Photo: Tony Bowden from Flickr (CC BY-SA 2.0)

Von Norbert F. Tofall, Senior Research Analyst des Flossbach von Storch Research Institute.

Angesichts hoher Inflationsraten sind die hohen Gehaltsforderungen der Gewerkschaften verständlich. Der von den Zentralbanken in den letzten Jahren erzeugte Geldüberhang hat sich infolge der Corona-Krise und durch die weltweiten Folgen des Ukraine-Krieges bis zu den Konsumenten durchgefressen. Erzeugte bis zur Corona-Krise die Null- und Niedrigzinspolitik der Zentralbanken und ihre Anleihekaufprogramme Vermögenspreisinflation und damit Scheinwohlstand, trifft nun der dadurch erzeugte Geldüberhang den Verbraucher in Form von Konsumgüterpreisinflation, zumal die Zentralbanken ein rechtzeitiges Gegensteuern versäumt haben. Ob und wann die Zentralbanken durch Zinserhöhungen und eine Beendigung der Anleihekaufprogramme die Inflation in den Griff bekommen werden, ist offen.

Im Euro-Raum kommt erschwerend hinzu, dass die Schuldentragfähigkeit einiger Euro-Mitglieder und insbesondere die von Italien durch die Zinserhöhungen erheblich belastet werden und dadurch der Zusammenhalt der Eurozone erneut unter Druck gerät. Die Europäische Zentralbank hat für diesen Fall zwar ein neues Anleihekaufprogramm namens Transmission Protection Instrument (TPI) zu ihren geldpolitischen Instrumenten hinzugefügt, um im Bedarfsfall italienische und andere Staatsanleihen ankaufen zu können; eine Nutzung des TPI würde jedoch die Inflationsbekämpfung konterkarieren oder zumindest verlangsamen.

Angesichts dieser makroökonomischen Lage und der Ungewissheit, wann der Kampf gegen die Inflation gewonnen wird, dürften Lohnzurückhaltungsappelle an die Gewerkschaften ungehört verklingen. Eine verstärkte Lohn-Preis-Spirale droht. Die eigentlichen Verursacher der Lohn-Preis-Spirale sind jedoch nicht die Gewerkschaften, sondern die Zentralbanken und die schuldenintensive Fiskalpolitiken der Regierungen.

Nun wird man in Deutschland kaum Gewerkschaften finden, die sich gegen die Geldüberhang erzeugende Politik der Zentralbanken und die Schuldenorgien der Regierungen wenden, geschweige denn zu Streiks gegen diese kaufkraftmindernden Politiken aufrufen. Zum einen verorten sich die meisten deutschen Gewerkschaften selbst allein schon aus Gründen der hiesigen politischen Kultur nicht auf der Seite von Austerität und Geldwertstabilität. Zum anderen sind in der Bundesrepublik Deutschland Streiks, die der Durchsetzung politischer Ziele dienen, verboten.

Ein Streik ist die Niederlegung der Arbeit durch eine Gruppe von Arbeitnehmern, um ein gemeinsames Ziel im Rahmen des Arbeits- und Beschäftigungsverhältnisses zu erreichen. Diese kollektive Niederlegung der Arbeit verletzt in Deutschland dann nicht die arbeitsvertraglich geschuldete Arbeitspflicht, wenn sie im gesetzlichen Rahmen des kollektiven Arbeitsrechts erfolgt. Die im Artikel 9 Absatz 3 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland garantierte Koalitionsfreiheit und die in diesem Zusammenhang genannten Arbeitskämpfe bedeuten zudem nicht, dass für jeden beliebigen Zweck gestreikt werden kann, sondern versteht sich immer in Bezug auf die gesetzlich geregelte Tarifautonomie und damit auf das Arbeitsverhältnis. Eine Niederlegung der Arbeit, um beispielsweise allgemeine Forderungen zum Klimaschutz zu erheben, ist rechtswidrig.

Allgemein stellt sich die Frage, wie weit das Handeln von kollektiven Akteuren wie Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden gehen darf. Denn durch einen Streik wird oftmals nicht nur der Arbeitgeber geschädigt, sondern auch Dritte, die mit den Tarifauseinandersetzungen nichts zu tun haben. Bei Pilotenstreiks oder Lokführerstreiks ist diese Wirkung auf Dritte der eigentliche Machthebel im Arbeitskampf: „Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will …“ Aber ist das auch legitim? Oder genauer gefragt: Welches Handeln im Rahmen von kollektiven Arbeitskämpfen ist mit dem Schutz der individuellen Freiheit aller Bürger vereinbar und welches nicht? Wer darf wen zu was zwingen? Und welche Schädigungen Dritter sind zumutbar und verhältnismäßig?

Diese Fragen sind alles andere als eindeutig beantwortbar. Würden beispielsweise Streiks generell verboten, dann könnte das die Arbeitnehmer in eine Situation führen, in welcher sie bei Tarifverhandlungen nur mit Kündigung und Abwanderung auf einen anderen Arbeitsplatz drohen können. Und genau diese Marktlösung sollte durch den von den Arbeitgebern im Kaiserreich erfundenen Flächentarif verhindert werden, als sich Arbeiter erdreisteten, bei einem Arbeitsplatzwechsel vom neuen Arbeitgeber mehr Lohn zu fordern. Heute sind bei anderen Marktbedingungen die Gewerkschaften die Verteidiger von Flächentarifverträgen. Zudem grenzen in den letzten Jahren die Streiks von Spartengewerkschaften wie den Piloten und den Lokführern an Nötigung, bei der die ganze Gesellschaft in Geiselhaft genommen wird. Als ordnungspolitisches Entscheidungskriterium könnte die Machtfrage herangezogen werden: Welche Arbeitnehmer- und welche Arbeitgeber-Kartelle verhindern bei welchem Regelsetting wohlfahrtssteigende Marktlösungen? Wer missbraucht seine Macht? Und wie müssen die Regeln gesetzt werden, so dass Machtmissbrauch verhindert wird?

Vermutlich muss in die Details des kollektiven Arbeitsrechts eingestiegen und kritisch geprüft werden, wer warum welche Verhandlungsmacht hat und ob diese in einer hochkomplexen, mobilen und arbeitsteiligen Gesellschaft noch zu rechtfertigen sind. Auch müsste das Verhältnis von kollektivem und individuellem Arbeitsrecht betrachtet werden. Mögliche Einschränkungen des Streikrechts – zum Beispiel für spezifische Berufs- und Spartengewerkschaften – könnten durch eine Verbesserung der rechtlichen Stellung des Arbeitsnehmers im individuellen Arbeitsrecht kompensiert werden.

Aber wie auch immer diese Fragen zukünftig beantwortet werden sollten, die Hauptursache für die heutigen Streiks und die drohende Lohn-Preis-Spirale wird durch Änderungen des Streikrechts nicht berührt: Inflation, die durch die Geldpolitik der Zentralbanken und die ausufernden Staatsschulden erzeugt und dann nicht rechtzeitig bekämpft wurde. Durch eine sich verstetigende Inflation wird die Streikneigung und Streikhäufigkeit weiter zunehmen. Dass das zu englischen Verhältnissen wie in den 1970er Jahren in Großbritannien führen kann, liegt auf der Hand. Angesichts des Ukraine-Kriegs, angesichts der sich zuspitzenden Systemrivalität mit China und angesichts des Strukturwandels der Globalisierung kann sich Europa eine englische Krankheit wie die der 1970er Jahre nicht leisten. Der Schlüssel für die Verhinderung einer neuen englischen Krankheit liegt jedoch nicht im Streikrecht, das durchaus reformiert gehört, sondern in der konsequenten Inflationsbekämpfung.

Erstmals erschienen bei Austrian Institute.