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Photo: tommy@chau from Flickr (CC BY 2.0)

Von Dr. Titus Gebel, Unternehmer, Mitgründer der Deutsche Rohstoff AG.

Europas große Stärke war immer seine Vielfalt. Alle Versuche in der Geschichte, den Kontinent unter eine einheitliche Herrschaft zu bringen, sind letztlich gescheitert. Derzeit versucht es die EU und das Ergebnis wird dasselbe sein. Denn ab einem gewissen Umfang ist eine weitere Vereinheitlichung schlichtweg eine totalitäre Gleichschaltung, die Widerstand hervorruft. Den Vorteilen, die Einheitslösungen haben, stehen mannigfaltige Nachteile gegenüber. Der größte ist die Ausschaltung von Wettbewerb und von Alternativlösungen. Auch das angeblich so wichtige Subsidiaritätsprinzip ist mit einer größtmöglichen Vereinheitlichung, wie sie die EU unter dem Schlagwort „Harmonisierung“ betreibt, nicht vereinbar. Vereinheitlichung erfordert immer Zentralisierung.

Wir haben während der letzten 200 Jahre die bisher größte Steigerung von Lebensqualität und Wohlstand in der Menschheitsgeschichte erlebt. Gleichzeitig wurde vor allem in den letzten Jahrzehnten der Hunger in fast allen Weltgegenden besiegt, und das bei starkem Bevölkerungswachstum. Das gelang aufgrund von technologischem Fortschritt. Dieser wiederum konnte sich nur vor dem Hintergrund funktionierender Märkte und damit von funktionierendem Wettbewerb entfalten. Der Druck, mit anderen Produkten oder Unternehmen konkurrieren zu müssen, hat dazu geführt, stetig besser und innovativer zu werden. Diese Dynamik ist ungebrochen. Kaum jemand kennt heute noch die großen Namen aus der Anfangszeit des Internets, wie etwa den Netscape Navigator oder AOL. Und das ist gerade einmal 20 Jahre her! Innovationen gehen zunehmend schneller und ermöglichen heute selbst armen Menschen Dinge, die noch vor wenigen Jahrzehnten nicht einmal Staatsoberhäuptern oder Milliardären zugänglich waren.

Wettbewerb der Systeme erneuern

Im Hinblick auf die Modelle unseres Zusammenlebens sieht es leider anders aus. Praktisch alle Staaten funktionieren nach demgleichen System, das aus vergangenen Jahrhunderten stammt: eine (durch Erbfolge, Putsch oder Wahl) an die Macht gelangte Gruppe von Auserwählten bestimmt die Geschicke aller. Der Wettbewerb als Entdeckungsverfahren findet zwischen staatlichen Modellen kaum statt. Das gilt vor allem, seit vornehmlich das westliche Staatenkartell Druck auf kleinere Staaten ausübt und internationale Vereinbarungen forciert, um einen Steuer- oder Systemwettbewerb möglichst auszuschließen. Das kommunistische Modell ist zwar seit dem Zerfall der Sowjetunion im „Staatsmarkt“ praktisch nicht mehr vertreten, aber auch dieser Prozess hat über 70 Jahre gedauert. Und genau hier liegt das Problem: es besteht in diesem Markt nur die Möglichkeit, über Revolution oder Sezession ein neues „Produkt“ einzuführen. Damit ist es nicht nur extrem schwierig, in den Markt überhaupt einzudringen. Erkenntnisgewinne über die Eignung von Staatsformen bzw. von gesellschaftlichen Grundentscheidungen dauern Generationen, sie sind zu Lebzeiten der Betroffenen oft überhaupt nicht feststellbar. Auch in demokratischen Staaten fehlt durchgehend ein Ventil für Minderheiten, Gegenmodelle zu installieren, welche sich später möglicherweise als überlegen herausstellen.

Anders im Produkt- und Dienstleistungsmarkt. Hier können Startup-Unternehmen etablierte Wettbewerber mit neuen Produkten herausfordern. Das gilt auch und gerade dann, wenn die Mehrheits- und Expertenmeinung solchen Produkten zunächst keinerlei Erfolgsaussichten einräumt. Diesen etablierten und gut funktionierenden Mechanismus kann man nun folgendermaßen auf den „Staatsmarkt“ übertragen: Innerhalb bestehender Staatsgebiete werden Gebiete geschaffen, in denen wirtschaftlich und politisch abweichende Regeln gelten dürfen. Dies geht über die Schaffung von klassischen Sonderwirtschaftszonen mit Freihandel und Steuererleichterungen hinaus, daher erscheint der Name „Sonderzone“ hierfür angebracht. Es liegt auf der Hand, dass ein einziger großer europäischer Einheitsstaat, der alle Regeln „harmonisch“(= einheitlich) handhabt, sich immer für einen bestimmten Weg entscheiden muss, der erst nach Jahren oder Jahrzehnten ggf. korrigiert werden kann. Eine mögliche Weiterentwicklung wird dadurch gelähmt, wenn nicht verhindert. Anders sieht es aus, wenn versuchsweise Sonderzonen eingerichtet werden, in denen gleichzeitig abweichende Modelle ausprobiert werden können. Diese stehen im Wettbewerb sowohl untereinander als auch mit den EU-Staaten, welche ihr altes Regelungsregime beibehalten.

Ein Vorbild kann dabei China sein. Dessen Führung unter Deng Xiaoping hatte seinerzeit Schlüsse aus der Erkenntnis gezogen, dass Hongkong dem rotchinesischen Modell offensichtlich überlegen war. Das betraf insbesondere das Bestehen freier Märkte und das Recht, Privateigentum zu erwerben, auch an Produktionsmitteln. Hongkong-ähnliche Systeme wurden zunächst in einzelnen Sonderwirtschaftszonen ausprobiert, etwa in Shenzhen seit 1980. Diese waren ersichtlich erfolgreich: Shenzhens Einwohnerzahl wuchs von ursprünglich dreißigtausend binnen zwanzig Jahren auf sieben Millionen. Schließlich wurde das System freier Märkte auf das ganze Land ausgedehnt. Heute muss niemand mehr hungern in China. Vorher schon. Dubai ist ein weiteres instruktives Beispiel. Dubai hat – mit großem Erfolg – innerhalb seins Territoriums spezielle Zonen geschaffen, in denen nicht das lokale, sondern englisches Recht gilt. Das hat viele Unternehmen angelockt, die vor allem an Stabilität und Berechenbarkeit der Rahmenbedingungen interessiert sind.

Die EU hat das Ziel, der wettbewerbsstärkste Wirtschaftsraum der Welt zu werden. Bisher ist dieses ehrgeizige Vorhaben auf ganzer Linie gescheitert. Die Wachstumsraten der meisten EU-Staaten liegen zwischen null und einem Prozent (wenn überhaupt), begleitet von überbordender Staatsverschuldung und Massenarbeitslosigkeit. Auch von daher wäre es an der Zeit, einfach mal etwas Neues auszuprobieren, ohne dadurch die Gesamtordnung zu destabilisieren. Es könnte doch z.B. sein, dass die stetig wachsende Regulierungslawine der EU ein Grund, wenn nicht sogar der Grund für die schwache wirtschaftliche Verfassung der Union ist. Auch der klügste Professor wird das weder zwingend widerlegen noch belegen können. Wir müssen es daher ausprobieren, und das geht nur mittels Versuch und Irrtum.

Teilnahme strikt freiwillig

Um niemanden etwas aufzuzwingen, das er nicht will, sollten diese Zonen möglichst in schwach oder gar nicht bevölkerten Gebieten eingerichtet werden, wie es sie in Deutschland z.B. in Mecklenburg-Vorpommern gibt. Sie werden ausschließlich von Freiwilligen besiedelt, die sich mit den dort geltenden Regeln identifizieren können. Wem die dortigen Ideen nicht gefallen, der bleibt einfach weg bzw. geht in eine Sonderzone, die ihm besser zusagt. So kann jeder –auch außerhalb der Zonen- beobachten, welche Modelle funktionieren und welche nicht. Möglicherweise funktionieren auch alle auf ihre eigene Art und Weise. Auch dadurch würde etwas gewonnen, nämlich die Erkenntnis, dass die Menschen verschieden sind und daher auch verschiedenartiger Gemeinwesen bedürfen.

So könnten in einer Sozialversicherungs-Sonderzone neue Modelle der sozialen Sicherung erprobt werden, etwa eine rein kapitalgedeckte Rentenversicherung mit Anbieterwahlrecht nach chilenisch-australischem Vorbild. Die Krankenversicherung könnte daneben nach dem Muster von Singapur organisiert sein, nämlich lediglich mit einer Basispflichtversicherung entsprechend der Kfz-Haftpflicht. Für darüber hinausgehenden Leistungen entscheidet jeder selbst, ob er eine Versicherung abschließen will oder nicht.

Weiter wäre denkbar, dass in einer Innovations-Sonderzone neue Produkte grundsätzlich ohne Genehmigungsverfahren zugelassen sind. Selbstfahrende oder gar fliegende Autos wären Teil des täglichen Lebens, neuartige Dienstleister wie Uber oder Airbnb nicht verboten sondern eine Selbstverständlichkeit. Neue Medikamente und Behandlungsmethoden wären jedem zugänglich, der diese in Kenntnis des möglichen Risikos testen will. Gesundheitsgrenzwerte gälten nur für wirkliche Toxizität und auf wissenschaftlicher Grundlage, anders als in der EU, wo (z.T. absurde) Grenzwerte willkürlich von Politikern festgelegt werden, die sich davon Beifall versprechen.

In einer Freiheits-Sonderzone könnte das Ideal des mündigen Bürgers wieder aufleben, der ohne staatliche Aufsicht über seine Angelegenheiten entscheidet. Dort würde volle Meinungs- und Vertragsfreiheit herrschen. Man dürfte z.B. eine negative Meinung über eine bestimmte Religion offen kundtun, ohne dafür wegen „Rassismus“ oder „Volksverhetzung“ angeklagt zu werden. Es gäbe gar keinen Volksverhetzungsparagraphen. Auch keine Antidiskriminierungsgesetze. Zigaretten würden wieder ohne hässliche Warnhinweise gehandelt und beworben. Man könnte leistungsstarke Staubsauger und Duschköpfe erwerben. Glühbirnen sowieso.

In Einwanderungs-Sonderzonen könnte die aktuelle Flüchtlingsproblematik angegangen werden. Wer schlecht ausgebildet ist und die Sprache des Aufnahmelandes nicht oder nur schwach beherrscht, ist zur Sicherung seines Lebensunterhalts auf den Niedriglohnsektor angewiesen. Wo staatlich festgesetzte Mindestlöhne die Schaffung solcher Jobs verhindern, ist keine Integration möglich. Nicht einmal Billigunterkünfte können derzeit für die Unterbringung der zahlreichen Flüchtlinge in Deutschland errichtet werden, weil die strengen Dämm- und sonstigen Vorschriften entgegenstehen bzw. den Bau exorbitant verteuern. All das wäre in diesen Sonderzonen nicht der Fall, weil der uferlose Regulierungsmehltau der EU weitgehend außer Kraft gesetzt wäre. Arbeits- und integrationswillige Menschen, welche sich verpflichten, die Regeln der Sonderzone zu beachten, sind willkommen (um gewisse Obergrenzen wird man freilich schon aus Platzgründen nicht herumkommen). Auch für Ungelernte gibt es dort – mangels Mindestlohnvorschriften – Verwendung. Günstige Produkte können aus der ganzen Welt eingeführt werden, weil Freihandel herrscht und es keine Zölle gibt. Die Sonderzone macht ihre Einwanderungsregeln selbst. Sie kann jeden, der kriminell wird oder z.B. den Vorrang der Scharia vor den Regeln der Sonderzone propagiert, ohne viel Federlesens wieder hinauswerfen. Allein dies würde eine Positivauslese bewirken.

Die Sonderzonen verwalten sich idealerweise selbst, direktdemokratisch oder durch eine gewählte Vertretung oder auf ganz andere, bisher nicht bekannte Art und Weise. Man könnte sogar soweit gehen, die Verwaltung dieser Zonen, wie in manchen Freihäfen, privaten Unternehmen zu übertragen. Diese Unternehmen stellen Regeln auf, die in der Zone gelten. Wem das nicht gefällt, der geht nicht hin, die anderen können sich auf dieser Basis in der Zone ansiedeln und erhalten z.B. eine vertraglich gesicherte Rechtsposition. Bei Streitigkeiten mit dem Betreiberunternehmen entscheidet ein unabhängiges Schiedsgericht.

Recht auf ein selbstbestimmtes Leben

In welchen Bereichen und in welchem Ausmaß die Sonderzonen unabhängig sind, ist letztlich Verhandlungssache. Es hängt wesentlich von der Bereitschaft der Machthaber in den Nationalstaaten und der EU ab, alternative Modelle zuzulassen. Die Sonderzonen müssen aber über innere Autonomie verfügen, also ihre eigenen Angelegenheiten selbst regeln dürfen, sonst macht der Ansatz keinen Sinn. Kontraproduktiv wäre, die Einräumung solcher Sonderzonen von langen Forderungskatalogen abhängig zu machen, welche vermeintlich unabdingbaren europäischen Standards oder Regeln auf jeden Fall eingehalten werden müssen usw. Es geht hier ja gerade darum, abweichende Modelle auszuprobieren. Da die Teilnahme in jedem Fall freiwillig ist, müssen die Sonderzonen lediglich ein jederzeitiges Austrittsrecht für jeden Siedler zwingend einräumen (unbedingte Exit-Befugnis). Wer von der Sonderzone enttäuscht ist, kann diese wieder verlassen. Sei es, weil sie nicht hält was sich der Betreffende davon versprochen hat oder weil er spätere Entscheidungen der Verwaltung oder der gewählten Vertretung ablehnt. Allein der Wettbewerb wird dafür sorgen, dass die besten Sonderzonen Erfolg haben und die anderen wieder verschwinden. Und: die bisherigen Bewohner der EU müssen ihr Leben nicht ändern, alles bleibt dort beim Alten. Die Geschichte zeigt, dass die Mehrheit am status quo hängt und dessen Beibehaltung Veränderungen vorzieht. Diesem Bedürfnis würde Rechnung getragen. Um an die europäische Tradition der Systemvielfalt anzuknüpfen, aber auch um innerhalb der EU gesellschaftlichen Frieden zu schaffen, empfiehlt sich eine möglichst große Bandbreite zulässiger Regeln. So sollten durchaus auch libertäre, dezidiert linke und rechte Zonen möglich sein. Die Linke z.B. könnte in einer entsprechenden Sonderzone endlich sich und der Welt beweisen, dass Kommunismus/Sozialismus –richtig gemacht – doch funktioniert. Und zwar ohne dass alle anderen darunter zu leiden haben! Aus einer ehemals totalitären Ideologie würde so ein Produktangebot unter vielen.

Wer die Einrichtung solcher Zonen ablehnt, und hier sind vor allem die Mächtigen und Meinungsmacher angesprochen, muss sich fragen lassen, ob es ihm wirklich um das vermeintliche Gemeinwohl geht. Oder hat er nicht einfach nur Angst, dass seine Ideen vom „richtigen“ Zusammenleben der Menschen von anderen nicht geteilt werden? Oder schlimmer noch, dass sich die Ideen der anderen letztlich gar als überlegen herausstellen? Es lässt Rückschlüsse zu, wenn man erwachsenen und geschäftsfähigen Menschen untersagt, freiwillig solche Versuche zu unternehmen. Man glaubt, besser als die Betroffenen zu wissen, was gut für diese sei. Das ist die Denkweise vergangener Jahrhunderte. Wer aber den Menschen das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben abspricht, der ist schlicht autoritär, auch wenn er sich selbst „liberal“ oder „demokratisch“ nennt.

Lasst uns damit anfangen, die Einrichtung von Sonderzonen zu fordern.

Photo: Mike Beales from Flickr (CC BY-ND 2.0)

Forderungen nach einer „Demokratisierung“ der EU laufen meist auf eine Stärkung von EU-Instanzen wie Parlament und Kommission heraus. Demokratie funktioniert jedoch umso besser, je mehr auf überschaubaren Ebenen entschieden wird. Die baltischen Staaten haben eine solche überschaubare Größe und sind auch darüber hinaus vorbildlich.

Demokratie: der Bürger als Wächter seiner eigenen Interessen

Es ist ein grundlegendes Missverständnis, Demokratie lediglich mit einem Abstimmungsmodus oder einer Institution zu verbinden. Demokratie heißt vor allem auch, wie es der englische Historiker Lord Acton einmal formulierte, „jeden Bürger zum Wächter seiner eigenen Interessen zu machen“. Darum ist es durchaus sinnvoll, dass wir etwa bei der Beschreibung unseres Staatswesens stets von einer „freiheitlich-demokratischen Grundordnung“ sprechen. Die EU wird nicht demokratischer, wenn ein Parlament gemeinsam Entscheidungen trifft über Steuern, Ausgaben und Gesetze für über 500 Millionen Menschen von Gibraltar bis Lappland, von Zypern bis Nordirland. Die EU wird demokratischer, wenn mehr Entscheidungen auf möglichst niedriger Ebene gefällt werden können. Ursprünglich stand dieses Subsidiaritätsprinzip ja auch einmal an der Wiege der Europäischen Union. Leider wurde es von dort bald in den Antiquitätenschrank verbannt, wo es nur noch für Sonntagsreden herausgeholt wird.

Eine wirkliche Demokratisierung der Europäischen Union würde darin bestehen, möglichst kleinen Einheiten möglichst große Kompetenzen zuzugestehen. Entscheidend für das Gelingen dieses Konzepts ist, dass die Einheiten eine überschaubare Größe haben. Verantwortlichkeiten müssen klar zu durchschauen sein. Konsequenzen aus politischen Entscheidungen klar definierbar und für die Betroffenen spürbar. Und Exit-Optionen müssen mit nicht allzu hohen Kosten verbunden sein. Bei einer weitgehend einheitlichen EU bleibt neben der Schweiz und Norwegen (die man sich erst einmal leisten können muss) nur noch die Auswanderung auf einen anderen Kontinent. Das sind bei weitem zu hohe Kosten für eine „Abstimmung mit den Füßen“.

Small is beautiful

Viele europäische Staaten sind eigentlich bereits zu groß, um die oben beschriebenen Kriterien zu erfüllen. Die baltischen Staaten haben hingegen Größen, die der sinnvollen Organisation eines freiheitlich-demokratischen Gemeinwesens durchaus noch angemessen sind: Litauen mit 2,9 Millionen, Lettland mit etwa 2 Millionen und Estland mit 1,3 Millionen Einwohnern. Litauen ist also etwas kleiner als Berlin, Lettland so groß wie Ostwestfalen-Lippe und Estland wie der Regierungsbezirk Unterfranken.

Bei solchen Größen kennt man sich zwar nicht mehr persönlich, aber man teilt doch ähnliche Lebenswelten und kann den Nutzen oder Schaden von Entscheidungen noch verhältnismäßig gut übersehen. Hier ist das Einfallstor noch schmal für eine Umverteilung, die lauter Sonderinteressen bedient. Hier ist die Kontrolle von Politikern noch relativ leicht durchzuführen, einschließlich der Möglichkeiten, auf sie Druck auszuüben. Hier sind Politik und Bürokratie noch nicht in der vollen Anonymität und Symbolik verschwunden wie das bereits in den meisten europäischen Staaten der Fall ist, von der EU ganz zu schweigen.

Erfolgsgeschichten im Baltikum

Sicherlich tragen viele unterschiedliche Faktoren dazu bei, dass die baltischen Staaten in den Jahren seit ihrer Unabhängigkeit im Ganzen gesehen Erfolgsgeschichten geschrieben haben. Dennoch ist der Faktor der Größe nicht unwesentlich, weil sich viele Reformen und Innovationen überhaupt nur in diesem kleinen Kontext durchsetzen ließen. Denn kleine Einheiten sind nicht nur sehr viel einfacher echter demokratischer Kontrolle zu unterwerfen – kleine Einheiten sind auch ungleich flexibler, wenn es darum geht, auf Krisen zu reagieren oder unkonventionelle Wege zu beschreiten.

In allen drei Staaten wurden nach deren wiederhergestellter Unabhängigkeit im Jahr 1991 sehr umfassende marktwirtschaftliche Reformen in Gang gesetzt. Dieser Geist hat sich auch bis heute in großen Teilen durchgehalten und gehört zum Konsens der meisten politischen Parteien in den drei Ländern. Lettland hat sich aus einer massiven wirtschaftlichen Krise zwischen 2008 und 2010 durch für europäische Verhältnisse unerhörte Reform-Maßnahmen rasch wieder herauskatapultiert. Die Stellen im öffentlichen Sektor wurden um ein Drittel abgebaut, Löhne und Gehälter gekürzt und das Staatsdefizit nachhaltig reduziert. Die Folge war ein deutlicher Rückgang von Inflation, Arbeitslosenrate und ein deutlicher Anstieg des Wirtschaftswachstums. Eine Expertenstudie aus dem Jahr 2012 stellte fest: „Der Erfolg Lettlands lehrt, dass ein flexibler Arbeitsmarkt, verbesserte Rahmenbedingungen für Unternehmen und ein breiter gesellschaftlicher Konsens für Reformen eine wichtige Rolle spielen, um die Krise zu überwinden.“

Ein Europa, das dem Bürger dient

Nur Luxemburg hat im Euro-Raum eine ähnlich niedrige Staatsschuldenquote wie Estland (10,2% des BIP), Litauen (35,7 %) und Lettland (36,0 %). Gleichzeitig haben die drei Länder auch mit die niedrigsten Staatsquoten in Europa (Estland: 38,8 %; Lettland: 36,9 %; Litauen: 34,9 %). Während EU-weit die Arbeitslosigkeit seit dem Jahr 2010 nur um 0,3 % reduziert worden ist, ist sie in Litauen von 17,8 auf 9,6 Prozent zurückgegangen, in Lettland von 18,7 auf 9,8 und in Estland gar von 16,9 auf 5,7 Prozent. In allen drei Ländern gibt es eine Flat Tax und ein verhältnismäßig geringes Maß an Regulierungen – soweit das im Rahmen der EU noch möglich ist. Insbesondere Estland hat auch eine bemerkenswerte politische Kultur: Man kann dort per SMS wählen, es gibt die Möglichkeit einer e-residency und in fast 7 der 24 Jahre estnischer Unabhängigkeit wurde das Land von Ministerpräsidenten regiert, die unter 40 Jahre alt waren – der amtierende Taavi Roivas kam vor anderthalb Jahren im Alter von 34 Jahren ins Amt.

Eine langfristige Perspektive für die EU kann sich an diesen Staaten orientieren, die in vielerlei Hinsicht moderner sind als die großen Nationalstaaten im Westen Europas. Das wäre eine EU, in der kleinen Einheiten ein möglichst hohes Maß an Eigenständigkeit zugestanden wird. Die Brüsseler Politik und Bürokratie würden von ihrem Status als Planer zurückgestuft auf den von Diplomaten und Wächtern. Ihre Rolle bestünde darin, die Zusammenarbeit der kleinen Einheiten in verschiedenen Clubs (wie beispielsweise Schengen oder der Euro-Zone) zu koordinieren und eventuell auch eine gemeinsame Sicherheitspolitik zu koordinieren. Und sie bestünde ganz wesentlich darin, die Einhaltung der vier Grundfreiheiten der Europäischen Union zu überwachen und durchzusetzen. Alle anderen Hoheitsrechte würden hingegen auf jene Einheiten übertragen, wo sie der Bürger tatsächlich und real kontrollieren und bestimmen könnte. Es wäre ein Europa der Bürger, das den ursprünglichen Geist der Demokratie wieder ernst nimmt: jeden Bürger zum Wächter seiner eigenen Interessen zu machen. Es wäre ein Europa, das den Fortschritt fördert, dem Frieden dient und die Freiheit garantiert.

Photo: j.e.mcgowan from Flickr. (CC BY 2.0)

David Cameron ist ein wahrer Europäer. Mit seiner Rede beim renommierten Londoner Think Tank „Chatham House“ über seine Vorschläge für eine Reform der Europäischen Union hat er an das appelliert, was Europa stark gemacht hat – seine Vielfalt. „Vor allem muss Europa flexibel wie ein Netzwerk operieren, nicht starr wie ein Block. Vielfalt ist Europas größte Stärke,“ so der britische Premier. So spricht kein Nationalist, der neue Grenzen aufbauen will. So spricht ein europäischer Realist, der eine evolutorische Zusammenarbeit in Europa anstrebt, der aber die demokratische Legitimation nicht permanent durch einen zersetzenden Pragmatismus aushebelt.

Netzwerk der Vielfalt

Er spricht sich für einen intensiveren Binnenmarkt aus, für mehr Wettbewerb, für fiskalische Selbstverantwortung, für Bürokratieabbau, Deregulierung und gegen den wachsenden europäischen Zentralismus. Und er stellt ein Dogma infrage – die immer engere Union, die unumkehrbar sei. Er will sich nicht durch die Eurokrise immer weiter in den Schuldensumpf hineinziehen lassen. Diejenigen im Euroraum, die immer neue Institutionen und Abhängigkeiten schaffen, sollen diese auch verantworten.
Es ist nicht nur eine Abwehrrede, wie ihm leicht unterstellt werden kann. Er will eine intensivere Zusammenarbeit beim freien Verkehr von Waren, Dienstleistungen und Kapital. Er reduziert die EU nicht nur auf das Ökonomische. Auch in Sicherheitsfragen will er stärker kooperieren.

Den Verfall Europas stoppen

Seine Rede kommt zum richtigen Zeitpunkt. Denn die EU steckt in einer tiefen Sinnkrise. In der Eurokrise ist der Verfall der Sitten tagtäglich spürbar. Aus bislang guten Nachbarn werden Schuldner und Gläubiger, die sich gegenseitig mißtrauen, hintergehen und erpressen. In der Flüchtlingskrise scheitert gerade die Idee der Personenfreizügigkeit zwischen souveränen Staaten, weil die deutsche Kanzlerin, ihre Vorstellung in der Asylpolitik allen anderen Staaten in Europa oktroyieren will und die Außengrenzen offen sind wie ein Scheunentor.
Großbritannien ist unendlich wichtig für ein Europa der Vielfalt. Seine große Rechtstradition mit der Magna Charta und der Bill of Rights, seine große Tradition an Freiheitsdenkern wie Adam Smith, John Stuart Mill und Edmund Burke und die Weltoffenheit des Vereinigten Königreichs als Wegbereiter des Freihandels und der Marktwirtschaft ist unersetzlich für ein freiheitliches Europa. Das Ausscheiden der Briten aus der EU würde das Koordinatensystem in Richtung noch stärkerer Umverteilung, Rechtsbeugung und Zentralismus verschieben. Das wäre fatal. Es würde den Bürokraten in Brüssel in die Hände spielen. Es ist schon bezeichnend, dass der Frage des Verbleibs von Griechenland und Zypern eine viel größere Aufmerksamkeit in Brüssel zuteil wird, als dem Verbleib Großbritanniens. Wahrscheinlich wären viele in der EU-Kommission froh, wenn die ewigen Querulanten aus London endlich gingen. Doch das sollte uns mißtrauisch machen.

Freizügigkeit: Die Achillesferse der EU

Diese Kreise wollen ein anderes Europa. Sie wollen den europäischen Superstaat durch die kalte Küche erzwingen, ohne dafür demokratisch legitimiert zu sein. Die Eurokrise ist das beste Beispiel. Ein lokales Problem wird zentral gelöst, ohne dafür substanziell die Vertragsgrundlagen zu ändern. Das Recht wird geschoben und gebogen bis es zur Unkenntlichkeit entstellt ist.
Die Personenfreizügigkeit ist die Archillesferse der Cameronschen Rede. Diese will er für neue EU-Mitglieder aussetzen, bis sie ökonomisch aufgeschlossen haben. Hier spricht der Konservative Cameron, der sich vor mehr Wettbewerb im Arbeitsmarkt fürchtet. Doch seine Lösung, EU-Bürger von sozialen Leistungen in Großbritannien für einige Jahre auszuschließen, ist dagegen konsequent und richtig. Europa braucht auch im Blick auf die Sozialsysteme Wettbewerb, bei dem die verschiedenen Systeme mit unterschiedlichen Beitrags- und Leistungsbündeln ihre Leistungsfähigkeit unter Beweis stellen können und sich langfristig die leistungsstärksten durchsetzen und Vorbildcharakter annehmen.
Der damalige EU-Kommissar Ralf Dahrendorf hat 1971 unter dem Pseudonym Weiland Europa eine scharfe Kritik am damaligen Zustand der Europäischen Gemeinschaft geübt. Im Spiegel schrieb er dazu: „Es ist nicht alles in Europa schon darum gut, weil es europäisch ist. Ein europäisches Europa ist vielmehr auch ein differenziertes, buntes, vielfältiges Europa. Es ist ein Europa, in dem gemeinsam getan und gleichartig geregelt wird, was auf diese Weise besser, ja vielleicht nur auf diese Weise sinnvoll getan und geregelt werden kann.“ So hat es damals der Liberale Dahrendorf und so ähnlich hat es jetzt auch der Konservative Cameron formuliert. Es war und ist der Weg eines freiheitlichen Europas.

Dieser Beitrag erschien zuerst auf Tichys Einblick.

Photo: Hugo Chisholm from Flickr. (CC BY-SA 2.0)

Insbesondere in Krisenzeiten für Europa werden zwei Forderungen oft wiederholt: „Hin zum Bundesstaat“ und „Zurück zum Nationalstaat“. Beides wird dem eigentlichen Wesen Europas nicht gerecht, das in der Wertschätzung von Individuum und Vielfalt besteht.

Zurück zu den Nationalstaaten oder hin zum Bundesstaat?

Ob Griechenland, Großbritannien oder Flüchtlinge. Ganz offensichtlich sind die gemütlichen Zeiten vorbei, in denen die EU einen sanften, aber stetigen Integrationskurs nahm: immer tiefer und immer breiter. Vorbei die Zeiten, in denen sich die Intellektuellen in den Feuilletons den Kopf darüber zerbrachen, wie die EU demokratisiert werden könne. Vorbei die Zeiten, in denen sich der ganze Kontinent zu freuen schien, dass nun schon wieder ein neues Mitglied in den Club aufgenommen wurde. Vorbei auch die Zeiten, in denen kritische Stimmen sich hauptsächlich mit Überregulierung und dem „Bürokratiemonster“ Brüssel herumschlugen. Seit ein paar Jahren stellen sich der EU ganz andere, fundamentalere Herausforderungen.

Die Antwort auf diese Herausforderungen sehen die allenthalben gestärkten Rechtspopulisten und Nationalisten darin, den grundsätzlichen Fehler einer Europäischen Union zu korrigieren – durch einen Austritt oder zumindest durch eine deutliche Rückführung von Souveränität zum Nationalstaat. Auf der anderen Seite der Debatte stehen enthusiastische Anhänger der EU, die in den heutigen Krisen eine historische Chance sehen, nun endlich den konsequenten Weg zu einem europäischen Bundestaat zu Ende zu gehen. In ihrer Rhetorik und manchen ihrer Argumenten ähneln sie freilich bisweilen den Wegbereitern moderner Nationalstaaten: Man müsse nun zusammenhalten, die Bedrohung von außen sei nur gemeinsam zu bewältigen, das europäische Bewusstsein müsse sich endlich auch institutionell niederschlagen.

Für ein Europa der Kooperation

Dabei stand am Beginn der Europäischen Bewegung eigentlich ein anderer Gedanke: Der historische Fehler des Nationalismus sollte korrigiert und der Nationalstaat überwunden werden. Der Blick auf die Geschichte Europas zeigt: Seine Stärke lag niemals im Einheitlichen, Monolithischen. Ganz im Gegenteil: die wesentlichen Fortschritte Europas, sowohl im Blick auf die Herausbildung einer freiheitlichen Kultur, als auch im Blick auf seinen hohen Wohlstand, wurden durch Flexibilität, Vielfalt und Wettbewerb erreicht. Das Verständnis für den hohen Wert des Individuums, das unsere freiheitliche Kultur hervorgebracht hat, ist entstanden in einem politischen und sozialen Umfeld, in dem eine Vielzahl an Lebensweisen und Religionen miteinander im Wettstreit standen. In einem Umfeld, in dem der Ausbau der eigenen Fähigkeiten im Kontext von Arbeitsteilung gewaltige ökonomische Fortschritte zeitigte.

Wenn Europa sich selbst treu bleiben soll und wenn es sich weiterhin frei und prosperierend entwickeln soll, dann darf es um keinen Preis seine Vielfalt und Buntheit zugunsten von Einheit und Zusammenhalten aufgeben. Mag auch die Versuchung noch so groß sein, in einer Gemeinschaft Schutz zu suchen vor den Herausforderungen und Gefährdungen, die sich immer wieder stellen. Dass dann jeder nur für sich kämpft, ist allerdings mitnichten die einzige Alternative zu einem europäischen Bundesstaat mit zentralistischen Tendenzen. Die europäische Alternative muss heißen: Kooperation. Denn die Kultur der Vielfalt war nur deshalb erfolgreich, weil sie mit der Bereitschaft einherging, sich auf andere einzulassen und mit ihnen zu kooperieren. Vielfalt heißt nicht Vereinzelung und Abschottung. Vielfalt heißt Ergänzung und Kooperation.

Konsens und Kooperation, Flexibilität und Vielfalt – das Erfolgsrezept Europas

Das Europa der Zukunft muss eine Europa sein, das sich auf diesen Kernbestand seiner Identität zurückbesinnt anstatt die Fehler des 19. Jahrhunderts zu wiederholen. Konkret kann das etwa heißen, die immer mal wieder auftauchende Idee des Europas der Regionen aufzugreifen und das Prinzip der Subsidiarität konsequent durch zu deklinieren. Möglichst kleine Einheiten mit einem möglichst hohen Maß an Autonomie können dann im Sinne der Clubtheorie selber entscheiden, welchen gemeinsamen Projekten sie sich anschließen – freilich stets auch mit der Möglichkeit, die Projekte wieder zu verlassen. Unterschiedliche Problemlösungsansätze können so miteinander in Wettbewerb treten und voneinander lernen. Konsens und Kooperation, Flexibilität und Vielfalt sind zentraler Steuerung und allgemeinverbindlichen Entscheidungen weit überlegen. Sie waren schon immer das Erfolgsrezept in Europa.

Die Aufgabe der Europäischen Union wäre in einem solchen Europa nicht zentrale Steuerung, sondern Garant zu sein für die Einhaltung und Durchsetzung allgemeiner Regeln, insbesondere im Blick auf den Schutz von Freiheit und Eigentum. Zweck europäischer Institutionen wäre die Begleitung von Kooperation, ein Forum des Austausches zu sein – und eben nicht ein Instrument zur Durchsetzung nationaler Egoismen. Die Zukunft Europas hängt wesentlich davon ab, dass es sich auf sein Erfolgsrezept zurückbesinnt: Das Maß aller Dinge ist das Individuum. Freiheit und Wohlfahrt gedeihen dort am besten, wo das Individuum den größten Spielraum hat – sowohl bei der Selbstentfaltung als auch bei der Auswahl seiner Kooperationspartner. Nicht konkrete politische Ziele dürfen im Mittelpunkt des Projekts Europa stehen, sondern der Schutz von Flexibilität, Wettbewerb und Vielfalt. Jean Monnet, einer der Vordenker der Europäischen Union, fasste diesen Grundgedanken einmal zusammen mit den Worten: „Wir einigen keine Staaten. Wir verbinden Menschen.“

In der heutigen FAZ erscheint das von unseren Kuratoriumsmitgliedern verfasste „Manifest für ein konföderales Europa“. Es ist der Auftakt einer langfristigen Kampagne von Prometheus, die unter dem Motto „Europa der Bürger“ die Debatte über die Zukunft Europas im Sinne der Freiheit beeinflussen möchte.

Photo: Matthew Britton from Flickr (CC BY 2.0)

Bundespräsident Joachim Gauck ist ein freundlicher Mann. Seine Rolle als oberster Repräsentant des Staates nimmt er würdevoll wahr. Es gelingt ihm jedoch nicht immer, am richtigen Ort den richtigen Ton zu treffen. Bei seinem Staatsbesuch in der Schweiz im April vergangenen Jahres zum Beispiel schrieb er den Eidgenossen ins Stammbuch: „Die direkte Demokratie kann Gefahren bergen, wenn die Bürger über hochkomplexe Themen abstimmen“.

Er sei ein überzeugter Unterstützer der repräsentativen Demokratie, mit der Deutschland „sehr gut fährt“. Das saß. Die Tageszeitungen unseres Nachbarlandes titelten: „Gauck warnt vor der direkten Demokratie“.

Den Bürgern eines Gastlandes beim Staatsbesuch mehr oder weniger zu sagen, sie würden wesentliche politische Zusammenhänge nicht verstehen, ist ein bemerkenswerter diplomatischer Beitrag. Immerhin kennt die Schweiz seit 1848 die direkte Demokratie auf Bundesebene. Sie ist Teil ihres Gründungsmythos.

Dagegen ist die kurze geschichtliche Episode Deutschlands in Sachen direkter Demokratie auf nationaler Ebene auf die wenigen Jahre der Weimarer Republik beschränkt. Das ist nicht gerade ein großer Erfahrungsschatz. Noch heute gilt vielen in Deutschland die direkte Demokratie auch deshalb als gefährlich, weil sie der Machtergreifung Hitlers den Weg bereitet haben soll. Dieses Argument wird auch als Grund angeführt, weshalb die Mütter und Väter des Grundgesetzes keine direktdemokratischen Elemente in die Verfassung aufgenommen haben. Beides ist nicht besonders stichhaltig.

Hitler ist durch Wahlen an die Macht gekommen. Das Ermächtigungsgesetz von 1933 wurde nicht über eine Volksabstimmung, sondern durch eine Zweidrittelmehrheit im Reichstag verabschiedet. Daher ist wohl auch naheliegender, dass der parlamentarische Rat bei der Ausarbeitung des Grundgesetzes aus anderen Gründen deren Aufnahme verweigerte. Es waren wohl eher außenpolitische Gründe, die hier eine Rolle spielten.

Doch der kalte Krieg ist vorbei und es ist an der Zeit, dass in Deutschland eine ernsthafte Diskussion über das Schweizer Modell der Machteilung geführt wird. Denn die Machtteilung ist der eigentliche Wert der direkten Demokratie. Sie konzentriert die Macht nicht nur bei der Regierung und dem Parlament, sondern schafft ein mächtiges Gegengewicht.

Regierung und Parlament können nicht darauf hoffen, dass Steuererhöhungen, „Eurorettungen“ oder Energiewenden über Nacht beschlossen und bis zur nächsten Wahl vergessen sind, sondern sie laufen immer Gefahr, dass ein Veto der Bürger diese Entscheidungen wieder zu Fall bringt.

Dies führt zu anderen Entscheidungsprozessen, wenn Regierung und Parlament immer damit rechnen müssen, zeitnah ihr Handeln vor dem Wahlvolk rechtfertigen zu müssen. Das ist für die Regierenden anstrengend, umständlich und aufreibend. Doch es führt die Zuschauerdemokratie hin zu einer aktiven Bürgergesellschaft.

Es setzt jedoch mehr voraus, als nur über große Themen abstimmen zu dürfen. In einer Demokratie besteht immer die Gefahr, dass die Mehrheit sich zu Lasten der Minderheit schadlos hält. Dies ist auch in der Schweiz so. In der Schweiz versucht man, dieses Problem durch die möglichst weitreichende Finanzautonomie der jeweiligen politischen Ebene und durch einen Non-Zentralismus in den Griff zu bekommen.

Es herrscht eine Kongruenz aus Einnahmen- und Ausgabenverantwortung der jeweiligen Gemeinden, Kantone und des Bundes. Möglichst viele Entscheidungen werden vor Ort oder in den Kantonen getroffen. Dort können die Bürger viel direkter die Beschlüsse im Gemeinderat oder Kantonalrat nachvollziehen als es im fernen Bern möglich wäre. Derjenige, der zum Beispiel vor Ort die Aufrechterhaltung des Freibades durch einen Bürgerentscheid erzwingen will, muss gleichzeitig auch sagen, um wieviel die Gemeindesteuer hierfür angehoben werden muss.

Die Steuerhoheit der Kommunen und Kantone führt in der Schweiz zu einem Wettbewerb der Systeme und damit zu einer Machtverteilung innerhalb der Schweiz. Übertreibt es ein Kanton oder eine Gemeinde mit den Steuern oder den Ausgaben, dann wandern die Menschen und Unternehmen ab. Schafft es die Kommune nicht dauerhaft, ihre Einnahmen und Ausgaben in Einklang zu bringen, kann sie sogar insolvent gehen.

Zwar gibt es in der Schweiz auch einen Trend zum Zentralismus und zu mehr Staat, dennoch gibt es einen entscheidenden Unterschied zu Deutschland. In der Schweiz dauern politische Veränderungen und Prozesse länger. Das wird den Eidgenossen zuweilen vorgehalten. Doch diese Trägheit der Veränderung ist eigentlich eine Stärke. Nicht jede Modeerscheinung, nicht jede vermeintliche Katastrophe und erst recht nicht jede Regierungsidee führt zu schnellen Gesetzen, sondern die Langsamkeit ist Programm. Sie dient dazu, Veränderung mit Bedacht und Sorgfalt vorzunehmen.

Der damalige Schweizer Bundespräsident Didier Burkhalter verteidigte den Volksentscheid: «Die Schweiz ohne direkte Demokratie wäre wie ein Körper ohne Blut.» Dazu gehöre, zu akzeptieren, wenn die Bevölkerung gegen die Empfehlung der Behörden stimme. Die Stimmen sämtlicher Bürgerinnen und Bürger seien gleichwertig. Er mahnte zur Bescheidenheit: Die Entscheide der Behörden seien nicht automatisch richtig. Soviel Einsicht würde man sich auch in Deutschland wünschen.

Erstmals erschienen bei der Huffington Post.