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Die ersten Schockmomente über die Abstimmung zum Brexit sind verflogen. Inzwischen taktieren die Beteiligten, was das Zeug hält. Aktuell machen es die Briten besser als die Rest-EU. Eigentlich hatten die Staats- und Regierungschefs erwartet, dass die britische Regierung bereits beim Europäischen Rat in dieser Woche ein formales Verfahren zum Austritt aus der EU beantragt. Danach würden sich zweijährige Verhandlungen anschließen, an deren Ende eine Vereinbarung stünde, die den Austritt und die danach folgende Zusammenarbeit der Briten mit der Rest-EU regeln sollte. Dies ist bislang nicht geschehen. Stattdessen setzt Noch-Premier David Cameron auf Zeit. Erst kündigt er seinen Rücktritt für Oktober an und besucht, als wenn nichts wäre, den Europäischen Rat in Brüssel als einer von 28. Einen Antrag stellte er jedoch nicht. Und dann winkt auch noch sein potenzieller Nachfolger Boris Johnson ab. Die Torys geben sich führungslos und sind es wahrscheinlich auch. Ob beabsichtigt oder nicht, diese Zeit des Interregnums ist für die Briten sehr hilfreich. So lange sie noch nicht offiziell einen Antrag nach Artikel 50 des EU-Vertrages auf Austritt aus der EU gestellt haben, behalten sie die Oberhand. Sie sind Herr des Verfahrens und gleichzeitig noch vollwertiges Mitglied der EU, mit Sitz und Stimme. Diejenigen, die als Konsequenz aus der Brexit-Entscheidung die EU jetzt noch enger und tiefer entwickeln wollen, benötigen dazu also auch die Zustimmung der Briten.
Die Rest-EU muss daher geduldig auf den ersten Zug der Briten warten. Bis dahin gibt Cameron den Takt vor. Er kann parallel das Feld vorbereiten, bilateral verhandeln und die Lage ausloten, welchen Weg die Briten gehen sollen. Dazu bieten sich mehrere Möglichkeiten an. Die Briten können einen Austritt nach Artikel 50 beantragen und befinden sich dann in einem starren Korsett der Europäischen Verträge. Sie können aber auch außerhalb dieses Regelwerkes einen Austritt verhandeln, an dessen Ende ein völkerrechtlicher Vertrag steht, der die Zusammenarbeit der Rest-EU mit Großbritannien regelt. Egal, welchen Weg sie wählen, die anschließende Zusammenarbeit kann ebenfalls sehr unterschiedlich vereinbart werden. Sie kann aus einer Fülle von Einzelvereinbarungen mit der Rest-EU wie bei der Schweiz bestehen oder aus einer Kollektivvereinbarung mit der Rest-EU wie es der Europäische Wirtschaftsraum EWR bei Norwegen ist.
Vielleicht nutzen die Schweiz und Norwegen auch die Situation, um mit Großbritannien die Europäische Freihandelszone EFTA zu stärken. Bis 1974 gehörte Großbritannien bereits diesem Verbund an. Dies hätte heute durchaus seinen Charme. Derzeit besteht der lose Zusammenschluss lediglich aus den 14 Millionen Bürgern Norwegens, der Schweiz, Islands und Liechtensteins. Mit Großbritannien würden auf einen Schlag weitere 65 Millionen Bürger hinzukommen, die es der EFTA erlaubten, den Handel mit der EU auf Augenhöhe verhandeln zu können. Derzeit müssen die übrigen Staaten in Europa bis 2018 rund 2,8 Milliarden Euro auf den Tisch legen, damit sie überhaupt den Zugang zum EU-Binnenmarkt erhalten. So eine Maßnahme kann die EU nur deshalb durchsetzen, weil die Binnenmärkte der vier EFTA-Staaten sehr klein sind. Kommen die Briten hinzu, dann ändert sich die Verhandlungssituation erheblich zugunsten der EFTA-Staaten. Das wäre sehr gut. Denn aktuell ist der EU-Binnenmarkt eine Wagenburg. Wer drin ist, kann die Vorteile nutzen. Wer rein will, muss vorab ein Handgeld bezahlen.
Dieses Verständnis folgt einem alten Denken aus der Zeit vor der Industrialisierung. Damals ging es darum, Reichtümer zu Lasten anderer anzusammeln. Man glaubte, dass die Wirtschaft ein Nullsummenspiel sei. Was der eine mehr hat, verliert der andere. Doch die Marktwirtschaft ist nicht so. Sie ist kein Nullsummenspiel, sie ist eine Win-Win-Situation. Beide Seiten profitieren in einer offenen Wirtschaft. Wenn, wie beim EU-Binnenmarkt, Marktteilnehmer der Zutritt verwehrt wird, dann schadet dies nicht nur den Marktteilnehmern, die nicht hinein dürfen, sondern auch den potenziellen Käufern dieser Waren und Dienstleistungen. Sie können weniger gut auswählen, weil das bestehende Angebot teurer und schlechter ist als in einem offenen Markt.
Beide Seiten müssen daher ein Interesse daran haben, den Markt möglichst weit zu öffnen. Dass die EU die kleinen Staaten, wie einst der Pharao im alten Ägypten tributpflichtig macht, hat korrupte Züge. Der Brexit ist ein guter Anlass, diese Praxis endlich zu beenden.
Erstmals erschienen in der Fuldaer Zeitung am 2.7.2016.
Im Grunde ist es doch so, dass die Europäische Union allen Nachbarn mit Protektionismus droht, die sich weigern, die EU-Gesetze und Rechtsprechung zu übernehmen und als Vasallen Tribut zu zahlen. Vorbild ist anscheinend die Großmachtpolitik des römischen Kaiserreichs. Protektionismusdrohungen als Mittel der Politik? Wie verträgt sich das mit der Präambel des EU-Vertrags, wonach die EU entschlossen ist, den „Fortschritt in Europa und in der Welt zu fördern“?