Photo: Walters Art Museum from Wikimedia Commons (CC 0)
Christen begehen gerade die Fastenzeit und für Muslime hat letzte Woche der Ramadan begonnen. Dahinter steckt auch die Erfahrung, dass Verzicht zu üben einen stärken kann. Es täte unserer Gesellschaft gut, das wieder mehr zu verstehen und auch zu bejahen.
Der Stoff, aus dem die Helden sind
Einem unmittelbaren Wunsch nicht sofort nachzugehen, erfordert mentale Stärke. In den meisten Kulturen wurde dieses Zeichen von Stärke mit Bewunderung honoriert. Die Gestalt des Buddha etwa hat mit seiner asketischen Haltung der nach ihm benannten Weltreligion ihr vielleicht deutlichstes Erkennungsmerkmal gegeben. Auch im Hinduismus, in den Philosophien des antiken Griechenlands, in Judentum, Christentum und Islam und in vielen indigenen Gesellschaften gelten diejenigen, die sich etwas abringen, als Orientierung für andere. Womöglich hat Kultur hier die Funktion übernommen, positive Erfahrungen mit etwas Glanz und Gewicht zu versehen: Menschen haben im täglichen Leben bemerkt, dass sie Schwierigkeiten leichter überwinden können und insgesamt robuster werden, wenn es ihnen gelingt, unmittelbare Bedürfnisse zugunsten nachgelagerter Gewinne zurückzustellen.
Auch in moderneren Gesellschaften, die ein wesentlich weniger transzendental begründetes Leben führen, wird diese Fähigkeit oft positiv bewertet. Max Weber etwa schreibt den aszetischen Tendenzen in der protestantischen Tradition eine zentrale Rolle bei der Entstehung des Kapitalismus zu. Die Ökobewegungen der vergangenen Jahrzehnte stellen Verzicht in den Mittelpunkt ihrer Ethik. Und auch die Selbstoptimierungsgurus der jüngsten Zeit nutzen Verzicht und Selbstbeschränkung als wichtige Signale sowohl an die zu optimierende Person als auch an das zur Bewunderung aufgerufene Umfeld.
Gegen den Verzicht wird anmanipuliert
Zugleich gibt es aber gegenläufige Trends. Der gigantische Wohlstand, den wir uns in den vergangenen zwei Jahrhunderten erarbeitet haben, zunächst im Norden und Westen und jetzt zunehmend im Rest der Welt, ermöglicht viel schnellere Wunscherfüllung. Das Produkt, für das man vor fünfzig Jahren mehrere Wochen sparen und das man aufwendig in einem großen Geschäft in der entfernten Großstadt besorgen musste, ist jetzt zu einem Bruchteil des Preises und mit einem Mausklick frei Haus erhältlich. Auch die Gelegenheiten, sich in sozialen Medien, mit Computerspielen oder anderen digitalen Produkten eine unmittelbare Bedürfnisbefriedigung und stets verfügbare Glücksmomente zu verschaffen, trägt nicht unbedingt bei zu unserer Fähigkeit zur Selbstüberwindung.
Das ist leider kein ganz geringes Problem. Die wachsende Erwartungshaltung, dass jetzt sofort mein Bedürfnis erfüllt werden möge, ist nicht nur ein Booster für die Produzenten von industriellem Zucker und TikTok-Videos. Auch Politiker profitieren davon. Die Mieten sind immer schwerer bezahlbar – es wird eine Mietpreisbremse durchgesetzt. Die statistische Kinderarmut wächst – die Kindergrundsicherung wird eingeführt. Die Erderwärmung nimmt rasant zu – Verbrennermotoren werden verboten. Die dahinter liegenden Probleme oder davor liegenden Lösungen werden nicht länger erforscht, geschweige denn daran gearbeitet. Denn meist würde das einen Zeitraum voraussetzen, der über die Legislaturperiode hinausreicht und womöglich auch unangenehmere Konsequenzen hätte, die man aber lieber bei künftigen Entscheidungsträgern und Bürgerinnen parkt. Man überbietet sich gegenseitig darin, jede auch nur potentielle Zumutung abzumoderieren mit Subventionen, Verboten, Preisbremsen und anderen immer kreativeren Formen der Manipulation.
Zeitenwende zum Kuscheln
Ein besonders eklatantes Beispiel ist die sogenannte „Zeitenwende“ des Kanzlers. Die Ausnahmesituation nach dem Februar 2022 hätte eine Möglichkeit sein können, die Bevölkerung mit der Realität vertraut zu machen, dass Freiheit einen Preis hat. Doch kein „Blut, Schweiß und Tränen“ weit und breit. Die Freiheit in Europa hatte aus Sicht des Kanzlers nur ein Preisschild, das eine ominöse Entität zu bezahlen hat, nämlich „wir“, also die Bundesregierung. Und so landete die Zeitenwende gegen Ende der Ansprache auch als kuschelig weicher Bettvorleger:
„Deshalb haben wir in dieser Woche ein Entlastungspaket vereinbart: mit der Abschaffung der EEG-Umlage noch in diesem Jahr, einer Erhöhung der Pendlerpauschale, einem Heizkostenzuschuss für Geringverdiener, Zuschüssen für Familien und steuerlichen Entlastungen. Die Bundesregierung wird das schnell auf den Weg bringen. Unsere Botschaft ist klar: Wir lassen die Bürgerinnen und Bürger und die Unternehmen in dieser Lage nicht allein.“
Vorsprung durch Verzicht
Damit unsere Gesellschaft wieder etwas auf die Beine stellen kann, müssen wir wieder sehr viel besser im Verzichten werden; in der Fähigkeit, um eines größeren Gutes willen die sofortige Befriedigung zu verschieben. Es müsste selbstverständlich sein, dass Rentner, die nicht von Altersarmut betroffen sind, auf die nächsten großzügigen Erhöhungsrunden verzichten, um der nachwachsenden Generation etwas Luft zum Atmen zu geben. Es sollte selbstverständlich sein, dass man nicht durch Staatsverschuldung, Geldpolitik und Steuererhöhungen einen Konsumexzess nach dem nächsten befeuert, um kurzfristig Bürger ruhig zu halten. Dass man von den 168 Stunden, die eine Woche hat, noch weniger als 38 arbeiten möchte, ist auch nicht wirklich gut nachvollziehbar für die Kioskbesitzerin, den Landwirt oder die Pflegerin. Alle wollen noch mehr haben, während ihre Tribune die Logik des Kapitalismus geißeln, der von ungezügelter Gier getrieben sei.
Verzicht hat etwas mit Prioritäten zu tun. Also was einem wichtig ist – und übrigens auch wer einem wichtig ist. Unser Rentensystem kollabiert in einem Affenzahn und bricht den jüngeren Generationen überm Kopf zusammen. Arbeitskräftemangel und Arbeitszeitmangel drohen die Rezession zu zementieren. Die Erderwärmung nimmt immer mehr Fahrt auf. Die Ukraine bräuchte in ihrem Abwehrkampf gegen den Neofaschismus dringend sehr viel mehr Unterstützung. In all diesen Punkten müssten wir, wenn wir priorisieren wollten, Verzicht auf uns nehmen. Und Politiker müssten das Stehvermögen haben, das auch einzufordern. Wir reden hier übrigens von Verzicht auf sehr, sehr hohem, Niveau, denn wir leben in einer beispiellosen Luxus-Gesellschaft. Wenn es uns wieder gelingt, die Tugenden des Maßhaltens und der Bescheidenheit zu lernen und zu üben, können wir womöglich auch die Grundlage dafür legen, dass es weitere Sprünge des Fortschritts geben wird. Wenn wir uns weiterhin der schnellen Sofortbefriedigung hingeben, sollten wir uns hingegen nicht wundern, wenn uns irgendwann alle Kräfte ausgegangen sind. Das wussten schon die vielen Generationen vor uns, die dem Verzicht eine solch zentrale Stellung eingeräumt haben – und so die Grundlage für unsere heutige Welt gelegt haben.