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Photo: Michael Schmid from Flickr (CC BY-SA 2.0)

Demokratie ist einer jener Begriffe, die außerordentlich positiv besetzt sind. Aber bezüglich der Frage, was genau gemeint ist, gehen die Meinungen deutlich auseinander. Meistens steht dabei die Technik im Vordergrund. Dabei spielt die Größe mindestens eine genau so wichtige Rolle.

Der Begriff Demokratie ist banalisiert

Demokratisch – das ist moralisch, das ist sozial, das ist vernünftig. Demokratisch ist gut. Umgekehrt gilt natürlich: alles was schlecht ist, ist notwendigerweise undemokratisch. Der Begriff Demokratie ist inzwischen komplett banalisiert. Er transportiert keinen wirklichen Informationsgehalt mehr. Nur ein gutes Gefühl moralischer Überlegenheit. Das hat natürlich Folgen für die öffentliche Kommunikation. Wenn beispielsweise mehr Kompetenzen an EU-Institutionen abgegeben werden, muss man nur das Etikett Demokratisierung aufkleben und schon verkauft es sich blendend. Wer dann Zweifel an der Funktionsfähigkeit oder der Rechtsstaatlichkeit von Zentralisierungen anmeldet, findet sich unversehens in der Ecke der Demokratiefeinde wieder.

Dasselbe gilt für die Akzeptanz von Mehrheitsentscheidungen. Wer eine Entscheidung ablehnt, die im Parlament oder in einer Volksabstimmung mehrheitlich beschlossen wurde, ist in den Augen vieler dann ein schlechter Demokrat. Als ob man als guter Demokrat seine Meinung ändern müsste, sobald sie nicht mehr mit der Mehrheit übereinstimmt. Überhaupt: der Mehrheitsaspekt. Er dominiert unser Demokratieverständnis fast komplett. Dass sie dabei oft, wie der französische Intellektuelle Alexis de Tocqueville schrieb, zu einer „Tyrannei der Mehrheit“ auszuarten droht, wird hingegen nur selten thematisiert. Denn: Demokratie ist gut.

Demokratie hängt eng mit Föderalismus und Subsidiarität zusammen

Demokratie ist aber wesentlich mehr als nur, „dass zehn Füchse und ein Hase darüber abstimmen können, was es zum Abendessen gibt“, wie es Vince Ebert einmal schelmisch formulierte. Demokratie ist auch, wie Karl Popper es beschrieb, die Möglichkeit des unblutigen Regierungswechsels. Demokratie ist auch die Möglichkeit, Entscheidungen zu revidieren und aus Fehlern zu lernen. Demokratie ist auch die Vielfalt an Partizipationsmöglichkeiten, die sich in Elementen wie Gewaltenteilung und Volksabstimmungen widerspiegelt. Und Demokratie hat sehr viel mit Föderalismus und Subsidiarität zu tun.

Der Publizist Rahim Taghizadegan hat in einem lesenswerten Essay über Demokratie auf die Wortwurzel des Begriffs hingewiesen. Demokratie korrekt übersetzt heißt nämlich nicht Volksherrschaft, sondern „Selbstverwaltung der kleinsten Einheit“, der „Deme“. Es ist kein Zufall, dass die Demokratie in den ziemlich überschaubaren Stadtstaaten des alten Griechenland seinen Ursprung nahm und nicht im gigantischen Perserreich. Es ist kein Zufall, dass die moderne Demokratie zunächst in den kleinen Kantonen der Schweiz heranwuchs und nicht in den großen Zentralstaaten des Mittelalters und der frühen Neuzeit.

Der selbstbestimmte und mündige Bürger

Demokratie hat auch sehr viel mit Verantwortungsfähigkeit und -bewusstsein zu tun. Darum ist die nicht selten zu vernehmende Forderung nach dem „mündigen Bürger“ auch absolut richtig. Denn es geht um Selbstverwaltung – oder noch deutlicher: um Selbstbestimmung. Je größer die Menschengruppe wird, in der Entscheidungen demokratisch getroffen werden, umso weniger erkennt man die unmittelbaren Auswirkungen der Entscheidungen, umso leichter fällt das Sozialisieren.

Das ist bei kleinen Einheiten nicht der Fall: Wenn etwa in einer Stadt über Gewerbesteuern oder Infrastrukturmaßnahmen diskutiert wird, dann werden die Vor- und Nachteile sehr schnell deutlich werden. Dann steht die Abwägung von Kosten und Nutzen tatsächlich zur Debatte. In einem großen Staat wie Deutschland oder Frankreich und erst recht in einem Gebilde wie der EU werden solche Entscheidungen hingegen anonymisiert, unüberschaubar und mithin sozialisiert. Irgendjemand zahlt, irgendjemand empfängt – aber keiner hat mehr wirklich den Überblick oder gar die Kontrolle. Selbstbestimmung ade!

Jeder Bürger als Wächter seiner eigenen Interessen

Die Demokratie war schon in ihrer Entstehungszeit nicht ausgelegt auf Imperien, sondern auf Städte und kleine Einheiten. Auf Einheiten, in denen die Stimme noch wirklich etwas zählt; in denen der Einzelne noch die Möglichkeit hat, durch seinen Einsatz eine Entscheidung zu beeinflussen. Wer das Demokratiedefizit der EU beheben möchte, sollte deshalb nicht auf eine Ausweitung der Kompetenzen des Europäischen Parlaments oder eine Direktwahl des Kommissionspräsidenten hinwirken. Wirkliche Demokratisierung würde darin bestehen, so viele Kompetenzen wie möglich auf so kleine Ebenen wie möglich zurück zu verlagern.

Je mehr der Bürger selbst entscheiden kann, umso demokratischer ist ein System. Je mehr Menschen von gemeinsamen Entscheidungen betroffen sind, umso undemokratischer ist ein System. Es kommt eben nicht nur auf die Technik an, sondern auch auf die Größe. Und da gilt: small is beautiful! Der englische Historiker Lord John Acton brachte das in einem Vortrag zur Geschichte der Freiheit einmal sehr schön auf den Punkt, als er die Anfänge der Demokratie in Griechenland schilderte „Indem Solon jeden Bürger zum Wächter seiner eigenen Interessen machte, führte er das demokratische Element in den Staat ein.“

Demokratie bedeutet in erster Linie Selbstverantwortung. Dazu gehört die Möglichkeit, sein Leben selber in die Hand zu nehmen. Und deshalb gehört dazu ein Staat, der sich so weit wie möglich aus dem Leben, dem Portemonnaie und der Privatsphäre seiner Bürger zurückzieht. Aber genau so gehört dazu die Fähigkeit, sein Leben selber in die Hand zu nehmen. Diese Fähigkeit lernen wir Menschen am besten, wenn wir die Konsequenzen unserer Handlungen und Entscheidungen spüren. Und dafür brauchen wir die kleinen Einheiten.

Photo: Wikimedia

Von Kalle Kappner, ehemaliger Mitarbeiter von Frank Schäffler im Bundestag, Promotionsstudent an der Humboldt-Universität zu Berlin und Research Fellow bei IREF – Institute for Research in Economic and Fiscal Issues.

Die Schweiz als Vorbild für die Organisation der Bundesländer

Alle Jahre wieder regen Experten aus der Wissenschaft, den Verbänden und der Politik die Fusion deutscher Länder an: Thüringen und Sachsen-Anhalt sollen zusammengelegt werden, die Länder Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern und Hamburg zu einem „Nord-Staat“ fusionieren, die anderen Stadtstaaten mit den sie umgebenden Flächenstaaten verschmelzen. Die Fusionsbefürworter versprechen sich davon Einsparungen in der Verwaltung, schnellere Gesetzgebungsverfahren und einheitlichere Standards etwa in der Bildungspolitik. Als Positivbeispiel wird die 1952 erfolgte Fusion dreier Länder zum heute finanziell gut aufgestellten Baden-Württemberg bemüht. Augenscheinlichen Vorteilen stehen jedoch erhebliche Nachteile gegenüber. Der Wettbewerb um Einwohner und Unternehmen regt zu lokalen Experimenten an, fördert die regionale Vielfalt staatlicher Leistungen und erlaubt den Bürgern eine bessere Kontrolle des Staates.

In der Bevölkerung, die Länderfusionen per Volksentscheid abzusegnen hat, fällt das Urteil gemischt aus. So scheiterte 1996 der Versuch, Berlin und Brandenburg zusammen zu legen, da das notwendige Quorum von 25% der abstimmungsberechtigten Bevölkerung nicht erreicht wurde. Unter den Abstimmenden sprachen sich damals 63% gegen die Fusion aus. Andererseits setzen sich zivilgesellschaftliche Initiativen für verschiedene Fusionsmodelle ein. 2007 kam eine Bertelsmann-Studie zu dem Ergebnis, dass 40% der Bevölkerung Länderfusionen grundsätzlich befürworten – in der Hälfte der Länder waren die Fusionsbefürworter sogar in der Mehrheit. Eine aktuelle Umfrage findet dagegen, dass nur 28% der Bürger Fusionen befürworten, während 69% diese ablehnen.

Kaum Kostenersparnis durch Fusionen

Ein Argument der Fusionsbefürworter sind die Kosteneinsparungen, die sie sich aus dem Wegfall paralleler Verwaltungsstrukturen erhoffen. Landesparlamente, Ministerien und andere Verwaltungseinheiten auf Landesebene würden zusammengelegt und könnten ihr Personal verringern. Viel zitiert wird eine Berechnung des Bundes der Steuerzahler, die Einsparungen von bis zu 500 Millionen Euro pro Jahr verspricht.

Im Verhältnis zu den Staatsausgaben erscheint dieser Betrag jedoch verschwindend gering. 2014 gaben die Länder 341 Milliarden Euro aus. Die prognostizierten Einsparungen entsprechen damit etwas mehr als 1 Promille der Länderausgaben. Dem müssen die anfallenden Einmalkosten für die Verwaltungsumstrukturierung gegengerechnet werden.

Wenn zwei Länder fusionieren ohne dabei ihr Leistungsangebot einzuschränken, verringern sich dadurch die meisten Kosten nicht – das Polizeipersonal, die Anzahl der Kindergärtner und der Lehrer bleibt konstant. Einspareffekte durch Skaleneffekte bei der Bereitstellung von öffentlichen Gütern können auch ohne Fusionen durch Staatsverträge und eine Erleichterung der grenzüberschreitenden Kooperation erreicht werden. Bei den Ländern besteht zwar tatsächlich erhebliches Sparpotenzial: Einige traditionelle Tätigkeitsbereiche der Länder wie zum Beispiel der Betrieb von Lotterien und landeseigener Banken sind verzichtbar, Subventionen für die regionale Wirtschaft ebenfalls. Doch hier sind Einsparungen nicht durch Länderfusionen, sondern durch eine Neudefinition der Aufgaben der Länder zu erreichen.

Fusionen schwächen Länderwettbewerb

Den geringen Kosteneinsparungen durch Länderfusionen steht eine Reduzierung der aus einem föderalen Staatsaufbau entspringenden Vorteile gegenüber. Die institutionelle Vielfalt der verschiedenen Gebietskörperschaften auf denselben Verwaltungsebenen hat für die Bürger viele Vorteile: Sie können zwischen unterschiedlichen Kombinationen aus Steuersätzen, Regulierungen und staatlichen Leistungen wählen. Zugleich sorgt der Wettbewerb zwischen den Gebietskörperschaften für eine höhere Qualität des Leistungsangebots bei niedrigeren Steuern, als dies in einem vollständig zentralisierten Staat der Fall wäre. Darüber hinaus schafft der Föderalismus Raum für lokale Experimente, die im Erfolgsfall von anderen Gebietskörperschaften nachgeahmt werden können, deren Auswirkungen beim Scheitern des Experiments jedoch regional begrenzt bleiben.

Durch Länderfusionen würde der in Deutschland ohnehin schon schwach ausgeprägte innerstaatliche Wettbewerb weiter abgeschwächt. Den verbliebenen Ländern fiele es noch leichter, stabile Kartelle zur Durchsetzung hoher Steuersätze bei mäßiger Qualität des Leistungsangebots zu bilden. Werden diese Effekte mit einkalkuliert, so erscheint es unwahrscheinlich, dass Länderzusammenlegungen langfristig zu Einsparungen führen – das Gegenteil ist zu erwarten. Statt den innerstaatlichen Föderalismus weiter abzuschwächen, sollte Deutschland über eine Aufwertung der Rolle der Gemeinden und Länder nachdenken. Statt mit dem französischen Modell zu liebäugeln, lohnt sich ein Blick auf die Schweiz.

Vorbild Schweiz: Mehr Subsidiarität

In der Schweiz bilden die Kantone die zwischen Zentralstaat und Gemeinden angesiedelte Verwaltungsebene. Auf jeden der 26 Kantone kommen durchschnittlich 300.000 Einwohner, während auf ein deutsches Land durchschnittlich etwa 5 Millionen Einwohner entfallen. In Bezug auf den Umfang der Verwaltungseinheit entsprechen die Schweizer Kantone damit eher den 402 deutschen Landkreisen und kreisfreien Städten.

Einwohner pro Kanton - BL

 

Zugleich sind die schweizerischen Kantone finanziell weitaus autonomer als die deutschen Länder. Zwar fällt in beiden Staaten jeweils etwa die Hälfte des Steueraufkommens den mittleren und unteren Verwaltungsebenen zu. Doch in Deutschland wurden 2014 nur 11,7% des Steueraufkommens mittels Landes- und Gemeindesteuern erhoben, also über Steuerarten, deren Setzungskompetenz nicht in den Händen des Bundes liegt. Ein Großteil der Steuereinnahmen der Länder speist sich aus vom Bund administrierten Gemeinschaftsteuern, deren Höhe und Steuerbasis die Länder nicht beeinflussen können. Die Schweizer Kantone und Gemeinden dagegen beziehen über 90% ihrer Steuereinahmen aus Steuerarten, über deren Setzungskompetenz sie selbst verfügen.

Die Schweizer Kantone können die Präferenzen der Bevölkerung durch ihre geringere Größe besser abbilden als ihre deutschen Pendants. Zugleich reagieren sie aufgrund ihrer steuerpolitischen und gesetzgeberischen Kompetenzen schneller auf sich wandelnde Ansprüche der Bürger. Geschadet hat dies den Schweizern nicht: Das Schweizer Pro-Kopf-Einkommen betrug 2014 etwa das 1,3fache des deutschen. Im Better Life Index der OECD, der die Zufriedenheit der Bürger misst, schneidet die Schweiz in allen Kategorien besser ab als Deutschland. Das Beispiel Schweiz liefert empirische Unterstützung für die theoretischen Argumente für mehr Länderautonomie. Anstatt Bundesländer zusammenzulegen und den Trend zu einem Einheitsstaat zu verstärken, sollte die Autonomie der Länder gestärkt und die Aufgliederung von Bundesländern in Betracht gezogen werden.

Erstmals erschienen bei IREF – Institute for Research in Economic and Fiscal Issues.

Photo: John Pannell from Flickr (CC BY 2.0)

Jetzt drückt der Wahlgewinner David Cameron auf die Tube. Schon im Sommer 2016 möchte er die Briten über den Verbleib in der Europäischen Union abstimmen lassen. Er will die Gunst der Stunde nutzen und setzt die Staats- und Regierungschefs und die EU-Kommission unter Druck. Denn seit seiner viel beachteten Europa-Rede im Januar 2013 ist nicht viel passiert. Man gewinnt vielmehr den Eindruck, das restliche EU-Europa wäre froh, wenn die ständig nörgelnden Briten endlich die „Schicksalsgemeinschaft“ verlassen würden.

Gerade in Deutschland widmet man dem Verbleib Griechenlands im Euro-Club eine viel größere Aufmerksamkeit als dem Weg des Vereinigten Königreichs in Europa. Dabei ist die Bedeutung Griechenlands für den Wohlstand in Deutschland von untergeordneter Bedeutung. Aus Griechenland wurden 2014 nach Deutschland lediglich 1,73 Milliarden Euro Waren importiert und lediglich knapp 5 Milliarden Euro exportiert. Jedoch exportieren heimische Unternehmen über 76 Milliarden Euro Waren und Dienstleistungen auf die Insel. Für britische Unternehmen ist Deutschland der wichtigste Handelspartner. Von dort werden für 42 Milliarden Euro Güter und Dienstleistungen nach Deutschland exportiert.

Das scheint EU-Parlamentspräsident Martin Schulz egal zu sein. Er hat schon einmal vorgebaut. Nicht infrage komme, dass die Briten vor der Volksabstimmung Forderungen stellten nach dem Motto: „Sagt uns mal, was ihr uns gebt, dann sagen wir Euch, ob wir bleiben.“ Unabhängig davon, dass Schulz damit die bisherige Entscheidungsfindung in der Europäischen Union präzise beschrieben hat, tut er Cameron in diesem Fall unrecht. Cameron hat in seiner Rede in Davos 2013 tiefgreifende Reformen angemahnt und eine Trendumkehr für eine Europa von unten gefordert. Mehr vom Gleichen werde keinen Vorteil bringen, sondern die ökonomische Misere befördern. Es war ein leidenschaftliches Plädoyer gegen den Zentralismus in der EU. Die Europäische Union steckt spätestens seit der Eurokrise in der Sackgasse: Sie ist zu zentralistisch, wo Non-Zentralismus und ein Systemwettbewerb gefragt wäre. Sie ist zu willkürlich, wo Rechtsstaatlichkeit notwendig wäre. Und sie ist zu planwirtschaftlich, wo Marktwirtschaft erforderlich wäre.

Die Antwort der Kommission und des EU-Parlaments sind Forderungen nach immer neuen Kompetenzen und mehr Macht in Brüssel. Diese Antwort ist zentralistisch, wenn es um die Steuerbemessungsgrundlagen von Unternehmen, um die Beaufsichtigung von Banken oder die Sammelwut von persönlichen Daten geht. Sie ist willkürlich, wenn es um die Auslegung der gemeinsamen Verträge geht, ob es die Maastricht-Kriterien waren oder ob es der Fiskalpakt ist: immer wird mindestens ein Auge zugedrückt. Und sie ist planwirtschaftlich, weil die Kommission und das Parlament glauben, dass Wirtschaftswachstum und Wohlstand – wie aktuell durch den Juncker-Plan – durch öffentliche Investitionslenkung erzielt werden können.
Hinter dieser freiheitszerstörenden Entwicklung steckt der Glaube an das Primat der Politik. Doch Europa muss dem Primat von Recht und Freiheit folgen. Großbritannien hat dafür eine Schlüsselrolle in der Europäischen Union inne. Das Vereinigte Königreich mit seiner jahrhundertelangen Tradition der Marktwirtschaft, des Freihandels und des Rechts ist natürlicher Verbündeter eines non-zentristischen Europas. Namen wie John Locke, Adam Smith, John Stuart Mill und Lord Acton stehen bis heute für diese große Freiheitstradition. Scheidet Großbritannien aus der Staatengemeinschaft aus, verschiebt sich das Koordinatenkreuz in der Europäischen Union zum Unguten. Die Zentralisten, Planer und Umverteiler würde in einer EU der dann 27 noch mehr Überhand gewinnen. Die Gewichte würden sich noch stärker, noch schneller und noch unumkehrbarer in Richtung Südeuropa verschieben.

Die wichtige Rolle Großbritanniens für die Europäische Union zeigte sich vor zwei Jahren bei den Verhandlungen über den Finanzrahmen der Europäischen Union. Damals wollte Cameron die Mittel für die EU radikal kürzen. Kommission, Südländer und EU-Parlament wollten dagegen die Mittel massiv erhöhen. Es war die vermittelnde Seite Deutschlands, die ein Einfrieren des EU-Haushaltes erreichen konnte. Dies wäre ohne die radikale Position der Briten nie gelungen. Scheidet Großbritannien aus, dann hält kein Damm mehr.

Die Europäische Union braucht jetzt eine offene Diskussion über ihre weitere Entwicklung, die bereits vor dem Referendum in Großbritannien geführt werden muss. Die Antwort auf ein Europa des Zentralismus, der Willkür und der Planwirtschaft muss eine Europa von Recht und Freiheit sein, das einen Wettbewerb der Regionen und Staaten zulässt und die Marktwirtschaft als tragende Gesellschaftsordnung manifestiert. In diesem Europa sollen tausend Blumen blühen.

Erstmals erschienen auf Tichys Einblick.

Von Dr. Fritz Goergen, Historiker und Publizist, ehemaliger Bundesgeschäftsführer der FDP und Geschäftsführer der Friedrich-Naumann-Stiftung.

Mit der Schaffung des Bundesstaates 1848 folgte der Vorläufer der Schweizer FDP, der Freisinn weniger dem Geist der Eidgenossenschaft als Napoleons. Lange Zeit sorgten Eigenständigkeit und Eigensinn der Gemeinden, Städte und Kantone dafür, dass vieles trotzdem dezentral blieb. Doch der Einstieg in die Entstehung von immer mehr zentraler Macht war mit dem Bundesstaat getan. Ein Staatenbund wäre die Schweizer Logik gewesen. Doch der Zeitgeist war 1848 zu stark.

Die langsame Zentralisierung verlief und verläuft immer noch doppelt. Zum Bund nach Bern, aber auch – weniger im Blick der Öffentlichkeit – innerhalb der Kantone. Der Unterschied zwischen den Kantonen ist immer noch beachtlich. Aber aufs Ganze gesehen, haben die Gemeinden Macht an die Kantone verloren. Gemeinden haben sich zusammengeschlossen. Effizienz ist immer die Begründung. Eingestellt hat sie sich meist nicht. Und die Bürgernähe nahm stets ab. Dazu trägt außerdem bei, dass die Verwaltungen der Kantone manches lautlos unter sich regeln – ohne politische Entscheidung.

Dass Deutsche und Österreicher die Schweiz immer noch als sehr direkt-demokratisch erleben, liegt am Grad der Zentralität in ihren Ländern und noch mehr an der Schweizer Volksabstimmung. Von der kritischen Diskussion des veränderten Umgangs – nicht zuletzt der Schweizer Parteien – mit dem Instrument der Volksinitiative kriegt die Öffentlichkeit der deutschsprachigen Nachbarn wenig mit.

Schaue ich auf die ausstehende Lösung zwischen der Schweiz und der EU in der Einwanderungsfrage und nehme zugleich die viel heißeren Themen Griechenland, Ukraine und das Verhältnis der EU zu den USA hier, Russland dort und China nicht zu vergessen dazu, drängt sich mir ein Gedanke auf. Gibt es nicht einen naheliegenden Lösungspfad für alles zusammen, nämlich den der Föderalisierung, der Dezentralität?

Der bessere Weg für die Schweiz ist nicht mehr EU, sondern der bessere Weg für die EU ist mehr Schweiz. Und zwar nicht nur im heutigen Dezentralitätsgrad der Schweiz, sondern vorwärts zurück zu einer echten Föderation, die der Freisinn 1848 dem Zeitgeist – einschließlich mancher früher industrieller Interessen – opferte.

Fußnote für europäische Krisengebiete besonderer Art: Wo regionale Föderalisierung allein nicht reicht, ist sie auch personal möglich – für spezielle Gruppen, die regional verstreut ihre Identität suchen und gleichzeitig dem Regionalverband verbunden bleiben wollen.

Photo: Alphornvereinigung Pilatus Kriens from Flickr