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Photo: Berit Watkin from Flickr (CC BY 2.0)

Von  Prof. Dr. Stefan Kooths, Leiter des Prognosezentrums im Institut für Weltwirtschaft an der Universität Kiel und Professor für Volkswirtschaftslehre an der Business and Information Technology School (BiTS) in Berlin.

Nach dem Brexit-Votum und der harten Haltung von Theresa May auf dem Tory-Parteitag sinnt mancher in Brüssel darauf, an den Briten ein abschreckendes Exempel zu statuieren. Nichts wäre falscher. Nötig ist ein maximal kooperativer Geist, der den Briten Brücken für eine spätere Rückkehr baut.

Der politische Handlungsdruck ist hoch. Ohne rasche Klarheit über die künftigen Beziehungen zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU drohen wirtschaftliche Vorteile auf beiden Seiten einem politisch bedingten Attentismus zum Opfer zu fallen. Die Neuordnung des Verhältnisses ist ein komplexes und in den Details zeitraubendes Unterfangen. Umso wichtiger ist eine rasche Entscheidung in den Grundsatzfragen.

Es wäre viel gewonnen, wenn diese Entscheidung zugunsten einer maximal kooperativen Haltung der EU gegenüber dem Vereinigten Königreich ausfiele. Ein solches Signal würde noch weit vor dem Abschluss der Verhandlungen bereits einen Großteil der Unsicherheit aus der Welt schaffen. Nicht nur die Sorgen um konjunkturelle Effekte sprechen für eine solche Strategie. Diese käme auch der EU-Stabilität zugute, die sich langfristig nur aus ihren genuinen Club-Vorteilen speisen kann, nicht aber aus den Drohgebärden einer Großmachtpolitik. Nicht zuletzt sollten auch deshalb möglichst viele ökonomische Brücken über den Kanal erhalten bleiben, damit auf ihnen die nächste Generation der Briten vielleicht den Weg zurück in die EU finden kann.

EU-Stabilität durch Subsidiarität, nicht durch Abschreckung

Am Vereinigten Königreich wegen des EU-Austritts ein abschreckendes Exempel zu statuieren wäre ein Armutszeugnis für die Europäische Union. Ein Club ist attraktiv, wenn er den Mitgliedern Möglichkeiten eröffnet, die ihrer Natur nach nur gemeinschaftlich erreichbar sind, nicht aber dadurch, dass bei einem Austritt harte Sanktionen drohen. Je konsequenter sich die EU auf echte unionsweite Kollektivgüter konzentriert, desto klarer treten die Vorteile einer Mitgliedschaft hervor. Dem dient unmittelbar das Subsidiaritätsprinzip als Grundpfeiler der EU-Architektur (Artikel 5 Absatz 3 EU-Vertrag). Es stabilisiert die Gemeinschaft, weil so dem andernfalls zutreffenden Eindruck vorgebeugt wird, in Brüssel würden Dinge entschieden, die sich ebenso gut oder besser auf nationaler Ebene behandeln ließen. Es ist daher an der Zeit, nicht länger diejenigen, die auf die Beachtung des Subsidiaritätsprinzips dringen, als „europafeindlich“ zu schmähen. Dieses Prinzip ist keine Bremse der „EU-Skeptiker“, sondern ein seit langem bewährtes Verfahren zur Stabilisierung vertikal strukturierter Gemeinwesen.

Schiefe Bilder, schiefes Denken: Merkantilismus ist ein schlechter Ratgeber

Die Absicht der britischen Regierung, die Arbeitnehmerfreizügigkeit für EU-Bürger zu beschränken, ohne den Zugang zum Binnenmarkt für Güter und Kapital aufzugeben, wird gemeinhin als „Rosinenpickerei“ kritisiert. Dieses Bild ist populär, aber schief. Kommunikativ erweist es dem Integrationsgedanken einen Bärendienst: Wer freien Güter- und Kapitalverkehr als „Rosinen“ und die Arbeitnehmerfreizügigkeit als die dafür zu schluckende Kröte verkauft, darf sich nicht wundern, wenn sich Ressentiments gegenüber Wirtschaftsmigranten verstärken. Ökonomisch besteht ohnehin kein zwingender Nexus zwischen freiem Arbeitsmarktzugang und dem übrigen Binnenmarkt.

Auch die Vorstellung, Freihandel sei eine Rosine, lässt tief blicken in eine Haltung, die immer noch von merkantilistischen Irrtümern durchsetzt ist. Freihandel ist kein Zugeständnis, sondern liegt im allseitigen Gemeinwohlinteresse. Daran ändert sich auch nichts, nur weil die EU als Handelspartner für Großbritannien relativ bedeutsamer ist als umgekehrt. Ebenso wenig taugt indes das Argument, die EU-27 solle wegen des Exportüberschusses gegenüber dem Vereinigten Königreich schonend mit den Briten umgehen. Auch darin äußert sich merkantilistisches Denken, das ebenso zwangsläufig wie überflüssigerweise zwischenstaatliche Konflikte schürt. An Exportüberschüssen lässt sich die Vorteilhaftigkeit des Handels nicht messen, weil Handelsströme in beiden Richtungen für alle Beteiligten nützlich sind. Freier Kapitalverkehr ermöglicht zudem, dass sie auch zeitlich auseinanderfallen können, was einen weiteren Vorteil – wiederum für alle Beteiligten – bewirkt.

Über die Innensicht des Binnenmarktes hinausdenken

So wichtig der Abbau von Handelshemmnissen innerhalb des EU-Binnenmarktes auch ist, die Vorteile des freien Güteraustauschs hören nicht an der EU-Außengrenze auf. Die Binnensicht sollte nicht blind machen für das, was die übrige Welt zu bieten hat. Leider ist es mit dieser emanzipierten Weltoffenheit in der EU nicht allzu weit her. Während Freihandel im Binnenverhältnis mittlerweile weitgehend unstrittig ist, gilt Freihandel mit der übrigen Welt vielen immer noch als suspekt. Das öffnet protektionistischen Partikularinteressen Tür und Tor.

Sichtbar wird dies in der EU-Agrarpolitik und den Akzeptanzproblemen bei neuen Freihandelsabkommen. Auch würde sonst nicht nur zu Recht die Industriepolitik einzelner Mitgliedsländer zugunsten „nationaler Champions“ unterbunden, sondern auch „europäischen Champions“ nicht das Wort geredet. Wettbewerbsdruck durch Marktöffnung statt Flankenschutz durch Industriepolitik wäre die generell richtige Devise – auch auf EU-Ebene. Insgesamt steht man sich somit in den Außenbeziehungen allzu oft mit merkantilistischem Denken selbst im Weg, und genau das droht den Beteiligten jetzt im Brexit-Prozess auf die Füße zu fallen.

Freien Marktzugang als Privileg zu betrachten, um es in dominanter Weise als Druckmittel auszuspielen, wäre primitives Großmachtgehabe und schadete allen. Freier Zugang zum Binnenmarkt für Güter und Kapital bedingt natürlich auch im Sinne von Nicht-Diskriminierung die Akzeptanz der Regeln, die dort für alle Akteure unabhängig von ihrer Nationalität gelten. Über diese Regeln mitentscheiden zu können ist ein genuiner Club-Vorteil, den die EU-Mitgliedschaft bietet. Allein deshalb nimmt Großbritannien mit dem Austritt bereits einen hohen Preis in Kauf, der sich von selbst einstellt. Mit jedem Anschein von zusätzlichen Sanktionen würde sich die EU selbst klein machen, indem sie den Wert ihrer Club-Güter ohne Not geringschätzt.

Gemeinsame Handelspolitik stärken, nicht schwächen

Der kurz nach dem Brexit-Votum erfolgte Schwenk der EU-Kommission, den Ceta-Freihandelsvertrag mit Kanada als gemischtes Abkommen einzustufen, schmälert den Wert der Club-Mitgliedschaft zusätzlich. Da nun eine Beteiligung sämtlicher nationaler und sogar einiger regionaler Parlamente erforderlich wird, dürften nicht nur die Erfolgsaussichten für Ceta merklich sinken, sondern die EU fortan auch als Verhandlungspartner für andere Weltregionen unattraktiver sein. Damit verliert sie in einer wohlbegründeten Gemeinschaftskompetenz an Gewicht, das andernfalls für die internationale Marktöffnung hätte eingesetzt werden können. Die wohl zur Besänftigung EU-kritischer Strömungen gedachte Ceta-Entscheidung verwässert ebenfalls das Subsidiaritätsprinzip, nun aber in umgekehrter Richtung, weil sie die gemeinsame Außenhandelspolitik als Kernaufgabe einer Wirtschaftsunion durchlöchert und so allgemeine Handelsregeln wieder dem Einfluss national-protektionistischer Interessen aussetzt.

Freihandel: Grenzüberwinder mit eingebauter Kooperationsprämie

Wer die EU für schwach hält, solange sie „nur“ den wirtschaftlichen Austausch fördert, verkennt die überragende Rolle, die wirtschaftliche Beziehungen für die friedliche Entwicklung spielen. Es war kein Zufall, die innere Befriedung des freien, westlichen Teils des europäischen Kontinents nach 1945 über die wirtschaftliche Schiene zu suchen (in den Vorläufern der EU wie auch in der Efta). Die Gründe, die dafür damals richtig waren, sind es auch heute noch. Durch ökonomische Interaktion – also Tauschprozesse in allen Varianten – erfahren Menschen in ihrem jeweiligen Kontraktpartner einen Förderer des eigenen Wohlergehens. Tausch ist immer freiwillig, weil er nur zustande kommt, wenn beide Seiten einen Vorteil darin sehen. Kaum eine andere menschliche Interaktionsform hat die Belohnungsprämie für kooperatives Verhalten so sichtbar eingebaut wie die Tauschhandlung; nicht umsonst spricht man von Tauschpartnern und nicht von Tauschgegnern. Aus demselben Grund bedanken sich nach einem Geschäftsabschluss stets beide Parteien gegenseitig.

Damit liefert der Freihandel eine zutiefst befriedende Basis für das Zusammenleben der Menschen über Ländergrenzen hinweg. Letztlich entstehen so friedliche Gesellschaften als Netzwerke massenhafter individueller Beziehungen. Gesellschaftlicher Zusammenhalt lässt sich nicht verordnen, sondern kann sich nur evolutionär einstellen. Freier wirtschaftlicher Austausch ist die beste Grundlage dafür, weil die gemeinsamen Vorteile die Menschen zueinander führen und auf Dauer verbinden. Auf der Basis der sich dann herausbildenden Konsense können – als Abkürzung zur weiteren Verringerung von Transaktionskosten – formale Institutionen entstehen. Diese Institutionen müssen aber dem Konsens folgen, nicht umgekehrt.

Konfliktreiche Nachwirkungen des Protektionismus

Wird freier wirtschaftlicher Austausch indes für längere Zeit blockiert, so richten sich die Preis- und Produktionsstrukturen an diesen Gegebenheiten aus. Hierzu zählen nicht zuletzt die Arbeitsmärkte und Lohnstrukturen. Trotz des Wohlfahrtsverlusts im Allgemeinen gedeihen im Schatten von Zoll- und Migrationsbarrieren auch Renten von Protektionismusgewinnern. Für diese wirkt ein schlagartiger Übergang zu freien Formen des Wirtschaftens disruptiv, weil ihre protegierten Markt- und Einkommenspositionen nahezu über Nacht erodieren. Diese Form von Ad-hoc-Liberalisierung kann daher neben neuen grenzüberschreitenden Kooperationsformen auf Jahre hinaus auch massive innerstaatliche Konflikte schüren. Ursächlich dafür ist indes nicht der freie Markt, sondern es sind die vorausgegangenen Hemmnisse.

Wie eine Staumauer haben sie den ansonsten graduell ablaufenden Anpassungsprozess über lange Zeit aufgehalten. Wenn diese Mauer nun bricht, bleibt für die Betroffenen typischerweise zu wenig Zeit, um sich an die neuen Bedingungen anzupassen. Massive Verteilungskämpfe zwischen Gewinnern und Verlierern bleiben dann nicht aus – sie sind so etwas wie das letzte soziale Gift, das der Protektionismus aus seiner modernden Gruft noch eine Zeitlang verströmt. Beim Übergang zu einem freien gemeinsamen Markt kann daher auch die Geschwindigkeit eine Rolle für die breite Akzeptanz in der Bevölkerung spielen.

Multiple Geschwindigkeiten als Chance für den Integrationsprozess

Mit der EU haben sich die Mitgliedsländer eine Instanz geschaffen, mit der sie ihre gemeinsamen wohlverstandenen Gemeinschaftsinteressen wahren können. In den vier Grundfreiheiten des Binnenmarktes kommen wichtige Gemeinwohlinteressen zum Ausdruck. Dies gilt auch für die Personenfreizügigkeit. Es ist für jeden Bürger eines Mitgliedslandes abstrakt vorteilhaft, die ökonomische Wirkungsstätte innerhalb der EU frei wählen zu können – und nur solche abstrakten Vorteile können überhaupt ein Gemeinwohlinteresse begründen. Die konkrete Ausübung dieser Wahlfreiheit ändert zwangsläufig Knappheitsrelationen, andernfalls lägen gar keine Vorteile durch größere Wahlmöglichkeiten vor. Dies bedeutet aber zugleich, dass es trotz des anonymen Nettovorteils zu Gewinnern und Verlierern kommen kann. Trägt der Grundkonsens in einem Mitgliedsland nicht so weit, dass diese Effekte akzeptiert oder durch Kompensationszahlungen gemildert werden, so entstehen die erwähnten post-protektionistischen Spannungen im politischen Raum.

Im Falle Großbritanniens haben daher wohl vor allem jene für den EU-Austritt gestimmt, die sich – zutreffend oder nicht – als Verlierer der Arbeitnehmerfreizügigkeit betrachten, sei es durch höhere Wohnungspreise oder niedrigere Löhne. Dieses Votum spricht dagegen, die freie Arbeitsmigration auf Biegen und Brechen herbeiverhandeln zu wollen – es würde nur dazu führen, hinter sonst mögliche Kooperationsergebnisse zurückzufallen. Wenn man hingegen konstruktiv alles miteinander vereinbart, was diesseits und jenseits des Kanals konsensfähig ist, wird eine Menge dabei herauskommen. Folgt man behelfsmäßig dem Prinzip der Reziprozität, dann werden sich mit der Zeit auch im Vereinigten Königreich diejenigen durchsetzen, die den Wiedereinstieg in die Arbeitnehmerfreizügigkeit anstreben. Denn diese liegt im wohlverstandenen Gemeinwohlinteresse auch der britischen Bürger. Wenn dies eine Mehrheit der Wähler in einem Mitgliedsland vorübergehend anders sieht, dann braucht dieser Teil des Integrationsprozesses offensichtlich mehr Zeit.

Das wäre nicht der Untergang der EU, auch nicht, wenn einige Mitgliedsländer als Reaktion auf ein maximal kooperatives Brexit-Abkommen ihrerseits die Arbeitnehmerfreizügigkeit beschränken würden. Politisch wird manches gemacht, was Ökonomen für falsch halten. Dagegen hilft nur Einsicht durch überzeugende Argumente, aber kein Druck und schon gar kein Alles-oder-nichts-Ultimatum. Multiple Geschwindigkeiten sind ein probates Mittel, um Integrationsprozesse in Gang zu bringen. Die Langsameren können von den Schnelleren allmählich lernen, wie sich abstrakte Gemeinwohlinteressen konkret in eine bessere ökonomische Entwicklung übersetzen. Solche Einsichten entstehen nicht über Nacht. Aber sobald sie sich einstellen, wird der Integrationsdrang unwiderstehlich. Und genau das macht einen erfolgreichen Club aus: Unwiderstehlichkeit durch Einsicht in den gegenseitigen Vorteil.

Geringfügig geänderte Fassung eines Gastkommentars, der in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) vom 19. September 2016 in der Rubrik „Der Volkswirt“ erschienen ist, online erstmals erschienen beim Kieler Institut für Weltwirtschaft.

Photo: theilr from Flickr (CC BY-SA 2.0)

In dieser Woche hat EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker eine einstündige Rede zur Lage der Union im Europaparlament gehalten. Sie wird nicht in die Geschichtsbücher eingehen, daher erlauben wir uns, ihm eine neue zu schreiben.

Herr Präsident, sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete,

wir alle müssen innehalten. Die Europäische Union kann nicht so weitermachen wie bisher. Die Eurokrise, die Flüchtlings- und Migrationskrise und letztlich auch der drohende Brexit führen uns vor Augen, dass wir unsere Probleme nur unzureichend gelöst und an Attraktivität und Anziehungskraft verloren haben. Die Europäische Union muss sich verändern, um für die Menschen in Europa ein tatsächliches Friedensprojekt zu werden und den Wohlstand der Menschen in Europa zu mehren.

Das erfordert zuerst die Erkenntnis, dass Europa größer ist als die EU. Auch die Schweiz und Norwegen gehören zu Europa. Sie sind in vielerlei Hinsicht Leuchttürme in Europa. Die Europäische Union darf sich nicht länger anmaßen, für ganz Europa zu sprechen. Und wir dürfen uns nicht länger als Oberlehrer gegenüber den kleinen Staaten inner- und außerhalb der EU aufführen.

Viele hier im hohen Haus wollen die Europäische Union zu einem Bundesstaat nach dem Vorbild der Vereinigten Staaten von Amerika entwickeln. Davon halte ich nichts. Ich glaube im Gegenteil, dass ein konföderales Europa souveräner Staaten das Ziel der Union sein sollte. Dies entspricht viel eher dem Wunsch der Bürgerinnen und Bürger in den Mitgliedsstaaten. Wir sollten daher Abschied vom bei vielen zum Dogma gewordenen Grundsatz einer „ever closer union“ nehmen. In der Europäischen Union muss es eine freiwillige vertiefte Zusammenarbeit dort geben, wo ein Konsens erzielt werden kann. Dieser Konsens muss nicht für alle Zeiten gelten, sondern Mitgliedsstaaten müssen ein Rückholrecht erhalten, wenn sich ihre Situation oder Meinung ändert.

Die EU beruht auf dem Konsens seiner Mitglieder. Dieser kann nicht erzwungen werden. Bei der Euro-Schuldenkrise, aber auch bei der jüngsten Flüchtlings- und Migrationskrise sind gemeinsam geschaffene Regeln außer Kraft gesetzt worden. Das darf es nie wieder geben. Deutschland darf nicht am Geist des Dubliner Abkommens vorbei einseitig Flüchtlinge und Migranten nach Deutschland einladen. Und Länder, die Außengrenzen der EU haben, müssen diese konsequent schützen und die unkontrollierte Einreise unterbinden. Nur so läßt sich der Schengenraum aufrechterhalten. Nur so läßt sich die Personenfreizügigkeit erhalten.

Die Kommission als Hüterin des Rechts wird künftig ohne Rücksicht auf die Größe des Mitgliedsstaates Vertragsbrüche einzelner konsequent sanktionieren.  Das gilt sowohl für die Defizitländer Frankreich, Portugal, Italien und erst recht für Griechenland. Seit 6 Jahren schwelt die Krise in Griechenland, ohne dass es nennenswerte Fortschritte gibt. Wir müssen nüchtern erkennen, dass der eingeschlagene Weg nicht erfolgreich war. Daher schlägt die Kommission vor, Griechenland in einem Zeitraum von einem Jahr geordnet aus dem Euro zu führen. Wir wollen den Euro zu einer atmenden Währung weiterentwickeln, weil wir glauben, dass nur so die fiskalische Disziplin in den Mitgliedsstaaten einkehrt.

Der Binnenmarkt ist das verbindende Element. Diesen wollen wir stärken. Wir sollten die Waren- und Dienstleistungsfreiheit und die Kapitalverkehrsfreiheit innerhalb des Binnenmarktes erhalten und sie als Vorbild für eine Renaissance des Freihandels auf der Welt betrachten. Deshalb tritt die EU-Kommission dafür ein, dass überall auf dieser Welt Handelsschranken abgebaut werden. Hierzu werden wir einseitig gegenüber anderen Staaten unsere Handelsschranken beseitigen und laden andere dazu ein, uns gleiches nachzutun.

Wir respektieren, dass Länder die mit uns Handel treiben wollen, nicht automatisch die Personenfreizügigkeit, die wir für richtig und notwendig halten, akzeptieren. Es darf kein „Alles oder Nichts“ für den Zugang zum Binnenmarkt geben.  Wir laden Großbritannien daher ein, ohne Vorbedingungen und ohne Zahlungen in den EU-Haushalt am Europäischen Wirtschaftsraum teilzunehmen. Der Handel der Mitgliedsstaaten mit Großbritannien und umgekehrt ist für beide Seiten von Vorteil.

Wir wollen eine Union sein, die für Marktwirtschaft und gegen ein Modell der Planification steht. Nur die Marktwirtschaft sichert Wachstum und Wohlstand in Europa. Dies setzt voraus, dass neben den Chancen im Markt auch die Übernahme von Verantwortung durch Haftung notwendig ist. Ein EU-Finanzminister mit eigenem Budget oder der nach mir benannte Investitionsplan sind keine geeigneten Maßnahmen, weil sie notwendige Anpassungsprozesse in den Mitgliedsstaaten hinauszögern oder sogar verhindern. Wir wollen stattdessen einen Wettbewerb der Systeme zwischen den Mitgliedsstaaten erreichen, in dem unterschiedliche Währungen, Sozial- und Rechtssysteme um die beste Lösung ringen.  Wir glauben, dass dies der historisch föderalen Struktur in Europa am besten gerecht wird.

Herr Präsident, meine Damen und Herren Abgeordnete,

all dies wird die Europäische Union grundlegend verändern. Daher werde ich heute auf dem EU-Gipfel in Bratislava ein umfangreiches Paket vorschlagen, das notwendige Änderungen der Europäischen Verträge einleitet, die im Rahmen von Volksabstimmungen in den Mitgliedsstaaten gebilligt werden sollten. Lassen Sie mich meine Ausführungen mit einem Zitat des ehemaligen EU-Kommissars Ralf Lord Dahrendorf beenden: „Europa muss Rechtsstaat und Demokratie verkörpern, pflegen und garantieren: sonst ist es der Mühe nicht wert“

Vielen Dank!

Photo: Marcus Holland-Moritz from Flickr (CC BY-SA 2.0)

Von Prof. Dr. Justus Haucap, Gründungsdirektor des Düsseldorfer Instituts für Wettbewerbsökonomie (DICE) an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und Mitglied im Kuratorium von Prometheus.

Mit knapper Mehrheit haben die Briten am 23. Juni 2016 dafür gestimmt, die Europäische Union zu verlassen. Viele Beobachter waren sehr überrascht. Bisher war es noch immer gut gegangen. Selbst als die Franzosen und Niederländer 2005 gegen die Europäische Verfassung stimmten, tat das der Integration keinen Abbruch. „Vorwärts immer, rückwärts nimmer“, so das bisher gültige Motto der EU. Nun aber will zum ersten Mal ein Land die EU wieder verlassen. Es scheint doch nicht alles alternativlos zu sein.

Besonders die wirtschaftlichen Konsequenzen werden für die Briten furchtbar sein, meinen durchaus nicht wenige meiner Kollegen (etwa hier). Die EU hingegen werde den Austritt schon verkraften, aber für die Briten sei ein Brexit desaströs, so die wohl mehrheitliche Meinung. In einer teils doch hysterisch anmutenden Berichterstattung und Kommentierung in den Tagen direkt nach dem Referendum wurden immer wieder zwei Vermutungen geäußert: Zum einen, dass viele Leute (besonders die Engländer und Waliser) wohl einfach zu dumm und zu wenig aufgeklärt seien, um die Vorteile der EU zu verstehen, und zum anderen, dass die alten Bürger zu störrisch sind und den jungen Briten in einem Akt der Misanthropie die Zukunft verbauen wollten. Dabei haben sich sehr viele junge Wähler der Stimme enthalten, weil es ihnen wohl doch nicht so wichtig zu sein schien, ob Großbritannien nun zur EU gehört oder nicht. Von den 18- bis 24-jährigen haben anscheinend nur 36 Prozent ihre Stimme abgegeben. Und auch die These, dass es primär Dummheit, Nationalismus oder gar Rassismus sei, die zu einer Skepsis gegenüber Brüssel führe, zeugt von Hochmut und mangelnder Fähigkeit zu differenzieren. Die Brexiteers sind keine homogene Masse, sondern ein recht heterogener Haufen. Ja, zum einen sind dies britische Nationalisten, aber es sind auch libertäre Ökonomen dabei und Bürger, denen die EU zu zentralistisch, zu bevormundend und zu wenig subsidiär ist.

Ob nun die wirtschaftlichen Konsequenzen für Großbritannien wirklich so dramatisch sein werden, wie manchmal skizziert, ist gar nicht klar. Interessanterweise gab der FTSE100, der Aktienindex der 100 wichtigsten britischen Unternehmen am Tag nach dem Referendum bis zum Börsenende nur um 3,15 Prozent nach. Der DAX hingegen verlor 6,8 Prozent, der französische Index CAC40 8 Prozent und die EuroStoxx 50, die 50 wichtigsten europäischen Aktien, sogar 8,6 Prozent. Mit der Interpretation sollte man vorsichtig sein, aber sicher suggerieren die Zahlen nicht, dass Großbritannien schwer getroffen wird, während es für den Rest der EU kaum etwas ausmacht. Natürlich herrscht nun große Unsicherheit, wie es genau weitergehen wird. Kurzfristig wird es negative Folgen für die britische und europäische Wirtschaft geben. Aber mittelfristig kann der Brexit auch eine Chance sein, sowohl für Großbritannien als auch für die EU.

Vieles wird, sowohl für Großbritannien als auch die EU, letztlich davon abhängen, wie sich die Beziehungen zwischen der EU und Großbritannien ausgestalten werden. Dass es etwa zu einem Handelsembargo kommen wird, ist schwer vorstellbar. Der Freihandel und der Binnenmarkt werden sehr wahrscheinlich bestehen bleiben und damit auch ein Großteil der wirtschaftlichen Vorteile. Dass Großbritannien sich nun möglicherweise nicht an das Verbot von Glühbirnen, Plastiktüten und leistungsstarken Staubsaugern wird halten müssen, dürfte hingegen kaum wirtschaftlich spürbar sein. Auch die Schweiz und Norwegen darben trotz fehlender EU-Mitgliedschaft nicht im Elend, obgleich auch die Freizügigkeit etwa zwischen der Schweiz und den EU-Staaten im Vergleich zur Freizügigkeit innerhalb der EU drastisch eingeschränkt ist (zum Beispiel weil tendenziell nur EU-Bürger mit einem festen Arbeitsplatz oder einem anderweitig ausreichendem Einkommen ihren Wohnsitz in die Schweiz verlegen können). Der Thinktank Open Europe hat dementsprechend im März letzten Jahres prognostiziert, dass die Auswirkungen des Brexits positiv oder negativ sein können – je nachdem, welche Politik ergriffen wird. Denkbar wäre etwa auch, dass die Briten beim transatlantischen Freihandel voranpreschen, während große Teile der verbleibenden EU hier wesentlich zögerlicher sind. Der Austritt der Briten wird in der EU die protektionistischen und fortschrittsfeindlichen Kräfte weiter stärken.

Es mag provokant sein, aber: Die jungen Briten mögen mit ihrer impliziten Einschätzung durchaus recht gehabt haben, dass es letztlich zumindest ökonomisch nicht so einen großen Unterschied macht, ob Großbritannien nun in der EU ist oder nicht. Der Verweis, dass Großbritannien in den vergangenen 40 Jahren seit dem Zutritt zur EU einen starken wirtschaftlichen Aufschwung erlebt hat, stimmt natürlich. Allerdings gilt das auch für die Schweiz und Norwegen und sogar für Australien und Südkorea. Wie viel von diesem Aufschwung etwa auf eine EU-Mitgliedschaft im Vergleich zu einer hypothetischen Beschränkung auf die Mitgliedschaft in der europäischen Freihandelszone (EFTA) zurückzuführen ist, ist völlig unklar.

Europäische und auch deutsche Politiker, die jetzt fordern, die Briten ob ihres demokratischen Ungehorsams besonders deutlich zu bestrafen, werden vor allem auch der deutschen und europäischen Wirtschaft selbst schaden. Vergeltung ist eine ziemlich schlechte Antwort auf eine demokratische Entscheidung. Die EU ist keine Sekte, aus welcher man nicht wieder ohne Androhung von Vergeltungsmaßnahmen austreten darf.

Überhaupt reflektieren die Granden der EU erstaunlich wenig, welcher Reformbedarf denn wohl in Brüssel bestehen könnte. Es ist sicher eine menschlich verständliche Reaktion, die Schuld für das empfundene Desaster bei anderen zu suchen. Daher überrascht es auch nicht wirklich, dass besonders europäische Politiker vor allem über die Briten schimpfen, bei der Europäischen Union und ihren Institutionen jedoch offenbar kein Versagen erkennen können. Dabei ist das Vertrauen vieler Bürger in die Brüsseler Entscheidungsprozesse schon lange erschüttert. Das wiederholte Brechen von Recht (etwa der sogenannten Maastricht-Kriterien oder der Dublin-Verordnung zur Aufnahme von Flüchtlingen) und Versprechen („Kein weiteres Hilfe-Paket/Bail-out für Griechenland“) trägt nicht zur Vertrauensbildung bei. Die Haltung der Brüsseler Eliten, den (etwa dummen) Bürgern einmal zu erklären, was gut für sie ist, stößt auf Skepsis bei vielen. Viele Bürger empfinden etwa die Flüchtlinge nicht als „ein Geschenk wertvoller als Gold“, wie Martin Schulz es im Juni in seiner Heidelberger Hochschulrede ausgedrückt hat. Vielmehr sehen viele die mit der Flüchtlingskrise verbundenen Kosten und Risiken. Die mangelnde Handlungsfähigkeit und -willigkeit der EU führt hier sicher nicht zu einem positiven Bild von der EU. Und es nimmt den Menschen auch nicht die Ängste, sie im Gegenzug als unverbesserliche Rassisten zu beschimpfen. Auch Behauptungen wie die, dass es nie einen Bail-out Griechenlands geben werde oder dass die Energiewende die Bürger nicht mehr als eine Tasse Cappuccino kosten werden, führen zu einer fundamentalen Erosion des Vertrauens in die Politik. Mit Hochmut und Beschimpfungen der Wählerschaft wird man das verloren gegangene Vertrauen nicht zurückgewinnen.

Wie weit die Brüsseler Führung inzwischen von den Bürgern entfernt ist, zeigt die Reaktion Jean-Claude Junckers, der nun nicht innehalten und reflektieren möchte, sondern mit noch mehr Tempo mehr Staaten zur Übernahme des Euro drängen will. Das erinnert an Erich Honeckers Realitätsverlust im August 1989 als er glaubte, den Sozialismus in seinem Lauf hielten weder Ochs noch Esel auf.

Nicht nur die Briten sind nun gefordert. Auch die Europäische Union muss sich grundlegende Gedanken machen, wie es weitergehen soll. Weniger Harmonisierung und weniger Zentralismus sind nicht das Ende der Europäischen Union, vielmehr läge in einer Rückkehr zu einem echten Subsidiaritätsprinzip eine echte Chance, einen europäischen Staatenverbund doch zu einem Erfolg werden zu lassen. Der Brexit kann ein Weckruf zur richtigen Zeit sein, wir benötigen nun eine sachliche und gesellschaftliche Debatte über die Zukunft der EU. Panikmache, Hysterie und Durchhalteparolen sind dagegen fehl am Platz.

Erstmals veröffentlicht auf Merton Magazin.

Die Häme über die mehrheitliche Entscheidung der Briten, die EU zu verlassen, ist immer noch groß. Einige Experten in Brüssel meinen gar, dass es im Herbst vorgezogene Neuwahlen in Großbritannien geben könnte und dann eine Mehrheit indirekt für den Verbleib in der EU stimmen würde. Das Referendum sei ja nicht verbindlich gewesen und könne parlamentarisch auch wieder gekippt werden. Die Brexit-Abstimmung würde ausgehen wie das Hornberger Schießen. Am Ende bliebe alles beim Alten. Bei diesen „Experten“ ist wohl der Wunsch Vater des Gedankens.

Bisher hat die neue britische Regierung alles richtig gemacht. Die Tories hab eine moderate Konservative zur Premierministerin gemacht, die als Brexit-Gegnerin in ihrer neuen Rolle keinen Rückzieher machen kann. Theresa May ist zwar keine Margaret Thatcher, aber sie hat dennoch geschickt alle Flügel ihrer Partei in die Regierung eingebunden. Ihr größter Coup, Boris Johnson das Außenministerium anzudienen, zeigt ihre Cleverness. Gleichzeitig den erfahrenen David Davis zum Minister für den EU-Austritt zu benennen, war ebenfalls schlau. Diese Entscheidung nimmt Boris Johnson aus der Schusslinie der Eurokraten in Brüssel. Das auf dem Festland vielbeschworene Chaos auf der Insel hat sich relativ schnell in Luft aufgelöst. Die Briten machen jetzt in „business as usual“.

Der eilige Antrag auf Austritt aus der Europäischen Union nach Artikel 50 der Europäischen Verträge findet so schnell nicht statt. Allen Aufforderungen Junckers und Schulz zum Trotz, den Austrittsantrag endlich zu stellen, sind die Briten die Herren des Verfahrens. Sie bestimmen, wann und wie der Austrittsantrag erfolgt. Theresa May hat schnell erkannt, dass sich ihre Verhandlungsposition verbessert, wenn sie nicht unmittelbar den Austrittsantrag nach Artikel 50 der Europäischen Verträge stellt, sondern sich akribisch vorbereitet. Deshalb kündigte sie jetzt an, dass Großbritannien die offiziellen Verhandlungen erst in 2017 beginnen wolle. Gleichzeitig bringt sie der EU gegenüber unmissverständlich ihre Entschlossenheit zum Ausdruck, indem sie dem Präsidenten des Europäischen Rates, Donald Tusk mitteilt, dass Großbritannien Mitte 2017 nicht den Vorsitz des Europäischen Rates antreten wolle.

Die Ankündigung der Regierung May, bis zum Austritt aus der EU eigene Freihandelsabkommen mit wichtigen Handelspartner auf dieser Welt abzuschließen, zeigt ebenfalls die Entschlossenheit im Blick auf den Austritt. Hier wird sich zeigen, ob Großbritannien seine große Tradition als Freihandelsnation aufrechterhält. May selbst gilt nicht als brennende Anhängerin der Marktwirtschaft. Auch ob dies realistisch ist und mit den bestehenden Europäischen Verträgen vereinbar ist, muss sich zeigen. Immerhin sind die Briten ja noch EU-Mitglied und Handelsabkommen mit anderen Staaten fallen ausschließlich in die Kompetenz der EU. Aber all dies zeigt, wie entschlossen die Briten sind. Es ist das gute Recht Großbritanniens aus der EU auszutreten. Die Europäischen Verträge sehen diese Möglichkeit explizit vor. Daher wären beide Seiten gut beraten, wenn sie verbal abrüsten würden. Insbesondere wäre es wichtig, dass die Staats- und Regierungschefs den EU-Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker mäßigen würden. Der Europäische Rat ist gemeinsam mit dem austrittswilligen Land verantwortlich. Nicht Jean-Claude Juncker, als Kommissionspräsident trägt die Last der Verhandlung, sondern der Europäische Rat unter seinem Präsidenten Donald Tusk.

Sinnvolles Ergebnis wäre ein Ausscheiden Großbritanniens aus der EU mit einem uneingeschränkten Zugang zum EU-Binnenmarkt und umgekehrt. Dies setzt nicht zwingend auch die Personenfreizügigkeit auf britischer Seite voraus, wie viele Eurokraten in Brüssel meinen. Es gibt keine zwingende Logik, dass ein Land akzeptieren muss, dass der Warenimport oder –export nur möglich ist, wenn jeder EU-Bürger auch nach Großbritannien einwandern darf. So wünschenswert dies auch sein mag, so klar und demokratisch darf sich ein Land auch dagegen aussprechen. Der Austausch von Waren und Dienstleistungen nutzt ja nicht nur den Briten selbst, sondern, auf Deutschland bezogen, sogar vielmehr unserer Wirtschaft und den dortigen Arbeitsplätzen. Immerhin exportieren deutsche Unternehmen Waren und Dienstleistungen im Wert von 90 Milliarden Euro auf die Insel. Es wäre doch absurd, wenn dies nicht mehr möglich wäre, nur weil die Briten deutschen Arbeitnehmern keinen unbeschränkten Zugang zu ihrem Arbeitsmarkt ermöglichen. (Zumal sie selbst die negativen Folgen zu tragen haben.) Da muss man sich schon wundern, wenn in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung eine Umfrage veröffentlich wird, in der sich eine Mehrheit von 56 Prozent in der Bevölkerung und bei den „Entscheidern aus der Wirtschaft“ dafür ausspricht, dass die EU Großbritannien alle Vorteile einer EU-Mitgliedschaft entziehen soll. Hochmut kommt vor dem Fall. Mehr Kleingeistigkeit geht nicht!

Erstmals erschienen auf Tichys Einblick.

Photo: Wikimedia Commons

Die ersten Schockmomente über die Abstimmung zum Brexit sind verflogen. Inzwischen taktieren die Beteiligten, was das Zeug hält. Aktuell machen es die Briten besser als die Rest-EU. Eigentlich hatten die Staats- und Regierungschefs erwartet, dass die britische Regierung bereits beim Europäischen Rat in dieser Woche ein formales Verfahren zum Austritt aus der EU beantragt. Danach würden sich zweijährige Verhandlungen anschließen, an deren Ende eine Vereinbarung stünde, die den Austritt und die danach folgende Zusammenarbeit der Briten mit der Rest-EU regeln sollte. Dies ist bislang nicht geschehen. Stattdessen setzt Noch-Premier David Cameron auf Zeit. Erst kündigt er seinen Rücktritt für Oktober an und besucht, als wenn nichts wäre, den Europäischen Rat in Brüssel als einer von 28. Einen Antrag stellte er jedoch nicht. Und dann winkt auch noch sein potenzieller Nachfolger Boris Johnson ab. Die Torys geben sich führungslos und sind es wahrscheinlich auch. Ob beabsichtigt oder nicht, diese Zeit des Interregnums ist für die Briten sehr hilfreich. So lange sie noch nicht offiziell einen Antrag nach Artikel 50 des EU-Vertrages auf Austritt aus der EU gestellt haben, behalten sie die Oberhand. Sie sind Herr des Verfahrens und gleichzeitig noch vollwertiges Mitglied der EU, mit Sitz und Stimme. Diejenigen, die als Konsequenz aus der Brexit-Entscheidung die EU jetzt noch enger und tiefer entwickeln wollen, benötigen dazu also auch die Zustimmung der Briten.

Die Rest-EU muss daher geduldig auf den ersten Zug der Briten warten. Bis dahin gibt Cameron den Takt vor. Er kann parallel das Feld vorbereiten, bilateral verhandeln und die Lage ausloten, welchen Weg die Briten gehen sollen. Dazu bieten sich mehrere Möglichkeiten an. Die Briten können einen Austritt nach Artikel 50 beantragen und befinden sich dann in einem starren Korsett der Europäischen Verträge. Sie können aber auch außerhalb dieses Regelwerkes einen Austritt verhandeln, an dessen Ende ein völkerrechtlicher Vertrag steht, der die Zusammenarbeit der Rest-EU mit Großbritannien regelt. Egal, welchen Weg sie wählen, die anschließende Zusammenarbeit kann ebenfalls sehr unterschiedlich vereinbart werden. Sie kann aus einer Fülle von Einzelvereinbarungen mit der Rest-EU wie bei der Schweiz bestehen oder aus einer Kollektivvereinbarung mit der Rest-EU wie es der Europäische Wirtschaftsraum EWR bei Norwegen ist.

Vielleicht nutzen die Schweiz und Norwegen auch die Situation, um mit Großbritannien die Europäische Freihandelszone EFTA zu stärken. Bis 1974 gehörte Großbritannien bereits diesem Verbund an. Dies hätte heute durchaus seinen Charme. Derzeit besteht der lose Zusammenschluss lediglich aus den 14 Millionen Bürgern Norwegens, der Schweiz, Islands und Liechtensteins. Mit Großbritannien würden auf einen Schlag weitere 65 Millionen Bürger hinzukommen, die es der EFTA erlaubten, den Handel mit der EU auf Augenhöhe verhandeln zu können. Derzeit müssen die übrigen Staaten in Europa bis 2018 rund 2,8 Milliarden Euro auf den Tisch legen, damit sie überhaupt den Zugang zum EU-Binnenmarkt erhalten. So eine Maßnahme kann die EU nur deshalb durchsetzen, weil die Binnenmärkte der vier EFTA-Staaten sehr klein sind. Kommen die Briten hinzu, dann ändert sich die Verhandlungssituation erheblich zugunsten der EFTA-Staaten. Das wäre sehr gut. Denn aktuell ist der EU-Binnenmarkt eine Wagenburg. Wer drin ist, kann die Vorteile nutzen. Wer rein will, muss vorab ein Handgeld bezahlen.

Dieses Verständnis folgt einem alten Denken aus der Zeit vor der Industrialisierung. Damals ging es darum, Reichtümer zu Lasten anderer anzusammeln. Man glaubte, dass die Wirtschaft ein Nullsummenspiel sei. Was der eine mehr hat, verliert der andere. Doch die Marktwirtschaft ist nicht so. Sie ist kein Nullsummenspiel, sie ist eine Win-Win-Situation. Beide Seiten profitieren in einer offenen Wirtschaft. Wenn, wie beim EU-Binnenmarkt, Marktteilnehmer der Zutritt verwehrt wird, dann schadet dies nicht nur den Marktteilnehmern, die nicht hinein dürfen, sondern auch den potenziellen Käufern dieser Waren und Dienstleistungen. Sie können weniger gut auswählen, weil das bestehende Angebot teurer und schlechter ist als in einem offenen Markt.

Beide Seiten müssen daher ein Interesse daran haben, den Markt möglichst weit zu öffnen. Dass die EU die kleinen Staaten, wie einst der Pharao im alten Ägypten tributpflichtig macht, hat korrupte Züge. Der Brexit ist ein guter Anlass, diese Praxis endlich zu beenden.

Erstmals erschienen in der Fuldaer Zeitung am 2.7.2016.