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Aktuell wird viel über disruptive Technologien und ihre Folgen für Wirtschaft und Gesellschaft gesprochen. Disruptiv sind allerdings nicht technologische Neuerungen. Selbst das Internet setzte sich nicht über Nacht durch, sondern über Jahre. Wirklich disruptiv sind politische Entscheidungen. Sie können von heute auf morgen Chaos produzieren. In diese Kategorie gehört die Brexit-Entscheidung in Großbritannien. Vertrauensabstimmungen werden angesetzt, die Abstimmung über das Brexit-Abkommen kurzfristig verschoben und vielleicht kommt es sogar zu Neuwahlen. Selbst eine erneute Abstimmung der Briten kann nicht mehr ausgeschlossen werden. In diesem Umfeld sind Investitionen von Unternehmen unkalkulierbar und die Gefahr für ökonomische Verwerfungen groß. Der Brexit ist das größte ökonomische Risiko im kommenden Jahr.

Es ist daher schon erstaunlich, dass die EU, die Bundesregierung und selbst viele Wirtschaftsverbände für eine harte Position gegenüber Großbritannien eintreten. Denn die Risiken sind nicht nur auf das Vereinigte Königreich beschränkt, sondern sind auf beiden Seiten des Kanals enorm. Für 320 Milliarden Euro exportieren europäische Unternehmen Waren und Dienstleistungen auf die Insel und umgekehrt britische Unternehmen für 196 Milliarden Euro auf den Kontinent.

In dieser Diskussion geht völlig verloren, welche Lehren die Europäische Union aus der Brexit-Entscheidung zieht. Bislang war die Strategie der Kommission und der großen EU-Staaten an Großbritannien ein Exempel zu statuieren, damit nicht weitere Staaten die Union verlassen. Daher durften die Zugeständnisse in Richtung britischer Regierung auch nicht zu groß sein. Jetzt fällt diese Strategie in sich zusammen. Wahrscheinlich wird das Abkommen keine Mehrheit im Unterhaus finden, und es droht der harte Brexit. Doch ein harter Brexit ist ein zu hoher Preis für diese Strategie. Es ist sogar eine ziemlich armselige Strategie. Wenn ein politisches Projekt wie die Europäische Union nur durch Druck und Zwang zusammengehalten werden kann, dann machen die verbleibenden 27 Mitgliedsstaaten einen schweren Fehler.

Wo ist eigentlich die Diskussion um eine Reformagenda der Europäischen Union an Haupt und Gliedern? Auch das Weißbuch, das Jean Claude Juncker im März 2017 vorgestellt hat, blieb nur geduldiges Papier. Seitdem ist wenig passiert. Insbesondere konkrete legislative Vorschläge fehlen. Das liegt in erster Linie daran, dass die Staats- und Regierungschefs und die Kommission Angst vor der eigenen Bevölkerung haben. Sie trauen sich keinen großen Wurf zu, weil sie befürchten, dass die Bevölkerung ihn wie 2004 bei der Abstimmung über den Verfassungsvertrag stoppt. Dieses Trauma wirkt immer noch nach.

Die Veränderungsfähigkeit ist aber eine notwendige Bedingung für die Zukunft der Europäischen Union. Zu Beginn dieser Debatte muss eine Stärke-/Schwäche-Analyse stehen. Zu den Stärken gehört zweifellos der gemeinsame Markt. Er ist mit 500 Millionen Menschen einer der größten der Welt. Die Osterweiterung der EU hat nicht nur in den ehemaligen Ostblockstaaten zu Wohlstand geführt, sondern auch bei uns. Viele Unternehmen konnten ihre Produktion verlagern und so Kostenvorteile nutzen, um damit ihre Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern.  Sicherlich hätte auch das eine oder andere Land den Aufstieg alleine geschafft, aber nicht in dieser Breite. Doch schon hier zerstören einige Mitgliedsstaaten und die Kommission diese Vorteile. Aktuelles Beispiel ist die Verschärfung der Entsenderichtlinie, die ausländische Anbieter verpflichtet, den ortsüblichen Tariflohn des Landes zu bezahlen, wo die Dienstleistung erbracht wird. Damit wird der Dienstleistungsmarkt kaputt gemacht, weil der administrative Aufwand so groß ist, dass der grenzüberschreitende Dienstleistungsmarkt dadurch zum Erliegen kommt.

Zu den Schwächen der Europäischen Union gehört, dass sie statisch auf eine immer engere Union setzt. Der ehemalige britische Premier David Cameron hatte beim Europäischen Rat im Frühjahr 2016 durchgesetzt, dass Mitgliedsstaaten vom Grundsatz der „ever closer union“ abweichen dürfen. Cameron hat die Brexit-Abstimmung anschließend dennoch verloren.

Eigentlich müsste jetzt die Abkehr von der immer engeren Union eingeleitet werden. Nicht jedes Mitgliedsland muss jede Entwicklung mitmachen. Und nicht jede Entscheidung für eine engere Zusammenarbeit ist auf Dauer in Stein gemeißelt. Ein Irrtum oder eine veränderte Sichtweise muss auch wieder korrigierbar sein. Kurz: die Europäische Union muss atmen. Nicht nur aus der EU muss man geordnet aussteigen können, sondern auch aus dem Euro. Immer dann, wenn es um die Abgabe von staatlicher Souveränität auf die europäische Ebene geht, muss es ein Rückholrecht der Mitgliedsstaaten geben. Alleine die vier Grundfreiheiten aus Waren- und Dienstleistungsfreiheit, Kapitalverkehrsfreiheit und Personenfreizügigkeit sollten alle verbinden. Dies würde auch die Zentralisierungstendenz in der EU mildern. Die Übereinkunft zur Abkehr von der immer engeren Union, die Cameron 2016 ausgehandelt hatte, wurde seitdem in den Giftschrank gesperrt.

Es darf einen nicht wundern, wenn die Fliehkräfte innerhalb der Europäischen Union daher immer größer werden. Wenn selbst solche Änderungen gleich zur Grundsatzfrage erklärt werden, dann ist die Europäische Union nicht groß, sondern ganz klein.

Dieser Artikel ist erstmals erschienen in der WirtschaftsWoche.

Photo: Tom Butler from Unsplash (CC 0)

Fangen wir mit den positiven Nachrichten an. Die Vereinbarung der Euro-Finanzminister vom Dienstag ermöglicht im Zweifel vielleicht eine verbesserte Umschuldung von Euro-Staaten. Bereits seit 2010 war man innerhalb des Euro-Clubs der Meinung, dass so genannte Collective-Action-Clauses in den Anleihebedingungen verbindlich eingeführt werden müssen, damit die Zustimmung für eine Umschuldung nicht von einzelnen Anleihehaltern verhindert werden könne. Stattdessen solle hierfür eine qualifizierte Mehrheit ausreichen. Bei vielen Staatsinsolvenzen verhinderten zuvor einzelne Gläubiger eine Vereinbarung mit den Schuldnern, da diese sich einer Einigung aus taktischen Gründen verweigerten.

Staaten, die dem Europäischen Stabilitätsmechanismus ESM beitraten, mussten seit 2013 bei Anleiheemissionen diese Klauseln in ihre Anleihebedingungen aufnehmen. Offen war immer, ob dies im Ernstfall auch wirklich funktioniert. Immerhin muss irgendjemand die Interessen der Gläubiger bündeln. Künftig soll dies der ESM tun. Ob dies dann funktioniert, wird sich schon bald zeigen. Die Einschläge kommen bekanntlich wieder näher. Allein das überschuldete Italien hatte bereits Ende 2016 Anleihen in der Größenordnung von über 902 Milliarden Euro mit CAC-Klauseln versehen. Vielleicht kommen diese schneller zum Einsatz als Viele denken.

Denn die Frage, wie sich die italienische Regierung künftig verhält, ist für die Zukunft der Währungsunion von entscheidender Bedeutung. Auch wenn die Regierung Conte erst gestern Signale ausgesandt hat, dass sie ihren Haushaltsentwurf 2019 nun doch überarbeiten und das geplante Defizit reduzieren würde, ist die Wahrscheinlichkeit, dass es die Lega und die Fünf-Sterne-Bewegung doch auf einen Bruch ankommen lassen, viel höher. Im Zweifel sitzt Italien am längeren Hebel. Sie sind Nettozahler in den EU-Haushalt. Strafzahlungen könnten sie einfach mit der Kürzung ihrer Zahlungen in den EU-Haushalt kompensieren. Denn wie wahrscheinlich ist es, dass sie sich an die Aufforderung zu Strafzahlungen halten, wenn sie an anderer Stelle europäische Vereinbarungen auf offener Bühne brechen?

Italien ist in einem Dilemma. Seit 10 Jahren herrscht faktisch ökonomischer Stillstand im Land. Immer noch ist Italiens BIP deutlich unter dem Krisenjahr 2008. Das Bankensystem ist überschuldet, die Wirtschaft lahmt und die staatliche Verschuldung erdrückend. Eine Fremdbestimmung wie in Griechenland kommt für die stolzen Italiener sicherlich nicht in Frage. Ein Austritt aus der Eurozone ist daher im Bereich des Möglichen. Das liegt auch an der Struktur der Verschuldung. 97,5 Prozent der Anleihen sind nach italienischem Recht begeben, lediglich 2,5 Prozent nach angelsächsischem. Tritt Italien aus dem Euro aus, dann ist ein Schuldenschnitt schon dadurch gegeben, dass die italienischen Anleihen in neue Lira umgewandelt werden könnten. Die Target-Verbindlichkeiten in Höhe von 489 Mrd. Euro der italienischen Notenbank gegen das Euro-System sind ohnehin uneinbringlich. Auch wenn EZB-Präsident Mario Draghi etwas anderes behauptet – dazu ist in den Europäischen Verträgen nichts vereinbart. Daher gehört auch dies zum möglichen Erpressungspotential der italienischen Regierung.

Schon allein dieser Sachverhalt zeigt, dass die Euro-Finanzminister erneut ihre Chance einer grundsätzlichen Reform der Eurozone vertan haben. Sie haben sich nur mir Marginalien beschäftigt. Die Letztsicherung für die Bankenabwicklung ist eine erneute Vergemeinschaftung von Bankrisiken zu Lasten der Steuerzahler. Niemand glaubt ernsthaft, dass 60 Mrd. Euro für die Abwicklung auch nur einer mittleren europäischen Großbank ausreichen. Die Erweiterung der Aufgaben für den ESM rettet die falsche Architektur des Euro auch nicht. Ebenso wenig kann das Eurobudget, das Investitionsgelder für Wohlverhalten verspricht, das schleichende Auseinanderfallen der Eurozone stoppen. Eigentlich sind es selbst für diejenigen, die für eine weitere Vergemeinschaftung der Risiken eintreten, enttäuschende Vereinbarungen. Weder ist der Eurohaushalt nennenswert, noch kommt die europäische Einlagensicherung zeitnah, noch ist die europäische Arbeitslosenversicherung in Sicht. Insofern kann man auf der einen Seite froh sein, auf der anderen Seite jedoch zeigt sich wieder einmal die Reformunfähigkeit der Eurozone.

Der Regierung Merkel muss man das zum Vorwurf machen. Ideenlos tapert diese Regierung seit vielen Jahren in der Euro-Krise umher, ohne Konzept und Ideen. Notwendig wäre eine stärkere Verankerung des Haftungsprinzips. Im Einzelnen heißt das: wer das Target-Problem lösen will, muss Banken auferlegen, dass sie Staatsanleihen risikogerecht mit Eigenkapital unterlegen müssen. Wer das Erpressungspotential der Target-Verbindlichkeiten lösen will, muss dafür sorgen, dass diese Verbindlichkeiten bei einem Ausscheiden eines Mitgliedsstaates zu echten Verbindlichkeiten werden, die dann auch eingefordert werden können.

Wer das ökonomische Auseinanderfallen des Euroraums lösen will, muss geordnete Ausstiegsverfahren aus dem Euro ermöglichen. Wie schwer, aber wie notwendig dies zugleich ist, zeigt der Brexit. Und wer die Disziplinlosigkeit der EZB verändern will, muss dafür sorgen, dass diese ihre unkonventionelle Geldpolitik endlich beendet. Letzteres ist wohl der größte Brocken. Dennoch, wer daran nicht arbeitet, macht nur Symbolpolitik, die schon bald ihr Ende finden wird.

Erstmals erschienen bei Tichys Einblick.

Photo: LSE Library from flickr (CC 0)

Was passiert eigentlich, sollte Theresa May am kommenden Dienstag die Abstimmung über das Brexit-Abkommen mit der EU im Unterhaus verlieren? Dass sie keine Mehrheit im House of Commons hat, ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Die nordirische Democratic Unionist Party (DUP), die derzeit mit ihren 9 Sitzen im Parlament die Mehrheit der Torys sichert, verweigert eine Zustimmung. Auch Labour will nicht helfen, und die Liberaldemokraten sind eh gegen den Brexit. Mit der wachsenden Widerstandsgruppe der Brexiteers in den eigenen Reihen reicht es daher nie und nimmer für eine Mehrheit für Theresa May. Doch was passiert danach?

Dazu haben Medien eine Variante ins Spiel gebracht, die aktuell unter den britischen Parlamentariern wachsende Zustimmung erfährt, und die ich an dieser Stelle und bereits im Juni 2017 in der „Welt“ vorgeschlagen habe. Es ist der Efta-Beitritt Großbritanniens. Der Plan, der fraktionsübergreifend Unterstützer hat, wird als „Norwegen-Plus“ bezeichnet.

Der Efta-Beitritt Großbritanniens hätte Charme. Denn er wäre für die Briten ein Zurück zu den Wurzeln. Gemeinsam mit Island, Norwegen, Lichtenstein und der Schweiz bildete Großbritannien bis 1973 die Europäischen Freihandelsassoziation (Efta). Danach traten die Briten aus und der damaligen Europäischen Gemeinschaft bei. Die heutige Efta, die sich im Wesentlichen auf die Vertiefung der Wirtschaftsbeziehungen ihrer Mitglieder konzentriert, und die EU bilden gemeinsam den Europäischen Wirtschaftsraum. Die Schweiz spielt hier eine Sonderrolle. Sie gehört zwar der Efta an, hat ihren Zugang zum Europäischen Binnenmarkt aber mit unzähligen eigenen Abkommen geregelt. Die Efta-Mitglieder haben sich gegenüber der EU eigene Rechte vertraglich zusichern lassen. Die Schweiz beispielsweise hat dies für seine Landwirtschaft getan, Norwegen für seine Fischerei. Darauf setzt der „Norwegen-Plus“-Plan. Britannien soll der Efta wieder beitreten und seine besonderen Spezifikationen in zusätzlichen Vereinbarungen mit der EU regeln.

In der aktuellen Berichterstattung wird derzeit zu wenig deutlich, um was es eigentlich am kommenden Dienstag geht. Mit Großbritannien tritt das Land mit der zweitgrößten Wirtschaftskraft aus der EU aus. Nur Deutschland hat mit 3,2 Billionen Euro ein größeres Bruttoinlandsprodukt (BIP). 2,3 Billionen Euro umfasst das Bruttoinlandsprodukt des Vereinigten Königreiches. Waren und Dienstleistungen im Wert von 320 Milliarden Euro werde jedes Jahr vom Festland auf die Insel gebracht, 196 Milliarden Euro von der Insel auf den Kontinent. Allein der Handel mit Deutschland beträgt von britischer Seite 41 Milliarden Euro und von deutscher Seite 84 Milliarden Euro. Ein harter Brexit hätte fatale Folgen für die Warenströme und die enge Verbindung der Lieferketten in ganz Europa. Die Dimensionen verwischen in der Alltagsdiskussion zuweilen.  Seit 2010 diskutieren die EU und ihre Mitgliedsstaaten über die Probleme Griechenlands. Diese sind für Griechenland selbst wahrlich bedeutend, für die EU jedoch marginal. Die griechische Wirtschaftskraft ist 13 Mal kleiner als die britische. Die Briten sind wirtschaftlich ein Gigant und die Griechen ein Zwerg. 18 der verbleibenden 27 EU-Mitgliedsstaaten haben gemeinsam eine geringere Wirtschaftskraft als das Vereinigte Königreich alleine. Ein Austritt Großbritanniens ohne ein gemeinsames Abkommen, wie mit dem grenzüberschreitenden Handel mit Waren und Dienstleistungen umgegangen wird, wäre eine Katastrophe.

Der Beitritt Großbritanniens zur Efta würde den Briten und der EU Zeit geben, die nicht gelösten Probleme geordnet zu besprechen. Diese sind wahrlich nicht trivial. Wie will man mit Irland und Nordirland umgehen, wenn nach der Übergangsphase bis 2021 keine Einigung erzielt wurde. Den angedachten „backstop“, der Nordirland dann in der Zollunion mit der EU belässt und der nur gemeinsam mit der EU gekündigt werden kann, verstehen die Briten als Souveränitätsverlust. Doch soll es wieder Grenzen auf der grünen Insel geben?  Fast 30 Jahre fand darüber ein blutiger Konflikt zwischen Protestanten und Katholiken in Nordirland statt. Das ist sicherlich kein Weg.

Photo: konstantin von flickr (CC BY 2.0)

Vor einem Monat habe ich hier an dieser Stelle über das System des Gerichtshofs der EU geschrieben. Warum fallen dessen Urteile immer so vorteilhaft für die EU und ihre Institutionen aus? Besonders auffällig erschien mir hier die Rechtssprechung zur Politik der EZB zu sein. Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe hatte in seinem Vorlagebeschluss aus August 2017 noch „gewichtige Gründe“ angeführt, wonach das Anleiheaufkaufprogramm der EZB von März 2015 (Public sector asset purchase programme, PSPP) möglicherweise verbotene monetäre Staatsfinanzierung darstellt. Über die europarechtliche Dimension sollte jedoch der EuGH in Luxemburg urteilen, bevor die Karlsruher Richter ihr abschließendes Urteil fällen. In seinen Schlussanträgen vom 4. Oktober 2018 schlug der Generalanwalt Melchior Wathelet dem EuGH vor, dem Bundesverfassungsgericht zu antworten, „dass die Prüfung des Beschlusses der EZB zum PSPP nichts ergeben hat, was seine Gültigkeit beeinträchtigen könnte.“

Drei Gründe führt der Belgier in seinen Anträgen an. Ersten stehe der Beschluss nicht im Widerspruch zum Verbot der monetären Finanzierung. Alle Mitgliedsstaaten (außer Spanien) seien inzwischen aus einem Verfahren wegen übermäßigen Defizits entlassen worden. Diese objektive Lage deute darauf hin, dass die Mitgliedsstaaten der Eurozone eine gesunde Haushaltspolitik verfolgten. Italien lässt grüßen!

Zweitens habe die EZB weder ihre Befugnisse missbraucht, noch offensichtlich die Grenzen ihres Ermessens überschritten. Und drittens sei das Programm verhältnismäßig, da es zur Erreichung seines Ziels ebenso geeignet wie erforderlich sei und offensichtlich nicht über das für die Erreichung des Ziels Erforderliche hinausgehe. Mehr Freispruch für die EZB geht nicht und mehr Niederlage für die Kläger auch nicht.

Doch wer ist dieser Generalanwalt eigentlich, der solche Schlussanträge schreibt? Melchior Wathelet ging mit 28 in die Politik. Er war in den 1980er und 1990er Jahren Justizminister in Belgien. Im Skandal um den Kinderschänder Marc Dutroux spielte er ein unrühmliche Rolle. „Die Zeit“ schrieb 2004 über ihn: „Die Dutroux-Untersuchungskommission erklärte schon im April letzten Jahres, dass ein Dutzend Polizei- und Justizbeamte versagt hätten. Das Parlament nahm diesen Bericht einstimmig an, aber die Staatsdiener blieben auf Ihren Posten. Die Kommission rügte auch den ehemaligen Justizminister Melchior Wathelet. Er hatte Marc Dutroux, der damals wegen Entführung und Vergewaltigung von fünf Mädchen im Gefängnis gesessen hatte, 1992 überraschend begnadigt.“

Die Dutroux-Affäre, die ganz Belgien in den 1990er Jahren erschütterte, schadete ihm nicht. Von 1995 bis 2003 war Wathelet Richter am EuGH. Von 2012 bis zum 6. Oktober 2018 entsandte ihn die belgische Regierung als einen von elf Generalanwälten an den EuGH. Seine Beschlussempfehlung zum Anleihenkaufprogramm ist zwei Tage vor seinem Ausscheiden datiert. Es war wohl die letzte Beschlussempfehlung für den heute 69jährigen.

Er verliert ein attraktives Amt, das, sollte er neben seinem Sohn, dem früheren belgischen Innenminister, noch mindestens ein weiteres Kind haben, mit über 28.000 Euro im Monat vergütet wird. Anders als am Bundesverfassungsgericht können Richter und Generalanwälte am EuGH wiedergewählt werden, was bei 4 von 11 Generalanwälten derzeit auch der Fall ist. Ein Richter am EuGH kommt bei gleichen familiären Bedingungen auf fast 27.000 Euro im Monat. Die 12jährige Amtszeit am Bundesverfassungsgericht ist der Höhepunkt einer juristischen Karriere, eine Berufung an den EuGH kann dagegen zu einer Dauerbeschäftigung werden. Allein diese Anreizwirkung führt nicht nur bei Richtern und Generalanwälten aus ärmeren Mitgliedsstaaten der EU zu einer Sogwirkung in Richtung Luxemburg, deren Verlängerung man gerne anstrebt. Die Unabhängigkeit des Amtes stärkt dies sicherlich nicht.

Die Krise der EU ist zuerst eine Krise seiner Institutionen. Sie genießen zu wenig Vertrauen. Oftmals zurecht. Doch die Gründe hierfür sind meist nicht individuelle Fehler Einzelner, sondern sind institutionell verankert. Falsche Anreize, unzureichende Machtbalance und Intransparenz führen zu dieser Entwicklung. Die Antwort darauf muss also lauten: Machtbegrenzung durch größtmögliche Transparenz und Offenheit und konstitutionelle Regeln, die der komplexen Struktur der EU angemessen Rechnung tragen.

Erstmals erschienen bei Tichys Einblick.

Photo: Garry Knight from Flickr (CC0 1.0)

Knappe Mehrheiten können oft weitreichende Folgen haben. Die Brexit-Entscheidung vom 23. Juni 2016 in Großbritannien hat solche Folgen – wahrscheinlich über Jahrzehnte hinweg. Damals stimmte eine knappe Mehrheit von 51,9 Prozent für den Austritt der Briten aus der Europäischen Union. 48,1 Prozent stimmten für den Verbleib. Rund 52 Prozent bestimmen also über 48 Prozent. Das nennt man Demokratie. Die Herrschaft der Mehrheit über die Minderheit wird allgemein akzeptiert, obwohl dieses Prinzip auch seine Grenzen kennt. Unser Grundgesetz kennt zahlreiche Grundrechte, die auch Minderheiten erlaubt, sich gegen den Mehrheitswillen zu behaupten. Die Gleichheit vor dem Gesetz (Artikel 3) gehört dazu. Die Glaubensfreiheit (Artikel 4) gehört ebenfalls dazu. Und natürlich schützt auch die Meinungsfreiheit (Artikel 5) die Minderheit vor der Mehrheit. Wer das Grundgesetz verändern will, braucht dazu eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag und Bundesrat. Die Grundrechte sind jedoch unveräußerlich. Ihr Wesenskern kann nicht einmal von einer Zweidrittelmehrheit verändert werden. Die Ewigkeitsklausel im Grundgesetz verhindert dies.

Das einfache Mehrheitsprinzip hat viele Vorteile. Es ist praktisch und pragmatisch zugleich. Es sichert den unblutigen Machtübergang in einer Demokratie. Man kann nicht immer warten, bis alle zustimmen. Das ist das pragmatische Argument. Für Liberale ist das Prinzip der Einstimmigkeit dennoch eigentlich das freiheitlichste. Denn immer wird bei Mehrheitsentscheidungen in die Lebensentwürfe Einzelner auf der unterlegenen Seite eingegriffen.  Daher ist es nur recht und billig, wenn jeder Einzelne diesem Eingriff auch aktiv zustimmen muss.

Das Mehrheitsprinzip ist in der Demokratie dennoch eine allgemein akzeptierte Regel, die schnell Klarheit schafft. Doch ist das einfache Mehrheitsprinzip ausreichend, um sehr grundsätzliche Fragen zu klären? In Großbritannien werden 48 Prozent der Briten sehr fundamental in ihren Lebensentwürfen beeinträchtigt. Berufliche Perspektiven werden mit einem Schlag zerstört, unternehmerische Risiken entstehen urplötzlich, die existenzgefährdend sein können, und wo früher ein freier Personenverkehr zwischen der Republik Irland und Nordirland stattfand, drohen vielleicht bald wieder Schlagbäume, und die alten Konflikte zwischen Katholiken und Protestanten in Irland könnten wieder aufbrechen.

Das Brexit-Votum zeigt, dass knappe Mehrheiten nicht immer friedensstiftend sind. Eigentlich war der Fehler des Brexit-Referendums nicht die Volksbefragung an sich. Denn über kurz oder lang hätte auch eine Mehrheit im Parlament dies beschließen können. Der Fehler des Referendums war das Quorum. Eine einfache Mehrheit kann für diese grundsätzliche Entscheidung nicht reichen. Noch 1975 stimmten 67 Prozent für einen Beitritt zur damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Schon dieses klare Votum hatte die Minderheit nicht beruhigt. Das eine Drittel, das damals gegen den Beitritt stimmte, war wahrscheinlich schon zu groß. Vielleicht wäre ein Dreiviertelquorum oder sogar ein Vierfünftelqourum besser gewesen, um Rechtsfrieden zu schaffen. Die Entscheidungen würden bei größeren Voten dann zwar länger dauern. Das muss aber nicht falsch sein. Eine Gesellschaft hätte länger Zeit, das Für und Wider zu diskutieren, die Folgen abzuschätzen und alle mitzunehmen.

Das Beispiel des Brexit-Referendums zeigt eines: Alles, was die Regierung May jetzt macht, kann eigentlich nur falsch sein und wird zu großen Verwerfungen führen. Setzt sie den verhandelten Kompromiss durch, dann schafft sie keine Akzeptanz bei denen, die für den Brexit gestimmt haben. Sie wollten aus der EU raus, wollten selbst über ihr Schicksal bestimmen und landen jetzt in einer Zollunion, deren Regeln sie nicht beeinflussen können, die sie aber dennoch befolgen müssen. Scheitert May im Parlament, dann kommt es zum ungeordneten Brexit und zu Neuwahlen. Die Folge dürfte sein, dass die Warenströme von heute auf morgen zum Erliegen kommen. Es hätte fatale Folgen für die Wirtschaft in Britannien und auf dem Kontinent. Und kommt es zu einem neuen Referendum, dann fühlen sich die Gewinner von 2016 hintergangen. Es gibt keine Auflösung des Konfliktes. Das ist das Dilemma der knappen Mehrheit. Sie hat keine breite gesellschaftliche Akzeptanz. Deshalb ist jeder Kompromiss eine Einladung an die Gegner, erneut zu mobilisieren und den Kompromiss zu Fall zu bringen. Demokratie kann nur dann friedensstiftend sein, wenn grundlegende Fragen nicht mit 50 Prozent plus einer Stimme bestimmt werden, sondern mit einer qualifizierten Mehrheit, die so unumstritten ist, dass sie schon aufgrund ihrer großen Mehrheit zu Rechtsfrieden führt.