Zahlungen. Bei einem konstanten Grenzsteuersatz, der unter einer gewissen Einkommenschwelle negativ ausfällt, erhöht sich das Einkommen nach Steuern um immer den gleichen Teil des zusätzlichen Einkommens.

Anders als bei einem bedingungslosen Grundeinkommen, hängen die Nettozahlungen oder -gutschriften im Rahmen einer negativen Einkommensteuer also vom erzielten Einkommen ab. Bezüglich der Wirkung auf das Einkommen von Erwerbspersonen gleichen sich bedingungsloses Grundeinkommen und negative Einkommensteuer jedoch.

Bedingungslose Transferszahlungen und Arbeitsverhalten: USA

Wir widmen uns hier nicht der Frage, ob der Empfang von Nettotransfers in Abwesenheit einer Bedürftigkeit gerechtfertigt ist, oder ob die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens tatsächlich mit der Abschaffung aller Transfers einhergehen würde, die auf Bedürftigkeitsprüfungen basieren. Wir wenden uns hier Studien zu, die Rückschlüsse darauf zulassen, wie sich bedingungslose Transferzahlungen auf das Arbeitsverhalten der Empfänger auswirken.

Das „New Jersey Graduated Work Incentive Experiment“ war eine randomisierte Kontrollstudie, die in den Jahren 1968 bis 1972 durchgeführt wurde. Zufällig ausgewählte Familien in städtischen Gebieten mit einem Einkommen unter 150 Prozent der Armutsgrenze erhielten Geldtransfers, deren Höhe vom von ihnen zusätzlich erzielten Einkommen abhing – wie im Rahmen einer negativen Einkommensteuer vorgesehen. Bei den Teilnehmern konnte nur ein geringer negativer Effekt auf das Arbeitsangebot festgestellt werden, der in der Regel unwesentlich von der Kontrollgruppe abwich, die keine Zahlung erhielt. Eine ergänzende Studie mit Fokus auf ländliche Regionen ergab, dass männliche Arbeitskräfte ihre Arbeitszeit im Vergleich zur Kontrollgruppe im Durchschnitt um 1 Prozent senkten und weibliche Teilnehmer ihre Arbeitszeit um 27 Prozent reduzierten. Allerdings konnte auch hier nicht ausgeschlossen werden, dass die Unterschiede nicht dem Zufall geschuldet sind. Hingegen ging die Beschäftigungsquote der teilnehmenden Frauen signifikant um 28 Prozent zurück.

Das „Seattle/Denver Income-Maintenance-Experiment“ war das bisher größte negative Einkommensteuerexperiment. Die Teilnehmer wurden in dreijährige und fünfjährige Auszahlungsperioden aufgeteilt. Menschen, die die Zahlung für drei Jahre erhielten reduzierten ihre Arbeitsstunden um bis zu 7,3 Prozent, während in der Fünf-Jahres-Gruppe Arbeitszeitreduzierungen von bis zu 13,5 Prozent festgestellt wurden. Die statistisch signifikanten Ergebnisse deuten darauf hin, dass die Verkürzung der Arbeitszeit umso höher ausfällt, je länger der Zeitraum ist, in dem eine negative Einkommensteuer zur Anwendung kommt.

Weitere Experimente bisher ohne Erkenntnisgewinn

Im Jahr 2017 startete Finnland ein Grundeinkommensexperiment mit 2.000 Arbeitslosen. Für zwei Jahre erhalten die Teilnehmer eine bedingungslose monatliche Zahlung von 560 Euro. Diese Summe ist nicht ausreichend um alle anderen Transferzahlungen einzustellen. Da das Experiment noch nicht abgeschlossen ist, liegen noch keine Ergebnisse vor.

In Deutschland gibt es eine private Initiative, die monatliche Grundeinkommen in Höhe von 1.000 Euro für ein Jahr verlost. Leider können von diesem Experiment auf Grund des sehr kurzen Zeitraums keine neuen belastbaren Erkenntnisse über die Veränderung des Arbeitsangebots erwartet werden.

Experimente in Schwellen- und Entwicklungsländern

Im Gegensatz zu den Experimenten in industrialisierten Ländern findet eine Studie über ein indisches Grundeinkommensexperiment aus dem Jahr 2014 einen positiven Beschäftigungseffekt. Die Zahlung lag unter dem Einkommensniveau, dass für eine Befriedigung der Grundbedürfnisse ausreichend wäre.

Vor dem Hintergrund, dass das Experiment und damit die Auszahlung nur zwei Jahre dauerten, nutzten die Empfänger des bedingungslosen Grundeinkommens die zusätzlichen Einnahmen vornehmlich, um ihre Lebensbedingungen langfristig zu verbessern und investierten in ihren Kapitalstock. So wurden vor allem neue Nutztiere angeschafft und die effizientere Bewirtschaftung des Haushalts vorangetrieben. Einige Haushalte bauten eine eigene Wasserversorgung oder zusammen mit Nachbarn einen gemeinsamen Wasseranschluss. Dies entlastete vor allem Frauen, die zuvor an öffentlichen Brunnen das Wasser für die Familie holen mussten. So stellten die Forscher fest, dass vor allem Frauen mehr Zeit darauf aufwenden konnten, um zusätzliches Einkommen zu erzielen.

Insgesamt erhöhten gut 21 Prozent der Haushalte, die in dem Untersuchungszeitraum ein bedingungsloses Grundeinkommen erhielten, ihr Einkommen durch eine Ausweitung des Umfangs ihrer Erwerbsarbeit, während dies nur für 9 Prozent der Haushalte in der Kontrollgruppe zutraf.

Ein Experiment, das in Namibia ohne Kontrollgruppe durchgeführt wurde, weist ähnlich wie das indische Projekt darauf hin, dass die Menschen die zusätzlichen Mittel nutzten, um sich wirtschaftlich produktiver betätigen zu können. Die Autoren schreiben: „Dieser Befund widerspricht den Behauptungen der Kritiker, dass das bedingungslose Grundeinkommen zu Faulheit und Abhängigkeit führen würde.“

Die Studienteilnehmer in Namibia und Indien hatten gemein, dass sie in Gesellschaften leben, in denen die Arbeitsteilung weniger ausgeprägt ist als in industrialisierten Ländern. Sie waren zu einem Gutteil auf Subsistenzwirtschaft angewiesen. Die empirischen Ergebnisse weisen darauf hin, dass die zu einem Gutteil auf Subsistenzwirtschaft angewiesenen Haushalte die Transferzahlungen vor allem nutzten, um ihre Arbeit durch Investitionen in ihren Kapitalstock produktiver zu machen. Das mag helfen, die beobachteten Effekte zu erklären. Werden die Früchte der Arbeit reichhaltiger, wird es attraktiver, mehr zu arbeiten.

Finanzierung auf wackligen Füßen?

Individuen in hochgradig arbeitsteilig organisierten Gesellschaften haben leichten Zugang zu Krediten und würden Transferzahlungen vermutlich nicht zum Ausbau ihres Kapitalstocks nutzen, um sich produktiver in Erwerbsarbeit üben zu können. Befürworter eines bedingungslosen Grundeinkommens in relativ reichen Gesellschaften schwebt derartiges zumeist auch nicht vor. Ganz im Gegenteil, Menschen sollen ja gerade frei davon werden, auf dem Markt Erwerbseinkommen erzielen zu müssen. Die Erfahrungen mit bedingungslosen Grundeinkommen in Entwicklungsländern sind auch aus diesen Gründen für entwickelte Länder nicht allzu aussagekräftig.

Die Erkenntnisse aus Nordamerika scheinen besser geeignet zu sein, um die potentiellen Arbeitsangebotseffekte eines bedingungslosen Grundeinkommens abzuschätzen. Diese Studien kommen zu dem Schluss, dass das Arbeitsangebot mit der Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens eher abnimmt. Je länger die erwartete Auszahlungsperiode ist, desto stärker ist dieser Effekt.

Dass ein Bedingungsloses Grundeinkommen ab einer gewissen Höhe das Arbeitsangebot reduziert, steht außer Frage. Wie viele Menschen würden noch arbeiten, wenn es monatlich 5.000 Euro betrüge? Angesichts der bisher noch spärlichen empirischen Literatur zu Effekten bedingungsloser Transferzahlungen sollten alle Aussagen bezüglich der Wirkung eines moderaten bedingungslosen Grundeinkommens auf das Arbeitsangebotsverhalten allerdings mit Vorsicht genossen werden.

Zuerst erschienen bei IREF.

Photo: melisa launay from Flickr (CC BY-ND 2.0)

Die „Sammelklage light“ soll kommen, aber natürlich getreu dem Motto: bloß keine „amerikanischen Verhältnisse“. Eine vertane Chance. Denn eine echte Sammelklage würde betrügerische Konzerne wirkungsvoll entmachten und viele Regulierungen obsolet machen.

In den USA liegt der VW-Dieselskandal längst bei den Akten

Die Autoindustrie war immer der Musterknabe der Deutschen. Man konnte stolz sein auf die große Bandbreite an technisch fortschrittlichen Herstellern, die gut verarbeitete Modelle am laufenden Band produzierten. So gehören für viele die deutschen Automarken ebenso zu einer Art nationaler Identität wie die Fußballnationalmannschaft. Dann kam der „Dieselskandal“ und mit ihm die langsame Gewissheit, über viele Jahre getäuscht worden zu sein.

Doch anstelle einer raschen juristischen Aufarbeitung – wie beispielsweise in den Vereinigten Staaten – zieht sich das „Dieselgate“ scheinbar endlos in die Länge. Es wirkt nicht so, als wären Parlamente und insbesondere Regierungen an einer umfassenden Aufklärung des Falls interessiert. Das ist nicht verwunderlich, sind die Automobilkonzerne doch äußert mächtige Player, die das Handwerk des Lobbyings verstehen wie kaum eine andere Branche. Viel hinderlicher ist jedoch die Tatsache, dass das deutsche Recht keine Sammelklage im eigentlichen Sinne kennt; vor Gericht also jeder Geschädigte Schaden und Kausalität individuell nachweisen muss. Daran ändert auch die geplante Musterfeststellungsklage kaum etwas. Ein Fehler.

Amerikanische Verhältnisse: Wo die Katze in der Mikrowelle getrocknet wird

Die Debatte um die Sammelklage zeigt exemplarisch wie uninformiert über viele politische Themen öffentlich diskutiert wird. Immerhin ist zu lesen, dass es darum gehe, „amerikanische Verhältnisse“ zu verhindern. Eine ziemlich herablassende Sicht auf das Rechtssystem der ersten modernen Demokratie der Welt. Und eine vermeintliche Kenntnis, die eigentlich nur auf einigen Folgen der TV-Serie „Suits“ sowie auf Anekdoten über Katzen in Mikrowellen und verschütteten Kaffee fußen kann. Sicher, wenn man hört, dass eine Frau den Hersteller von Mikrowellen verklagt, weil dieser nicht darauf hingewiesen habe, dass man keine Katzen in selbigen trocknen möge, wähnt man sich eher beim Chiemgauer Bauerntheater als in den USA. Dass dieser Fall allerdings eine sogenannte „urban legend“ ist, folglich nie wirklich stattgefunden hat, ist häufig ebenso unbekannt wie die Tatsache, dass besagte Frau in den USA vermutlich eher wegen grausamer Tierquälerei verurteilt worden wäre.

Und der Fall, in dem eine ältere Dame 2,3 Millionen US-Dollar zugesprochen bekam, weil sie sich beim Autofahren den Kaffee über die Beine verschüttete? Ein weiteres Beispiel dafür, welch Blüten das amerikanische Schadensersatzrecht treibt, und wie die Unachtsamkeit einer Person dazu führt, dass wir heute auf jedem Kaffeebecher „Vorsicht heiß“ lesen können? Mitnichten. Denn erstens war der Kaffee mit fast 90 Grad Celsius viel heißer als haushaltsüblicher Kaffee und führte dadurch zu Verbrennungen 3. Grades an 6% des Körpers der Geschädigten. Zweitens einigten sich Mc Donalds und die Klägerin nach der zweiten Instanz außergerichtlich auf eine Summe von vermutlich weniger als 600.000 US-Dollar.

Schadensersatz in den Vereinigten Staaten: Ex-post Regulierung statt ex-ante Überregulierung

Sicher, auch 600.000 US-Dollar wären eine im deutschen Schadensersatzrecht astronomische Summe, wenn dem lediglich Behandlungskosten in Höhe von 20.000 US-Dollar entgegenstünden. Grund dafür ist das Konzept der „punitive damages“. Zusätzlich zum „normalen“ Schadensersatz wird dem erfolgreichen Kläger in den meisten Gerichtsprozessen in den Vereinigten Staaten eine Summe zugesprochen, die den Beklagten strafen und ein Exempel statuieren soll. Das erscheint nur auf den ersten Blick abwegig, denn die Logik ergibt mit Blick auf das US-amerikanische System durchaus Sinn.

So verfolgen das europäische und das amerikanische Rechtswesen in dieser Hinsicht zwei grundverschiedene Ansätze. In Kontinentaleuropa wird traditionell ex ante stark reguliert. Durch engmaschige und kleinteilige Normierung und strengere Kontrollen soll Fehlverhalten von Vornherein verhindert werden. Der Gesetzgeber in den Vereinigten Staaten setzt stattdessen auf eine umfangreiche ex post-Sanktionierung von Fehlverhalten durch den Verbraucher vor Gericht.

Sicher hat auch das US-System seine Schwächen, da das Kind erst einmal in den sprichwörtlichen Brunnen fallen muss, um ein Fehlverhalten zu sanktionieren. Gleichzeitig kann dieses System zu mehr Vorsicht seitens der Unternehmen führen, da sie sich nicht auf die Regulierung des Staates „verlassen“ können. Übrigens garantiert strenge Regulierung keine Ehrlichkeit – Stichwort VW. Hinzu kommt, dass für jedes potentiell schädigende Verhalten von Unternehmen in Deutschland eine Regulierung umgesetzt werden muss. In der Folge kämpfen viele Unternehmer mit Überregulierung und unnützer Bürokratie. Und am Ende ist es für den Gesetzgeber trotzdem unmöglich, alle potentiellen Schlupflöcher „dicht zu regulieren“. Der US-amerikanische Ansatz erfordert weniger behördliche Informationssammlungen, lässt weniger Spielraum für Lobbyismus und trifft am Ende nur diejenigen, die sich tatsächlich falsch verhalten haben.

Die Sammelklage ist ein Instrument gegen Korporatismus und ermächtigt das Individuum

In Deutschland wird es auf absehbare Zeit keine „punitive damages“ geben. Die Sammelklage ergibt trotzdem Sinn. Jedoch nur, wenn sie richtig umgesetzt ist. Die geplante „Musterfeststellungsklage“ entzahnt den Verbraucher viel mehr als ihn zu ermächtigen, denn sie gaukelt das Konzept der Sammelklage nur vor. So sollen ausgerechnet Verbände wie die staatlich finanzierten Verbraucherschutzzentralen die Musterklagen anführen, deren Verbraucherbild eher an Orwells Farm der Tiere erinnert als an wirklich mündige Verbraucher. Ganz zu schweigen von professionellen Abmahnern wie der Deutschen Umwelthilfe, denen sich da eine neue Goldgrube auftut.

In „The Logic of Collective Action” stellte der US-amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Mancur Olson bereits 1965 fest, dass kleine schlagkräftige Interessengruppen (wie die Automobilbranche) häufig durchsetzungsfähiger sind als die unkoordinierte, demokratisch organisierte Gesellschaft. Wie dies in der Praxis aussieht, erleben wir aktuell an der erfolgreichen Verzögerungs- und Vertuschungstaktik im Fall VW. Eine echte Sammelklage nach amerikanischem Vorbild könnte hier Abhilfe schaffen, und es dem Bürger ermöglichen, dem Korporatismus von Konzernen und Politik entgegenzutreten. Und auch wenn die Sammelklage nicht vor jedem Missbrauch gefeit ist, so sollte doch gelten „Abusus non tollit usum“. Zu Deutsch: Missbrauch hebt den (rechten) Gebrauch nicht auf.

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Von Nemir Ali, Student der Rechtswissenschaften.

Vom Acrylamid-Gehalt in Pommes bis hin zum Nikotinemissionsgrenzwert einer Zigarette – für all dies gibt es EU-Richtlinien oder Verordnungen, und regelmäßig kann man sich in Brüssel auf die nächste Medienschelte einstellen, wenn derartiges beschlossen wird. Dies zu regeln sei doch überflüssig, Brüssel verliere sich mal wieder ins „Klein-klein“, heißt es dann oft.

Doch stimmt das? In Art. 114 des „Lissaboner Vertrags“ (AEUV) wird der EU aufgegeben, sich um die Harmonisierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten zu kümmern, um so den Binnenmarkt zu stärken. Dabei geht es um den Abbau von nichttarifären Handelshemmnissen, also von solchen, die nicht in Zöllen oder Einfuhrgebühren bestehen, sondern in unterschiedlichen Standards für Produkte oder Dienstleistungen. Diese führen dazu, dass übernational agierende Unternehmen entweder für jedes Land unterschiedliche Produktvarianten entwickeln müssen oder nicht exportieren können. Beides kostet die Verbraucher Geld. Somit wird deutlich: Wer wirklich freien Handel will, der muss auch nichttarifäre Handelshemmnisse abbauen wollen. Und der Art. 114 AEUV hat mithin durchaus seine Berechtigung.

Die eigentliche Frage ist daher, ob nichttarifäre Handelshemmnisse nicht auch anders abgebaut werden können als durch Harmonisierung? Immerhin gilt für zentral festgelegte Standards dasselbe wie für alles andere, was zentral festgelegt wird: Je höher die Beschlussebene ist, desto mehr unterschiedliche Interessen müssen miteinander in Einklang gebracht werden. Das kostet Zeit, ist bürgerfern, eine anschließende Reform ist umso schwieriger und Wettbewerb gibt es auch keinen mehr.

Hier werden von Liberalen in der Regel zwei Alternativen vorgeschlagen: Erstens überhaupt keine Standards oder zweitens die gegenseitige Anerkennung von Standards. Wer sich die aktuelle politische Lage in den meisten EU-Mitgliedstaaten ansieht, wird schnell feststellen, dass beides politisch wohl nicht umsetzbar ist.

Doch es gibt auch eine dritte Variante: Die Europäische Union legt wie bisher Standards für Produkte und Dienstleistungen fest, und alles, was diesen Standards genügt, darf im gesamten Binnenmarkt vertrieben werden. Allerdings können die Mitgliedstaaten (sowie ggf. die Regionalparlamente in den Mitgliedstaaten) von diesen Vorschriften nach unten hin abweichen. D.h. es können auf nationaler oder regionaler Ebene Produkte und Dienstleistungen zu niedrigeren Standards als denen der EU vertrieben werden, soweit dies vom entsprechenden Mitgliedstaat erlaubt wird. Woanders darf ein Vertrieb jedoch nicht stattfinden. Dagegen muss alles, was EU-Standards erfüllt, zwingend vertrieben werden dürfen, sprich die Mitgliedstaaten dürfen hier keine höheren Standards ansetzen. Bisherige Ausnahmeregelungen, die dies zulassen (z.B. die Art. 36 und 114 Abs. 4 AEUV) müssen dementsprechend abgeschafft werden. Damit für Verbraucher ersichtlich ist, welche Standards denn nun gewährleistet werden, empfiehlt es sich, zusätzlich ein EU-Gütesiegel – quasi eine Art Zertifikat für Produkte, die EU-Standards erfüllen – einzuführen.

Auf diese Weise ließe sich sowohl die Einheit des Binnenmarktes mit all seinen wirtschaftlichen Vorteilen wahren, als auch ein Gegengewicht bzw. 28 Gegengewichte zur Regulierungshoheit der EU schaffen. Die EU würde den Freihandel und damit die Freiheit (jedenfalls in wirtschaftlicher Hinsicht) nur noch erweitern können und nicht, wie bisher, auch verringern können. Viele EU-Standards würden auf den Prüfstand kommen und die Kommission wäre gezwungen etwas gegen ausufernde Bürokratie zu unternehmen. Tut sie es nicht, dann tun es eben die Mitgliedstaaten.

Ist dies politisch jetzt ohne weiteres umsetzbar? Gewiss nicht. Sowohl von Grünen, Sozialdemokraten als auch vermutlich von vielen Konservativen werden die üblichen Einwände kommen, die vor einem „race to the bottom“ warnen oder von ihren Vorstellungen für das gute Leben so überzeugt sind, dass sie diese ohne jede Notwendigkeit den Bürgern eines Mitgliedstaates gegen deren demokratisch bekundeten Willen aufzwingen wollen. Doch wer vom Freihandel überzeugt ist und ab und an oder grundsätzlich Standards für notwendig befindet, dem sei hiermit eine gangbare Alternative aufgezeigt.

Photo: Branson Convention and Visitors Bureau from Flickr (CC BY-ND 2.0)

Wer heute fürs Alter vorsorgen will, hat es schwer. Nicht weil er zu wenig Auswahl hat oder es keine attraktiven Anlagen mehr gibt. Nein, es ist der Wust an Bürokratie. Wer sich heute bei einer Sparkasse, Volksbank oder Privatbank beraten lässt, um beispielsweise 5.000 Euro anzulegen, braucht viel Geduld.  180 Seiten Basisinformationen über Wertpapiere und weitere Kapitalanlagen, dann 30 Seiten Kundeninformationen zu Geschäften mit Wertpapieren und weiteren Finanzinstrumenten, anschließend 33 Seiten Basisinformationen über Vermögensanlagen in Investmentfonds und zusätzlich sind Geschäftsbedingungen, Preis- und Leistungsverzeichnis sowie Datenschutzhinweise durchzuarbeiten. Dafür sollte man schon mal zwei Tage Urlaub nehmen. Doch das war noch nicht alles. Der Berater händigt dem Kunden auch noch das Verkaufsprospekt der Investmentgesellschaft aus. Das sind auch schnell nochmal 100 Seiten Papier. Anschließend muss der Kunde noch nachweisen, dass er überhaupt geeignet für die Kapitalanlage ist. Dazu muss er die Hosen runterlassen und seine Vermögensverhältnisse, das Einkommen und seine Anlageerfahrung offenbaren. Das sind dann auch nochmals 10 Seiten. Summa summarum rund 400 Seiten eng bedrucktes Papier. Doch es kommt noch besser. Kommt er nach vier Wochen auf die schlaue Idee, in die gleiche Anlage einen Sparplan von 50 Euro monatlich zu sparen, muss der Sparkassenberater ihm die ganzen Unterlagen nochmals aushändigen. Das ist wirklich irre.

Man könnte meinen, das sei zum Wohle des Kunden. Doch weit gefehlt. Die Rechtsabteilungen der Banken haben sich soweit abgesichert, dass Banken und Sparkassen kein Risiko mehr tragen.  Und auch der Gesetzgeber, meist aus Brüssel initiiert, kann sich im Zweifel immer zurücklehnen. Er hat ja geliefert. Auf der Strecke bleibt der Kunde. Er wird entmündigt. Ihm traut man kein eigenverantwortliches Handeln zu. Alle werden über einen Kamm geschoren. Der Anlageprofi ebenso wie die Rentnerin, die ihren Notgroschen verwaltet.

Doch warum ist das so? Es hat viel mit einer Illusion zu tun. Mit der Regulierungsillusion. Sie suggeriert, der Staat müsse seine Bürger vor allen Lebensrisiken schützen. Das kann die Regierung, das Parlament oder ein Abgeordneter nicht. Denn sie kennen nicht die Risiken der Zukunft. Das alles ist letztlich ein Kollateralschaden der jüngsten Finanzkrise. Der Insolvenz von Lehman Brothers und der anschließende Ausfall der Lehman-Zertifikate 2008 folgte eine Unmenge an Gesetzesinitiativen zum Verbraucherschutz. Wie so häufig wurde das Kind aber mit dem Bade ausgeschüttet.

Der gleichen Regulierungsillusion unterliegt die Regierung auch bei der Bewältigung der Euro-Krise, die jetzt über Italien wieder zurück kommt. Dort haben die Wähler anders entschieden, als in Brüssel und Berlin erhofft.  Nach der gescheiterten Regierungsbildung drohen jetzt für den Herbst schon wieder Neuwahlen. In der Erwartung eines erneuten Wahlsieges der Lega und der Fünf-Sterne-Bewegung steigen die Renditen der Anleihen des überschuldeten italienischen Staates wieder auf das Krisenniveau von vor fünf Jahren.

Damals war man mehrheitlich der Auffassung, die bisherigen Regeln seien nicht brauchbar. Sie müssten angepasst werden, damit so etwas nie wieder passieren kann. Neben dem Schuldenschirm „Europäischer Stabilitätsmechanismus“, der im Zweifel 500 Mrd. Euro ins Schaufenster stellen kann, sollte eine Bankenunion für Stabilität an den europäischen Finanzmärkten sorgen. Zwei von drei Pfeilern sind inzwischen realisiert:. Die Bankenaufsicht wurde bei der Europäischen Zentralbank angesiedelt. Zusätzlich wurde dort ein Bankenabwicklungsregime angedockt. Jetzt fehlt nur noch eine einheitliche Einlagensicherung im Euroraum. Kurzum: die EZB soll feststellen, wenn eine Bank pleite ist, soll sie abwickeln, und jetzt sollen auch noch die Einlagen von allen Sparern im Währungsraum gegenseitig garantiert werden. Das alles soll verhindern, dass der Währungsraum buchstäblich auseinanderfliegt. Doch ist diese Gefahr wirklich gebannt? Hat das alles geholfen?

Italien hat heute eine Verschuldung von 2.300 Milliarden Euro. Seit März 2015 kauften die EZB und die nationalen Notenbanken Staatsanleihen. Bisher wurden dafür fast 2.000 Mrd. Euro aufgewandt. Alleine 341 Milliarden Euro entfallen auf italienische Anleihen, die von der italienischen Notenbank gekauft wurden. Doch auch die Risiken in den Bilanzen ausländischer Banken sind nicht unerheblich. So haben französische Banken 63 Mrd. Euro Staatspapiere Italiens in ihren Büchern, deutsche Banken 39 Mrd. Euro.

Hat diese Regulierung die aktuelle Krise verhindert? Hat sie das Euro-Währungssystem stabiler gemacht? Sind die Banken weniger systemrelevant? Nein. Es ist nur eine Regulierungsillusion. Es ist eine Beruhigungspille, die suggeriert, man habe alles im Griff. Im achten Jahr der Euro-Schuldenkrise ist das erschreckend wenig. Die Verschuldung in der Eurozone ist gestiegen, die Wirtschaftskraft fällt im internationalen Vergleich zurück und die faulen Kredite in den Bankbilanzen Südeuropas sind viel zu hoch. Das, was notwendig ist, wird nach wie vor tabuisiert. Es kann nicht sein, was nicht sein darf. Über ein geordnetes Ausstiegsszenario für Staaten der Eurozone, die alle anderen mitreißen können, wird nicht einmal diskutiert. Dabei wäre das notwendiger denn je.

Erstmals erschienen bei Tichys Einblick.