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Photo: Cédric Ouisney from Flickr (CC BY 2.0)

Die Schwäche der Europäischen Union liegt auch in ihren Institutionen begründet. Sie sind im Zuge der Erweiterung der EU vielfach zu schnell gewachsen. Aber nicht nur. Es sind auch prinzipielle Konstruktionsfehler, die ein „Checks and Balances“ zwischen Kommission, Rat und Parlament der EU und den Organen der Mitgliedstaaten verhindern. In wesentlichen Fragen stehen Parlament und Kommission gemeinsam gegen die Mitgliedstaaten. Es geht ihnen um mehr Macht, um gegenüber den Mitgliedstaaten, deren Parlamenten und Regierungen mehr Rechte und Einfluss zu gewinnen. Dies geschieht nicht durch die Änderung der EU-Verträge, sondern meist durch eine großzügige Auslegung der Verträge. Das ist eigentlich nicht verwunderlich. In einer Demokratie gibt es immer ein Spannungsfeld zwischen Regierung und Parlament um Einfluss und Macht. Auch zwischen den staatlichen Ebenen in Deutschland findet diese Auseinandersetzung statt. Die Bundesebene strebt aktuell nach mehr Einfluss in der Bildungspolitik. Über Umwege hat der Bund in der Vergangenheit die baulichen Investitionen an Schulen gefördert, obwohl dafür eigentlich die Länder zuständig sind. Jetzt will der Bund das Grundgesetz ändern, um noch stärker in die Bildungsfinanzierung einsteigen zu können. Eine Machtverschiebung zugunsten des Bundes geht damit einher.

Auf EU-Ebene kommt jedoch noch eine weitere Institution in den Blick, die die Zentralisierungstendenz entscheidend fördert. Gemeint ist der Gerichtshof der EU in Luxemburg. In Fragen der gemeinsamen Währung, des Euro, wird es immer wieder deutlich, dass das Gericht alles durchwinkt, was die Europäische Zentralbank an unorthodoxer Geldpolitik beschließt und durchführt. So hat der EuGH den OMT-Beschluss zum unbegrenzten Ankauf von Staatsanleihen bestimmter Mitgliedsstaaten gebilligt und auch beim jüngsten Anleihenkaufprogramm der EZB über 2,5 Billionen Euro zeichnet sich eine Billigung des EuGH ab, nachdem Generalanwalt Melchior Wathelet in einem Gutachten das Ankaufprogramm gutgeheißen hat. Viele andere Beispiele für diese Tendenz sind seit Jahren bekannt. Der ehemalige Bundesverfassungsrichter und spätere Bundespräsident Roman Herzog beklagte vor Jahren, dass der EuGH mit immer erstaunlicheren Begründungen den Mitgliedstaaten ureigene Kompetenzen entziehe und massiv in ihre Rechtsordnungen eingreife.

Der Grund für diese Zentralisierungstendenzen und die Unterstützung des EuGHs liegt auch in der Zusammensetzung und der Auswahl des EuGH. Die Organe des EuGH bestehen derzeit aus dem Gerichtshof und dem Gericht. Jeder Mitgliedsstaat kann derzeit einen Richter an den Gerichtshof und ab 1.10.2019 sogar zwei Mitglieder an das Gericht entsenden. Für die Richter ist das durchaus auch wirtschaftlich attraktiv. Ein verheirateter Richter mit zwei Kindern erhält am Gerichtshof ein Grundgehalt von 21.322,52 Euro, eine Haushaltszulage von 598,53 Euro, eine Kinderzulage von 751,18 Euro, einer Erziehungszulage von 509,66 Euro, eine Residenzzulage von 3.199,88 Euro und eine Aufwandsentschädigung von 607,71 Euro. Summa summarum macht dies eine Vergütung von 26.999,48 Euro. Bei den Richtern am Gericht liegt die vergleichbare Vergütung nur unwesentlich niedriger bei 25.060,15 Euro. Die besondere steuerliche Behandlung bei Beschäftigten von EU-Institutionen macht das Ganze zusätzlich attraktiv. Ein Richteramt in Luxemburg ist nicht nur für Juristen aus den Schwellenländern Malta, Zypern, Griechenland oder Rumänien attraktiv. Aber Richter aus diesen Ländern können in Luxemburg ein Vielfaches dessen verdienen, was sie sonst am Verfassungsgericht ihres Landes bekämen.

Wer es einmal geschafft hat, dort Richter zu werden, will es auch bleiben. Anders als beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe, wo die Amtszeit 12 Jahre beträgt und Richter nicht wiedergewählt werden können, ist die Wiederernennung der Richter am Gericht und am Gerichtshof nach sechs Jahren Amtszeit möglich. Dies führt dazu, dass beispielsweise der Luxemburger Marc Jaeger seit 1996 dem Gericht angehört und der Finne Allan Rosas seit 2002 dem Gerichtshof.

Wer die EU-freundlichen Urteile des EuGH ändern will, muss daher an der Auswahl und der Institution an sich ansetzen. Besser wäre es, wenn der EuGH sowohl am Gerichtshof als auch am Gericht, lediglich Richter einsetzt, die von den nationalen Verfassungsgerichten und den obersten Gerichten der Mitgliedsstaaten für eine bestimmte Zeit entsandt werden. Sie sollten also am nationalen Gericht angesiedelt sein, dort auch vergütet werden und gegebenenfalls über eine Zulage den erhöhten Aufwand in Luxemburg erstattet bekommen. Gleichzeitig sollte eine Wiederernennung der Entsendung ausgeschlossen werden, um die Unabhängigkeit der Richter und des Gerichts zu stärken. Wer die Zentralisierungstendenz in der EU bremsen will, muss auch hier ansetzen.

Erstmals erschienen bei Tichys Einblick.

Photo: Yanapi Senaud from Unsplash (CC 0)

In einer Marktwirtschaft entscheidet allein der Konsument, was er kaufen will oder nicht kaufen will. Die Anbieter orientieren sich an den Wünschen des Käufers. Die, die es besser als ihre Wettbewerber machen, kommen voran, die, die es schlechter machen, bleiben auf der Strecke. In der staatlichen Kommandowirtschaft entscheidet eine Behörde oder Regierung über das, was angeboten wird. In der Woche, in der dieses Land den Tag der Deutschen Einheit feiert, darf man daran erinnern: Was in der Zeit vor 1989 im östlichen Teil dieses Landes angeboten wurde, war vorbestimmt. Die Produzenten richteten sich nicht nach den Wünschen der Konsumenten, sondern nach den Vorgaben des Regimes. Die Folge war eine Fehllenkung der Produktion an den Wünschen der Konsumenten vorbei. Weder die Qualität noch die Quantität wurden zur richtigen Zeit am richtigen Ort zur Verfügung gestellt. Der Grund war: der Sozialismus funktioniert nicht, weil er keine Preissignale kennt. Anbieter und Konsumenten leben aneinander vorbei. Das Regime konnte die Präferenzen des Einzelnen nicht kennen, und plante an der Wirklichkeit vorbei. Das Ende kennen wir.

Heute verlieren die Marktwirtschaft und ihre Orientierung am Konsumenten leider ebenfalls zunehmend an Bedeutung. Das liegt daran, dass diejenigen, die wahrscheinlich auf der Strecke bleiben, das Prinzip der Marktwirtschaft umgehen wollen. Sie nehmen auf die Regulierer und den Gesetzgeber Einfluss. Sie führen dabei wohlklingende Argumente an. Oft sind es die Arbeitsplätze, der Jugendschutz oder die Steuerzahlungen des vermeintlich Benachteiligten. Argumente wie diese gibt es viele. Sie sind aber meist vorgeschoben.

Jüngstes Beispiel ist die neue Richtlinie für TV und Videos, die das Parlament der Europäischen Union in dieser Woche verabschiedet hat. Darin verpflichtet das Parlament die Anbieter von Video-on-demand und Video-sharing-Plattformen wie Netflix, YouTube und Facebook dazu, dass mindestens 30 Prozent ihrer Inhalte in Europa produziert werden müssen. Das erinnert ein wenig an die Forderung, die meist in der nachrichtenarmen Sommerzeit aufgestellt wird, eine Schlagerquote bei Radiosendern in Deutschland einzuführen. Der Unterschied ist jedoch, dass letzteres meist ein Sommer-Gag ist, aber ersteres bald Rechtskraft erlangt. Lediglich der Ministerrat muss noch zustimmen.

Dass dies am Interesse der Kunden und Käufer vorbeigeht, zeigt auch die Begründung der zuständigen Berichterstatterin im EU-Parlament Sabine Verheyen. Sie sagte zur Verabschiedung der Richtlinie: „Dies wird der Kreativindustrie im audiovisuellen Bereich großen Auftrieb verleihen“. Es geht also nicht um die Wünsche der Kunden, sondern um die „Kreativindustrie“. Nach dem Motto: Wenn die Pferde nicht richtig saufen, müssen sie zur richtigen Tränke geführt werden. Diese Form von Industriepolitik ist eine perfide Form des Protektionismus, die in vielen Bereichen Schule macht. Sie ist auch eine Form des Nationalismus, eines europäischen Nationalismus, der hier zum Ausdruck kommt. Mit Eingriffen in die Selbstbestimmung des Einzelnen, will man die Industrie im eigenen Land oder einzelne Berufsgruppen bevorteilen, weil diese nicht leistungsfähig genug sind. Man glaubt, eine höhere Instanz könne das besser entscheiden als der Einzelne.

In so einem Umfeld kann dann Donald Trump auch ein Abkommen mit Mexico und Kanada erzwingen, in dem er dem jeweilig anderen Land und dessen Unternehmen vorschreibt, wie hoch der Anteil der Autoteile sein muss, der in den USA produziert werden muss. Das NAFTA-Nachfolgeabkommen USMCA sieht hierfür eine Quote von 75 Prozent vor. Zusätzlich müssen die Autos zu 40 Prozent aus Teilen bestehen, die von Arbeitern mit einem Mindeststundenlohn von 16 US-Dollar zusammen- bzw. eingebaut wurden. Erschwinglicher werden so die PKWs in den USA sicherlich nicht. Am Ende werden sich Geringverdiener weniger Auto leisten können oder ihre Ersatzbeschaffung hinausschieben. Soll noch jemand sagen, Trump hätte Kanada angeboten, sämtliche Zölle und Handelsschranken abzubauen. Das neue Abkommen spricht da eine völlig andere Sprache.

Wir leben aktuell in einer weltweiten Protektionismus-Spirale, deren Antreiber nicht nur Donald Trump ist, sondern wo auch die Europäische Union vorne mit dabei ist. Das ist nicht nur eine Gefahr für den weltweiten Handel, sondern letztlich für den Wohlstand aller. Konsumenten überall auf der Welt können nicht die Güter und Dienstleistungen erwerben, die sie persönlich für vorteilhaft ansehen, sondern sie müssen erst die EU, Donald Trump oder die eigene Regierung fragen. Freiheitlich ist das nicht. Es bedarf eigentlich eines breiten Widerstandes gegen diese Entwicklung. Doch alle schauen zu, ducken sich weg, als sei das alles Gottgegeben und ein unaufhaltsamer Trend. Wo ist der Aufschrei der Bürger, der Konsumenten, der Arbeitslosen, der Geringverdiener, der Autokäufer und der Netflix-Nutzer? Wo nur?

Photo: Luis Ascenso from Flickr (CC BA 2.0)

China auf dem Vormarsch, die USA im Taumel. Kein Wunder, dass die Debatte um die Rolle Europas in der Welt wiederaufkommt. Dabei sollte man weder auf Großmannssucht noch auf Selbstverzwergung setzen, sondern auf das, was Europa so groß gemacht hat: Vielfalt und die Fähigkeit zur Kooperation.

Großmacht Europa – eine Dystopie

Auf hohem intellektuellem Niveau tobt auf deutschen Zeitungsseiten gerade eine Debatte um die Frage, welchen Platz Europa bzw. die Europäische Union in der Welt einnehmen sollte. Ende Juli meldete sich in der Süddeutschen Zeitung Joschka Fischer zu Wort, der inzwischen zum glühenden Westler gewandelte Alt-68er. Er plädierte dafür, das derzeit durch den Ausfall der Vereinigten Staaten entstehende Vakuum zu füllen durch eine aktivere Rolle der EU, die – wie zu Zeiten des Kalten Krieges die USA – den Part der (durchaus wehrhaften) Hüterin westlicher Werte übernehmen sollte. Mit einem sehr gelehrten und klugen Artikel antwortete im August in der FAZ der alte CSU-Recke Peter Gauweiler, indem er einen historischen Bogen von den Kreuzzügen bis heute spannte und am Ende empfahl, dass Europa eher die Rolle der Schweiz einnehmen sollte. Das wirklich Erfreuliche und Schöne an dieser Debatte ist auf jeden Fall, dass sie auf einem Niveau und mit einer Überzeugungskraft stattfindet, wie sie bei den derzeitigen Politikern kaum zu finden ist, die in der Regel nur die zwei Alternativen dümmliche Stänkerei und absolute Profillosigkeit kennen. So kann man streiten – Bravo, die Herren!

Nun aber zur Sache: So erfreulich es ist, dass Fischer inzwischen deutlich Position bezieht für die Werte der freien Welt, für liberale Demokratie und Marktwirtschaft – in all seinem Eifer schießt er über das Ziel hinaus. Es ist schon rein praktisch nicht wirklich vorstellbar, dass sich die Europäische Union mit ihren extrem unterschiedlichen außenpolitischen Kulturen auf ein gemeinsames Vorgehen einigen könnte. Und in Zeiten der ohnehin vielfältigen und gravierenden Streitpunkte von Euro über Migration bis zur Sozialunion sollte man dieses Fass wohl nicht aufmachen. Darüber hinaus ist auch die Frage – und das kritisiert Gauweiler mit sehr guten empirischen Argumenten –, wie zielführend bisher die Versuche westlicher Staaten waren, ihre Werte mit Sanktionen und Bomben durchzusetzen. Waren die Kollateral- und Folgeschäden nicht meist ein viel zu hoher Preis?

Biedermeier ist auch nicht die Lösung

Schließlich stellt sich auch noch die Frage, ob es tatsächlich mit dem vielbeschworenen europäischen Geist vereinbar sein kann, wenn die EU zu einer globalen Macht wird, die auf Augenhöhe mit China, den USA und vielleicht noch zwei, drei anderen bedeutsamen Spielern die Geschicke der Menschheit zum Guten zu wenden versucht. Sicherlich will sich Fischer nicht in diese Kontinuität stellen, aber vor 150 Jahren wurden in deutschen Zeitungen ganz ähnliche Argumente laut: Deutschland müsse auf einer Augenhöhe mit Frankreich, Großbritannien und England mitspielen können, darum sei es an der Zeit, dass die Kleinstaaterei ein Ende habe. Dabei haben viele der Einigungs- und Zentralisierungsbewegungen, die im 19. Jahrhundert Hochkonjunktur hatten, die fruchtbare Vielfalt zugunsten des mächtigen Großstaates zerstört. Das war schon einmal Europas Fanal – wir sollten den Fehler nicht wiederholen.

Was Gauweiler in seinem Text motiviert, kann man mit ähnlich viel grundsätzlicher Sympathie aufnehmen wie Fischers Überlegungen. Die beiden Altmeister deutscher Politik teilen das Anliegen einer friedlicheren und freieren Welt. Doch während Fischers Vorschlag eine Art Hyper-Realpolitik mit missionarischem Eifer ist, neigt Gauweilers Alternative dazu, zu einem Scheuklappen-Biedermeiertum umzuschlagen, das jegliche Ambitionen aufgibt. Das kann man sich vielleicht leisten, wenn man die Schweiz ist, die ihm ja als Ideal vorschwebt, aber die EU könnte eine solche Position niemals einnehmen. Sie ist verletzlich, insbesondere an ihren östlichen und südlichen Grenzen. Sie ist zutiefst verwoben in eine globalisierte Welt. Und sie muss ein Interesse daran haben, dass Stabilität und Prosperität weltweit zunehmen. Die Schweiz profitiert davon, dass sie ein winziges Land ist, umgeben von großen Staaten, die zugleich wie Puffer wirken und dankbare Handelspartner sind. In dieser komfortablen Lage befindet sich die EU nicht.

Die Hände gehören weder an den Abzug noch in den Schoß

Die Übersichtlichkeit und Berechenbarkeit der Almhütte in den Bergen, die ja sozusagen der Nucleus des Schweizer Sonderwegs ist, passt auch nur zu einem Teil Europas. Die treibenden Motoren der westlichen Zivilisation waren hingegen die lombardischen und flämischen Händler, die spanischen und schottischen Gelehrten, die Verfassungsväter Amerikas und die Trümmerfrauen Mitteleuropas. Es waren Menschen, die sich in den dauernden Austausch begeben haben und Interesse an der sie umgebenden Welt hatten. Die enorme Vielfalt Europas war für sie eine Quelle der Inspiration – in der Auseinandersetzung wie im gegenseitigen Lernen. Diese Menschen haben sich aber auch durchaus offensiv für ihre Werte und Überzeugungen eingesetzt. Einfach nur die Bankkonten verwalten und die Büros des Roten Kreuzes beherbergen, ist für Europa genauso wenig eine Option wie die Marineinfanterie in aller Herren Länder zu schicken, um die Segnungen der Demokratie zu verbreiten.

Was dann? Man muss keine Großmacht sein, um Einfluss zu haben – ja, man muss nicht einmal mit einer Stimme sprechen. Man braucht dafür auch weder Panzer noch Massenvernichtungswaffen. Und vor allem muss man nicht der Versuchung erliegen, die Welt in ein „wir“ und „die“ einzuteilen. Gerade die unterschiedlichen Ansätze der europäischen Regierungen und die unterschiedlichen Beziehungen, in denen die Länder zu anderen Staaten stehen, sind doch ein wesentlich reichhaltigeres Arsenal, um auf allen möglichen Wegen für die Werte einzustehen, die uns in der EU und in Europa zusammenbringen. Am Ende werden weder Waffen die Welt verändern noch der Rückzug ins Idyll, sondern das Vorbild funktionierender Ordnungen, die Attraktivität unseres Gesellschaftsmodells und die Glaubwürdigkeit, mit der wir für unsere Werte eintreten. Und diese Glaubwürdigkeit geschieht weder mit den Händen am Abzug noch im Schoß – sondern mit der ausgestreckten Hand: ausgestreckt zum Handel, zur Kommunikation und zum Friedensschluss. Die ausgestreckte Hand ist die mühsamste Alternative, aber zugleich auch diejenige, die die besten Früchte trägt.

Bild: Derrick Cooper from Unsplash (CC 0)

In dieser Woche wird fast schon traumatisiert auf die Zeit vor 10 Jahren geblickt. Am 15. September 2008 meldete die Investmentbank Lehman Brothers Insolvenz an. Das Ereignis war das Armageddon der bis dahin geltenden Doktrin, die da lautete: die individuellen Risiken müssen möglichst breit verteilt werden, dann können systemische Krisen nicht stattfinden. Die „Verpackungsindustrie“ perfektionierte dieses Modell, indem sie schlechte mit vermeintlich guten Risiken in neue Finanzprodukte verpackte. So konnten auch schlechte Risiken an den Mann gebracht werden. Die Produkte waren am Ende so kompliziert, dass deren Inhalt nur noch von wenigen verstanden wurde. Die damalige KfW-Chefin Ingrid Matthäus-Maier sagte zur Schieflage der staatseigenen Industriekreditbank (IKB) und ihres Geschäftsgebarens 2007: „Hunderte von Verträgen, jeweils 400 Seiten lang, für jedes einzelne der höchst fragwürdigen Kreditprodukte, mit denen sich die IKB verspekuliert hatte. Jeder Vertrag versehen mit Fußnoten, die auf den hinteren Seiten die wahren Risiken im Verborgenen halten.“ Das verstehe sie alles nicht. Ihre mangelnde Durchdringung kostete sie wenig später ihr Amt.

Gestern hat EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker vor dem EU-Parlament die Wirtschafts- und Finanzkrise für weitgehend überwunden erklärt. Man sollte Junckers Worte sehr ernst nehmen, denn sein berühmtestes Zitat lautet ja bekanntlich: „Wenn es ernst wird, muss man lügen.“ Es scheint also ernst zu stehen um die Europäische Union.

Die Investitionen in Europa seien vor allem dank seines Juncker-Fonds wieder gestiegen. Bald würden 400 Milliarden Euro öffentliches und privates Kapital für Investitionen bereitstehen. Sehr viel Eigenlob schwingt dabei mit. Eigentlich macht der Juncker-Fonds das, was die Verpackungsindustrie damals auch gemacht hat. Er investiert in Bereiche, in die Investoren alleine nie investieren würden. Junckers Fonds übernimmt das erste Ausfallrisiko, um privaten Investoren das Risiko des Scheiterns abzunehmen. Der einzige Unterschied zu der Zeit vor 10 Jahren ist, dass damals die Risiken hinterher verstaatlicht wurden, während sie heute sofort vom Steuerzahler übernommen werden.

Letztlich redet Juncker die Situation schön. Nicht sein Juncker-Fonds sorgt für Wachstum in Europa, sondern das billige Geld der Notenbanken, insbesondere der EZB. Zwar wächst die Wirtschaft in der EU seit 21 Quartalen, wie Juncker ebenfalls stolz betont, aber die Verschuldung wächst viel dynamischer. Die Euro-Zone ist inzwischen mit 87 Prozent zur Wirtschaftsleistung verschuldet. Spanien mit 98 Prozent, Frankreich mit 97 Prozent und Italien mit 132 Prozent. Auf das Platzen der Blasen an den Finanzmärkten 2008 wurde mit neuen Schulden reagiert. In den letzten 10 Jahren ist die weltweite Verschuldung aller Marktakteure um 39 Prozent auf 247 Billionen Dollar gestiegen. Das sind 318 Prozent der weltweiten Wirtschaftsleistung. Insbesondere die Verschuldung im staatliche Sektor ist enorm angestiegen (+81 Prozent), aber auch der Unternehmenssektor (+60 Prozent) ist besonders betroffen. Steigende Verschuldung geht einher mit einer steigenden Kreditvergabe der Banken und damit einer Ausweitung der Geldmenge. Dieses Geld sucht seine Anlagemöglichkeiten.

Die Erkenntnis, nicht erst seit der jüngsten Finanzkrise, ist, dass dieses Geld in Vermögensgüter wie Unternehmenswerte und Immobilien fließt. Deren Preise steigen durch das Überangebot an billigem Geld. Wenn Immobilienpreise steigen, dann steigen meist auch deren Mieten. Sozialdemokraten glauben in diesem Szenario, man müsse dann einfach einen Mietenstopp verhängen. Wenn der Gesetzgeber Mieterhöhungen verbietet, dann sei das Problem gelöst. Jetzt müsse nur noch der öffentliche Wohnungsbau gefördert werden, dann würde sich der Markt schon wieder entspannen. Tatsächlich haben diese Zentralplaner die Zusammenhänge nicht durchdrungen. Mieten bleiben nur dann bezahlbar, wenn neue Angebote entstehen. Weniger Bauvorschriften und mehr privater Wohnungsbau lassen bezahlbare Mieten entstehen.

Eigentlich hat die Bankenrettung 2007/2008 (IKB, Hypo Real Estate, Landesbanken) mittelbar die Mieterhöhungen in den Ballungszentren in Deutschland mitverursacht. Der Sozialdemokrat Peer Steinbrück war damals Bundesfinanzminister und trat gemeinsam mit Angela Merkel vor die Kameras, um die milliardenschweren Bankenrettungen zu begründen. Seitdem existiert auch die unorthodoxe Geldpolitik der Notenbanken, insbesondere der EZB. Der Zins ist seitdem manipuliert. Der bald scheidende EZB-Präsident Mario Draghi trägt dafür maßgeblich die Verantwortung. Er raubt Europa die Zukunft. Schon deshalb ist es grob fahrlässig, wenn jetzt die Bundeskanzlerin die Nachfolgefrage Draghis einfach laufen lässt und sich das deutsche Interesse auf die Nachfolge von Jean-Claude Juncker konzentriert. Bei allem Respekt: Was ist der Juncker-Fonds von fast 400 Milliarden Euro gegen das Aufkaufprogramm von bald 2.500 Milliarden Euro durch die EZB. Bestenfalls hat der Juncker-Plan keinen Schaden angerichtet. Das kann man von Draghis Aufkaufprogramm nicht sagen. Es hat unser Wirtschaftssystem abhängig gemacht vom billigen Zins. Wie Drogenabhängige wollen alle Regierungen, Unternehmen und Konsumenten diesen immer weiter für ihre Investitionen, ihren Konsum und ihren Müßiggang behalten. Daraus droht nicht nur eine verlorene Dekade, sondern weitere.

Erstmals veröffentlicht  auf Tichys Einblick.

Photo: Wikimedia Commons (CC 0)

Wer über Wettbewerb schreibt, scheint irgendwie aus der Zeit gefallen. Wettbewerb klingt so hart und ungerecht. Manche verlieren im Wettbewerb und bleiben auf der Strecke. Wieder andere sind überaus erfolgreich und sammeln Reichtümer ungeahnter Ausmaße an. Deshalb wird dem Wettbewerb oft auch ein Adjektiv vorangestellt. Er dürfe nicht „ruinös“, müsse „gerecht“ und „fair“ sein. Dafür müsse der Staat sorgen, wird vielfach verlangt. Wenn jemand sogar dem politischen Wettbewerb das Wort redet und den zwischenstaatlichen Wettbewerb nicht geißelt, sondern gutheißt, dann ist das bestimmt einer dieser Manchesterliberalen – ein Ewiggestriger. Denn so einer redet bestimmt Steueroasen und Sozialdumping das Wort. Kurzum: die soziale Kälte sprießt so einem aus allen Adern.

Roland Vaubel würde dies wahrscheinlich als Ehrenbeschreibung für sich gelten lassen. Er ist zwar kein Ewiggestriger. Aber sicherlich ein klassischer Liberaler, der seinen gut begründeten Überzeugungen auch dann noch folgt, wenn die allgemeine Stimmung gegen seine Thesen gerichtet ist.

Jetzt hat dieser Roland Vaubel, inzwischen emeritierte Professor für Volkswirtschaft in Mannheim, das Buch „Zwischenstaatlicher politischer Wettbewerb“ vorgelegt, dass das Wettbewerbsprinzip auf vielerlei politische Felder überträgt. In 17 Aufsätzen setzt er sich damit auseinander. Er beschäftigt sich historisch, ideengeschichtlich, theoretisch und anhand konkreter Beispiele mit dem politischen Wettbewerb – insbesondere in Europa. Schon zu Beginn beschreibt er den politischen Wettbewerb als das Erfolgsgeheimnis der Demokratie. Sie eröffnet den Bürgern Wahlmöglichkeiten. Ohne Alternativen gäbe es keine politische Partizipation. Je lebhafter der Wettbewerb zwischen den Politikern, desto stärker sei ihr Anreiz, sich an den Wünschen der Bürger zu orientieren.

Vaubel ist ein Anhänger von Friedrich August von Hayek, der den Wettbewerb als Entdeckungsverfahren bezeichnet hat, und ihn sogar auf das Geldwesen übertragen wollte. Der Währungswettbewerb schütze die Bürger vor hoher Inflation, denn durch Wettbewerb könnten die Geldnutzer in stabilere Währungen abwandern. Historisch ist dies durchaus belegt. Fürsten und Könige wurden im Mittelalter durch den Geldwettbewerb in Europa in ihrer Manipulation des Gold- und Silbergehalts ihrer Münzen gehemmt, da Kaufleute in ganz Europa möglichst gutes Geld vorhalten wollten. Der Systemwettbewerb in Europa zwischen Staat und Kirche hat historisch zu einer Machtbalance geführt, die die Freiheit des Einzelnen gestärkt hat. Vaubel erinnert daran, dass zum Ende des Mittelalters der Orient und China ökonomisch auf Augenhöhe mit Europa waren. Der anschließende Rückfall dieser Regionen begründet er mit dem mangelnden Wettbewerb und dem Zentralismus dieser Regionen. Entscheidungen werden mal richtig und mal falsch getroffen. In einem zentralistisch organisierten Staat treffen falsche Entscheidungen der Politik dann aber viel mehr. Ein permanent Entdeckungsverfahren kann daher nicht stattfinden.

Anschaulich ist Vaubels Beispiel der europäischen Musik als Ausdruck des Wettbewerbs. Wie konnte die europäische Musik des Barock, der Klassik und der Romantik diesen Siegeszug auf der ganzen Welt erreichen? Auch hier bemüht Vaubel das Wettbewerbsprinzip. Im kleinräumigen Europa konnten die Herrscher ihre Untertanen nicht beliebig ausbeuten und unterdrücken. Kaufleute, religiöse Minderheiten und eben auch Musiker und Komponisten konnten sich ihren Staat und ihren Wohnort aussuchen. Je kleiner der Staat, je mehr Staaten es gab, desto geringer waren die Ausweichkosten. Die wichtigsten Förderer in der Zeit des Barock waren die Fürstenhöfe und Kirchen. Sie konkurrierten um die besten Musiker und Komponisten ihrer Zeit. Zu Zeiten des Barock sind gerade in den besonders dezentral organisierten Ländern Italien und Deutschland die größten Komponisten hervorgegangen. Nach dem Dreißigjährigen Krieg existierten in Deutschland 300 eigenständige Fürstenhöfe. Dieser Umstand ermöglichte auch einen Innovationsschub. Die Fürsten des Barock waren für neue Stilentwicklungen offen, sie profilierten sich sogar damit. Der kritische Vergleich und der Entdeckungsmechanismus führten zu einem dynamischen Wettbewerb, und zu einer Verbreitung in die bürgerlichen Kreise hinein. All das hatte auch eine erhebliche ökonomische Bedeutung.

Roland Vaubel ist ein tolles Buch gelungen, das gerade dem liberal gesinnten Nachwuchs wärmstens empfohlen ist. Glauben doch viele, selbst unter Liberalen, dass Kleinstaaterei der Inbegriff des Rückschritts sei. Dies ist jedoch eine polemische Umdeutung des Begriffs. Eigentlich war dies eine entscheidende Grundlage für Rechtsstaat, Marktwirtschaft und Demokratie in unserem Land.