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Tausende neue Stellen zur Verwaltung der Kindergrundsicherung sind symptomatisch für den Wohlfahrtsstaat der Moderne, der aus der Überzeugung heraus operiert, mit Formularen und Geldscheinen könne man Menschen helfen. Dabei entstehen gigantische Fehlallokationen zu Lasten der Ärmsten.

Bürokratisierung tritt an die Stelle von Begegnung

Die Kindergrundsicherung dürfte zumindest an der Arbeitsplatzfront wirken: Viele tausende Menschen werden neu in Lohn und Brot gebracht. Im Auftrag der Bundesregierung werden sie Anträge überprüfen und Leistungen zuweisen. Etliche Hunderttausende von Menschen in unserem Land, wenn nicht noch mehr, haben einen Arbeitsplatz, weil sie die administrative Maschinerie des Wohlfahrtsstaates am Laufen halten. In Rentenkassen, Jobcentern, Finanzämtern und vielen ähnlichen Einrichtungen sind sie damit beschäftigt, zu sichten, zu genehmigen, zu verweigern, zu dokumentieren … Denn jede neue Leistung des Staates muss ja ordnungsgemäß an die Bürgerin und den Bürger gebracht werden. Das Unternehmen Deloitte hat kürzlich im Auftrag des Normenkontrollrates die Komplexität des Wohlfahrtsstaates in den Blick genommen. Die Visualisierung, die sie angefertigt und mit dem blumigen Titel „Haus der sozialen Hilfen und Förderung“ versehen haben, erinnert stark an „Das Haus, das Verrückte macht“ in dem Film-Klassiker „Asterix erobert Rom“.

Hinter dieser Entwicklung stecken zwei fundamentale Perspektiven, die möglicherweise etwas schräg sind. Die erste ist die Vorstellung, dass man mehr Gerechtigkeit bekommt, wenn man möglichst viele und präzise Regeln aufstellt. Zwar ist es richtig, dass der Blick auf den Einzelfall immer besser ermöglicht, jemandem gerecht zu werden. Aber dafür braucht man auch die Möglichkeit, den Einzelfall kennenzulernen und beurteilen zu können. Das genaue Gegenteil dieser Einzelfallgerechtigkeit bildet im klassischen Rechtsstaat das Instrument der Gesetzes, das so gefasst sein sollte, dass es möglichst allgemein gehalten ist und nicht individuelle, sondern strukturelle Herausforderungen adressiert. Leider verspricht der Gesetzgeber inzwischen aber, sich  um jeden spezifischen Fall zu kümmern, und so entsteht dann zum Beispiel § 49 Sozialgesetzbuch, Vierzehntes Buch: „Anstelle der Versorgung mit Zahnersatz können Geschädigte für die Beschaffung eines Zahnersatzes wegen anerkannter Schädigungsfolgen einen Zuschuss in angemessener Höhe erhalten, wenn 1. sie wegen eines nicht schädigungsbedingten weiteren Zahnverlustes einen erweiterten Zahnersatz anfertigen lassen und 2. es sich bei dem erweiterten Zahnersatz um eine nicht teilbare Leistung handelt.“

Armut ist oft keine Geldfrage

Die zweite schräge Perspektive ist, dass mehr Geld die Situation von Menschen verbessert. Das soll nicht heißen, dass Geld unwichtig wäre. Wenn man es schafft, dass jedes Kind ausreichend Ernährung bekommt, mit auf die Klassenfahrt kann und Zugang zu Nachhilfe hat, tut jede Gesellschaft aus moralischen und auch aus langfristig-ökonomischen Gründen gut daran, das zu ermöglichen. Aber machen 20, 50 oder 200 Euro mehr wirklich einen Unterschied bei den Lebenschancen junger Menschen? Ist die prekäre Zukunft von Kindern überhaupt ein Phänomen, das sich an einem Kontostand ablesen lässt? Die Erfolgsgeschichten von Menschen, die sich mit der Unterstützung ihrer Familien aus bitterster Armut herausgearbeitet haben, sprechen ebenso gegen diese Lesart von Armut wie die viel zu zahlreichen Biographien von Mitbürgern, die keinen Ausweg aus prekären Verhältnissen finden, auch wenn sie in einem der üppigsten Sozialstaaten der Welt leben.

Viele wichtige Elemente eines erfolgreichen Aufwachsens wie die Möglichkeit von Nachhilfe, Zugang zu kulturellen Angeboten oder auch Schulmahlzeiten lassen sich über pauschalisierte Lösungen rascher und wahrscheinlich auch günstiger zur Verfügung stellen als über komplizierte neue Leistungsgebilde. Vielerlei Möglichkeiten zur Unterstützung sind auf diesen Gebieten heute schon gegeben, etwa durch das so genannte „Bildungspaket“. An dieser Stelle muss wirklich nicht gespart werden, denn auch bei Erhöhungen einzelner Posten wird es sich um kaum erkennbare Summen in den öffentlichen Haushalten handeln. Solange Subventionen in zweistelliger Milliardenhöhe für Industriegiganten rausgeballert werden und die Rentenerhöhungen in Dauerschleife laufen, ist eine Sparsamkeitsdebatte an dieser Stelle wirklich zynisch. Und der riesige Vorteil des Bildungspakets gegenüber der Kindergrundsicherung besteht darin, dass hier wirklich der Einzelfall ins Auge genommen werden kann mit konkreten Unterstützungen.

Kluger Ressourceneinsatz ist gefragt

Wenn man Kinder und junge Menschen zukunftssicher machen will, ist ein Aspekt freilich ungleich wichtiger als Geld: menschliche Zuwendung und Förderung. Wohl jeder wird sich an die ein, zwei, drei Lehrer, Sporttrainer oder Gruppenleiter erinnern, die einem in der Zeit des Aufwachsens an entscheidender Stelle beigestanden und weitergeholfen haben. Menschlich eingebunden und ernstgenommen zu werden, ist wohl das wichtigste Element beim Aufwachsen. Kinder und Jugendliche in prekären Verhältnissen haben da mitunter aus unterschiedlichen Gründen Mangel: Die schrecklichen Fälle, wo Familien aus eigener Kraft keine Inspiration mehr bieten können, weil sie zum Teil schon in zweiter oder dritter Generation in Langzeitarbeitslosigkeit und Abhängigkeit leben. Die Situationen, wo – oft alleinerziehende – Eltern zu sehr in ihrem Beruf eingespannt sind, um genügend Ressourcen aufzubringen. Oder wenn die Familien, bisweilen im klinischen Sinne traumatisiert, sich völlig verunsichert in einer fremden Umgebung zurechtfinden müssen, in die sie vor Not und Krieg geflohen sind.

Anstatt also tausende neue Verwaltungsstellen zu schaffen, sollte man das Geld lieber in Menschen investieren: in Sozialarbeiterinnen, Kita-Erzieher, Lehrerinnen, Psychologen, Ärztinnen und Streetworker. Wir können deutlich mehr davon gebrauchen und können sie auch durchaus besser entlohnen. Eine regelmäßige Unterstützung durch Menschen ist so viel mehr wert als ein paar mehr Euros im Portemonnaie. Das entspricht natürlich nicht dem (Un-)Gerechtigkeitsempfinden, das wir in den letzten Jahrzehnten herangezüchtet haben, und das sich an Kennzahlen orientiert à la „die zehn bestbezahlten Dax-Vorstände verdienen so viel wie alle saarländischen Busfahrer“. Denn diese Ungerechtigkeiten kann man nur durch blanke und oft ineffektive Umverteilung beseitigen. In Menschen zu investieren, die vor Ort helfen können, kann allerdings den einzelnen benachteiligten Kindern gerecht werden und ihnen eine Perspektive für das Leben bieten.