Photo: melisa launay from Flickr (CC BY-ND 2.0)
Die „Sammelklage light“ soll kommen, aber natürlich getreu dem Motto: bloß keine „amerikanischen Verhältnisse“. Eine vertane Chance. Denn eine echte Sammelklage würde betrügerische Konzerne wirkungsvoll entmachten und viele Regulierungen obsolet machen.
In den USA liegt der VW-Dieselskandal längst bei den Akten
Die Autoindustrie war immer der Musterknabe der Deutschen. Man konnte stolz sein auf die große Bandbreite an technisch fortschrittlichen Herstellern, die gut verarbeitete Modelle am laufenden Band produzierten. So gehören für viele die deutschen Automarken ebenso zu einer Art nationaler Identität wie die Fußballnationalmannschaft. Dann kam der „Dieselskandal“ und mit ihm die langsame Gewissheit, über viele Jahre getäuscht worden zu sein.
Doch anstelle einer raschen juristischen Aufarbeitung – wie beispielsweise in den Vereinigten Staaten – zieht sich das „Dieselgate“ scheinbar endlos in die Länge. Es wirkt nicht so, als wären Parlamente und insbesondere Regierungen an einer umfassenden Aufklärung des Falls interessiert. Das ist nicht verwunderlich, sind die Automobilkonzerne doch äußert mächtige Player, die das Handwerk des Lobbyings verstehen wie kaum eine andere Branche. Viel hinderlicher ist jedoch die Tatsache, dass das deutsche Recht keine Sammelklage im eigentlichen Sinne kennt; vor Gericht also jeder Geschädigte Schaden und Kausalität individuell nachweisen muss. Daran ändert auch die geplante Musterfeststellungsklage kaum etwas. Ein Fehler.
Amerikanische Verhältnisse: Wo die Katze in der Mikrowelle getrocknet wird
Die Debatte um die Sammelklage zeigt exemplarisch wie uninformiert über viele politische Themen öffentlich diskutiert wird. Immerhin ist zu lesen, dass es darum gehe, „amerikanische Verhältnisse“ zu verhindern. Eine ziemlich herablassende Sicht auf das Rechtssystem der ersten modernen Demokratie der Welt. Und eine vermeintliche Kenntnis, die eigentlich nur auf einigen Folgen der TV-Serie „Suits“ sowie auf Anekdoten über Katzen in Mikrowellen und verschütteten Kaffee fußen kann. Sicher, wenn man hört, dass eine Frau den Hersteller von Mikrowellen verklagt, weil dieser nicht darauf hingewiesen habe, dass man keine Katzen in selbigen trocknen möge, wähnt man sich eher beim Chiemgauer Bauerntheater als in den USA. Dass dieser Fall allerdings eine sogenannte „urban legend“ ist, folglich nie wirklich stattgefunden hat, ist häufig ebenso unbekannt wie die Tatsache, dass besagte Frau in den USA vermutlich eher wegen grausamer Tierquälerei verurteilt worden wäre.
Und der Fall, in dem eine ältere Dame 2,3 Millionen US-Dollar zugesprochen bekam, weil sie sich beim Autofahren den Kaffee über die Beine verschüttete? Ein weiteres Beispiel dafür, welch Blüten das amerikanische Schadensersatzrecht treibt, und wie die Unachtsamkeit einer Person dazu führt, dass wir heute auf jedem Kaffeebecher „Vorsicht heiß“ lesen können? Mitnichten. Denn erstens war der Kaffee mit fast 90 Grad Celsius viel heißer als haushaltsüblicher Kaffee und führte dadurch zu Verbrennungen 3. Grades an 6% des Körpers der Geschädigten. Zweitens einigten sich Mc Donalds und die Klägerin nach der zweiten Instanz außergerichtlich auf eine Summe von vermutlich weniger als 600.000 US-Dollar.
Schadensersatz in den Vereinigten Staaten: Ex-post Regulierung statt ex-ante Überregulierung
Sicher, auch 600.000 US-Dollar wären eine im deutschen Schadensersatzrecht astronomische Summe, wenn dem lediglich Behandlungskosten in Höhe von 20.000 US-Dollar entgegenstünden. Grund dafür ist das Konzept der „punitive damages“. Zusätzlich zum „normalen“ Schadensersatz wird dem erfolgreichen Kläger in den meisten Gerichtsprozessen in den Vereinigten Staaten eine Summe zugesprochen, die den Beklagten strafen und ein Exempel statuieren soll. Das erscheint nur auf den ersten Blick abwegig, denn die Logik ergibt mit Blick auf das US-amerikanische System durchaus Sinn.
So verfolgen das europäische und das amerikanische Rechtswesen in dieser Hinsicht zwei grundverschiedene Ansätze. In Kontinentaleuropa wird traditionell ex ante stark reguliert. Durch engmaschige und kleinteilige Normierung und strengere Kontrollen soll Fehlverhalten von Vornherein verhindert werden. Der Gesetzgeber in den Vereinigten Staaten setzt stattdessen auf eine umfangreiche ex post-Sanktionierung von Fehlverhalten durch den Verbraucher vor Gericht.
Sicher hat auch das US-System seine Schwächen, da das Kind erst einmal in den sprichwörtlichen Brunnen fallen muss, um ein Fehlverhalten zu sanktionieren. Gleichzeitig kann dieses System zu mehr Vorsicht seitens der Unternehmen führen, da sie sich nicht auf die Regulierung des Staates „verlassen“ können. Übrigens garantiert strenge Regulierung keine Ehrlichkeit – Stichwort VW. Hinzu kommt, dass für jedes potentiell schädigende Verhalten von Unternehmen in Deutschland eine Regulierung umgesetzt werden muss. In der Folge kämpfen viele Unternehmer mit Überregulierung und unnützer Bürokratie. Und am Ende ist es für den Gesetzgeber trotzdem unmöglich, alle potentiellen Schlupflöcher „dicht zu regulieren“. Der US-amerikanische Ansatz erfordert weniger behördliche Informationssammlungen, lässt weniger Spielraum für Lobbyismus und trifft am Ende nur diejenigen, die sich tatsächlich falsch verhalten haben.
Die Sammelklage ist ein Instrument gegen Korporatismus und ermächtigt das Individuum
In Deutschland wird es auf absehbare Zeit keine „punitive damages“ geben. Die Sammelklage ergibt trotzdem Sinn. Jedoch nur, wenn sie richtig umgesetzt ist. Die geplante „Musterfeststellungsklage“ entzahnt den Verbraucher viel mehr als ihn zu ermächtigen, denn sie gaukelt das Konzept der Sammelklage nur vor. So sollen ausgerechnet Verbände wie die staatlich finanzierten Verbraucherschutzzentralen die Musterklagen anführen, deren Verbraucherbild eher an Orwells Farm der Tiere erinnert als an wirklich mündige Verbraucher. Ganz zu schweigen von professionellen Abmahnern wie der Deutschen Umwelthilfe, denen sich da eine neue Goldgrube auftut.
In „The Logic of Collective Action” stellte der US-amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Mancur Olson bereits 1965 fest, dass kleine schlagkräftige Interessengruppen (wie die Automobilbranche) häufig durchsetzungsfähiger sind als die unkoordinierte, demokratisch organisierte Gesellschaft. Wie dies in der Praxis aussieht, erleben wir aktuell an der erfolgreichen Verzögerungs- und Vertuschungstaktik im Fall VW. Eine echte Sammelklage nach amerikanischem Vorbild könnte hier Abhilfe schaffen, und es dem Bürger ermöglichen, dem Korporatismus von Konzernen und Politik entgegenzutreten. Und auch wenn die Sammelklage nicht vor jedem Missbrauch gefeit ist, so sollte doch gelten „Abusus non tollit usum“. Zu Deutsch: Missbrauch hebt den (rechten) Gebrauch nicht auf.
Der Kaffeeprozeß gegen McDonalds war keine Sammelklage, sondern ein ganz normaler Fall von Schadensersatz.
Was Sammelklagen angeht ist es in den USA eher die Regel, daß Konzerne günstig davonkommen, weil die Klagen in einem Vergleich enden, bei dem die Kläger auf einen Teil ihrer Ansprüche verzichten, um 1. das Prozeßrisiko zu vermindern und 2. nicht jahrelang warten zu müssen, bis die Hauptverhandlung und alle Revisionen abgeschlossen sind.