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Von Kalle Kappner, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Humboldt-Universität zu Berlin, Research Fellow bei IREF, Fackelträger von Prometheus.
Zu träge, zu partikularistisch und zu unübersichtlich: Im Zuge der Corona-Pandemie geriet der Föderalismus in Deutschland und anderen Ländern in die Kritik. Nicht wenige Kommentatoren wünschen sich angesichts eines angeblich unübersichtlichen „Flickenteppichs“, eines unkoordinierten „Klein-Kleins“ und ungerechter Unterschiede zwischen den Eindämmungsmaßnahmen der Länder einen zentralisierteren Ansatz – eine durchregierende Krisenkanzlerin statt allwöchentlicher Ministerpräsidentenkonferenzen.
Zwar beleuchtet die politökonomische Forschung die abstrakten Vor- und Nachteile föderaler Staatsorganisation bis ins Detail. Doch ob dezentrale Entscheidungsmechanismen während einer Pandemie mehr Nutzen stiften, als sie Kosten verursachen, ist nicht eindeutig. Dieser Beitrag beleuchtet die Rolle föderaler Institutionen zunächst aus theoretischer Perspektive.
Erste qualitative Experteneinschätzungen über die Seuchenschutzpolitik der letzten anderthalb Jahre stellen dem deutschen, kooperativ ausgerichteten Föderalismus ein überwiegend positives Zeugnis aus. Im zweiten Teil des Beitrags wird dieser Eindruck durch den internationalen Vergleich zentraler Indikatoren für den Erfolg des staatlichen Krisenmanagements ergänzt.
Effizienter Wettbewerb und Bürgernähe…
Föderale Staaten zeichnen sich durch ein hohes Maß an vertikaler Gewaltenteilung aus, das die in allen Demokratien übliche horizontale Gewaltenteilung ergänzt. In einem Föderal- oder Bundesstaat nehmen die jeweiligen souveränen Gliedstaaten eigenständige legislative, judikative und exekutive Aufgaben wahr, während sie in zentralistischen Staaten vornehmlich administrativen Zwecken dienen. Weltweit besitzen etwa 25 Staaten eine föderale Verfassung, darunter die Bundesrepublik Deutschland.
Die politökonomische Forschung identifiziert einige potenzielle Vorteile föderaler Staatsorganisation. Prinzipiell können aufgrund der dezentralen Kompetenzverteilung lokale Umstände, Präferenzen und Informationen in der politischen Entscheidungsfindung stärker berücksichtigt werden. Wenn die einzelnen Gliedstaaten im Wettbewerb um Bürger, Unternehmen und Investitionen stehen, verspüren deren politische Entscheidungsträger einen zusätzlichen Anreiz, öffentliche Güter im angemessenen Rahmen bereitzustellen. Die daraus resultierenden Effizienzgewinne sind nicht rein statischer Natur – bestenfalls fungieren die Gliedstaaten als „Labore der Demokratie“, in denen mit neuen Lösungsansätzen experimentiert wird, ohne dass die Folgen gravierender Fehlentscheidungen den ganzen Staat betreffen.
… oder teurer, unübersichtlicher Flickenteppich?
Den potenziellen Effizienzgewinnen und Lernprozessen stehen typischerweise höhere Koordinationskosten föderal organisierter Staaten gegenüber. Wenn die Entscheidungen einzelner Gliedstaaten unerwünschte Folgen für andere Mitglieder der Föderation hervorrufen können oder sinnvollerweise einheitlich zu treffen sind, werden Absprachen notwendig. Misslingen diese, entsteht der sprichwörtliche „Flickenteppich“, der nicht nur unübersichtlich, träge und ineffizient, sondern auch ungerecht und konfliktfördernd sein kann. Gehen die zwischenstaatlichen Koordinationsbemühungen hingegen zu weit, entsteht ein „föderales Kartell“, das sich in der Praxis kaum von zentralistischen Staaten unterscheidet, jedoch ohne deren typischerweise schnellere Entscheidungsprozesse auskommen muss.
Der Erfolg föderaler Modelle hängt daher von einer feinen Balance zwischen kooperationsfördernden Institutionen und regulatorischem Wettbewerb, eingespielten Abstimmungsroutinen und einer angemessenen vertikalen und horizontalen Kompetenzverteilung ab. Entsprechend differenziert die Literatur föderale Staaten hinsichtlich des Grades der Verflechtung von Politikkompetenzen und der Verbreitung kooperativer oder kompetitiver Entscheidungsprozesse. Die Bundesrepublik wird in diesem Sinne als kooperativer, verflechteter Föderalstaat eingeordnet, was sich unter anderem in der konkurrierenden Gesetzgebung, dem Länderfinanzausgleich und der grundgesetzlich angestrebten Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse ausdrückt.
Pandemie und Föderalismus
Wenngleich die abstrakten Vor- und Nachteile des Föderalismus wohlbekannt sind, ist deren konkrete Bewertung in einzelnen Politikfeldern selten eindeutig. Das beste Beispiel liefert die Corona-Pandemie. Vielfach argumentieren Kommentatoren, dass während Pandemien die „Stunde des Zentralstaats“ schlüge. Da global um sich greifende Seuchen per Definition nicht an der Grenze einzelner Gliedstaaten Halt machen, spräche wenig für lokales „Klein-Klein“ und viel für nationale und internationale Koordination. Auch die besondere Dringlichkeit mit der Seuchenschutzmaßnahmen zu treffen seien, liefert den Kritikern langwieriger föderaler Diskussionen und Abstimmungen Munition.
Kritiker zentralstaatlicher Ansätze weisen dagegen darauf hin, dass wenig Konsens über angemessene Maßnahmen bestehe. Weder seien die medizinischen, wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Pandemie absehbar, noch gäbe es aus epidemiologischer Sicht ein eindeutiges, auf alle Teile eines Landes einheitlich anzuwendendes Anti-Krisen-Rezept. Da verschiedene Seuchenschutzmaßnahmen unbekannte aber potenziell erhebliche Kosten mit sich brächten, käme lokalen Experimenten, Lerneffekten und Interessenausgleichsmechanismen eine wichtige Rolle zu; daher schlüge vielmehr die „Stunde des Föderalismus“.
Deutscher Föderalismus: Bisher bewährt
Doch grau ist alle Theorie. Wie haben sich föderale und zentralistisch organisierte Staaten in den letzten anderthalb Krisenjahren geschlagen? Eine detaillierte wissenschaftliche Auseinandersetzung wird erst in den nächsten Jahren möglich sein, doch erste fachliche Einschätzungen fällen ein überwiegend positives Urteil über das föderale Krisenmanagement.
Speziell für Deutschland finden wissenschaftliche Beobachter nur wenige Hinweise darauf, dass die Kompetenzaufteilung zwischen Bund und Ländern die Handlungsfähigkeit des Staates und die Wirksamkeit bisheriger Maßnahmen beeinträchtigt hat. Auf Basis bestehender föderaler Institutionen wie der Ministerpräsidentenkonferenz koordinierten sich die Länder und der Bund im Frühjahr 2020 im Rekordtempo und verzichteten dabei weitgehend auf unilaterale Entscheidungen. Im weiteren Verlauf etablierten die föderalen Partner einen durchaus erfolgreichen Mix aus lokalen Ansätzen und spontan koordinierten gemeinsamen Unterstandards. Dem Bund kam dabei eine weitgehend empfehlende Funktion zu – er übernahm aber auch Aufgaben, die sinnvollerweise auf nationaler Ebene anfallen, etwa den Einkauf medizinischer Ausrüstung.
Auch in anderen Föderalstaaten wie der Schweiz, Österreich und den USA fällt das Zwischenfazit über das dezentrale Krisenmanagement überwiegend positiv aus – anders jedoch in Australien und Indien. Dieser qualitative Eindruck wird ergänzt durch einen länderübergreifenden Vergleich zentraler Indikatoren für den Erfolg des staatlichen Pandemie-Managements. Über 80 Länder in Europa, Amerika und Südostasien hinweg bestätigt sich die These des handlungsunfähigen Föderalismus nicht. Weder fordert Covid-19 in föderalen Staaten überproportional viele Todesopfer, noch fallen staatliche Eindämmungsmaßnahmen laxer oder strikter aus. Auch die Verabreichung von Impfstoffen erfolgt in föderalen Ländern in einem ähnlichen Tempo wie in zentralisierten Staaten.
Aller Schelte in den Medien zum Trotz hat der Föderalismus in den Augen der Deutschen im Zuge der Pandemie ausweislich repräsentativer Umfragen sogar an Ansehen gewonnen. Dies deutet darauf hin, dass die Vorteile eines dezentralen Staatswesens hinsichtlich der Berücksichtigung lokaler Verhältnisse und Anforderungen gerade in Krisenzeiten zur Geltung kommen.
Föderale Staaten in der Krise nicht schlechter gefahren
Da die formale verfassungsrechtliche Definition föderaler Staaten nicht notwendigerweise eine tatsächlich stark ausgeprägte Dezentralisierung staatlicher Kompetenzen impliziert, bietet sich ein Vergleich auf Basis des Regional Authority Index (RAI) an. Dieser Index misst den Entscheidungsspielraum föderaler Gliedstaaten relativ zum Zentralstaat für 80 europäische, amerikanische und südostasiatische Länder anhand zehn verschiedener Indikatoren auf einer Skala von 0 (zentralisiert) bis 100 (dezentralisiert). Im aktuellsten Berichtsjahr (2016) kam Deutschland auf einen Wert von 37,4 – das ist der höchste Wert unter allen untersuchten Ländern.
Dezentralisierung und Inzidenz: Kein statistischer Zusammenhang
Oberstes Ziel des Seuchenschutzes ist es, Todesfälle durch Covid-19 zu vermeiden. Wird die Gesamtzahl der bis einschließlich 20. Juni 2021 registrierten Todesfälle ins Verhältnis zur Bevölkerung gesetzt, findet sich ein schwacher positiver Zusammenhang mit dem Dezentralisierungsgrad eines Staates. Statistisch ist dieser Effekt nicht signifikant, auch wenn für Unterschiede im (kaufkraftkorrigierten) Pro-Kopf-Einkommen und die Bevölkerungsdichte kontrolliert wird.
Deutschland liegt mit knapp 1.080 Todesfällen pro Million unter dem Gesamt- und OECD-Durchschnitt (1.148 bzw. 1.281). Insbesondere innerhalb der Gruppe der strukturell vergleichbaren 37 OECD-Länder finden sich föderale Länder sowohl mit niedriger Inzidenz (Australien) als auch solche mit hoher Inzidenz (USA). Das zentralistische Großbritannien weist eine hohe Inzidenz auf, während das ähnlich zentralistische Südkorea wenig Fälle erleiden musste. Wenn der Föderalismus in der Krise zur Last werden sollte, drückt sich dies zumindest nicht in höheren Todeszahlen aus.
Föderale Staaten weder laxer noch strikter
Im Zuge der Pandemie setzten Staaten auf zahlreiche Eindämmungsinstrumente wie den Maskenzwang, Grenzschließungen, Lockdowns und Mobilitätseinschränkungen. Der von der Universität Oxford konstruierte Containment and Health Index (CHI) bildet die Strenge derartiger und weiterer Maßnahmen auf einer Skala von 0 (lax) bis 100 (strikt) tagesaktuell ab. Wird der durchschnittliche CHI-Wert eines Staates zwischen dem 11. März 2020 (Pandemie-Erklärung der WHO) und dem 20. Juni 2021 zugrunde gelegt, ergibt sich kein signifikanter Zusammenhang mit dessen Dezentralisierungsgrad. Auch nach Korrektur für das Pro-Kopf-Einkommen und die Bevölkerungsdichte entsteht kein statistisch signifikanter Zusammenhang.
Mit einem durchschnittlichen CHI-Wert von 64,1 liegt Deutschland leicht über den Gesamt- und OECD-Durchschnittswerten (beide 60,2). Einige Kritiker des Föderalismus befürchten, dass dezentrale Entscheidungen in der Pandemie zu zaghaften Eindämmungsmaßnahmen führen – dem sprichwörtlichen „kleinsten gemeinsamen Nenner“. Andere Kommentatoren befürchten einen Überbietungswettbewerb, in dem sich Regionalfürsten mit den härtesten Ansätzen gegenseitig überbieten. Die Daten legen dagegen nahe, dass föderale Staaten auf die Pandemie bisher weder besonders lax, noch besonders strikt reagierten.
Zentral- und Föderalstaaten impfen ähnlich schnell
Zu Beginn des aktuellen Jahres trat die Beschaffung und Verteilung von Impfstoffen in den Vordergrund des staatlichen Krisenmanagements. Zwar wird der Einkauf auch in föderalen Staaten zentralistisch organisiert – im Fall der EU sogar weitgehend supranational. Doch die jeweiligen Gliedstaaten spielen bei der Organisation und Durchführung von Impfkampagnen potenziell eine wichtige Rolle. Als Indikator für den Erfolg staatlicher Impfkampagnen bietet sich der Anteil der mindestens einmal geimpften Bürger an der Bevölkerung an, die Erstimpfungsquote. Diese fällt in föderalen Staaten leicht höher aus. Doch ist auch dieser Zusammenhang statistisch nicht signifikant, auch nach Berücksichtigung unterschiedlicher Pro-Kopf-Einkommen und Bevölkerungsdichten.
Am 20. Juni 2021 betrug Deutschlands Erstimpfungsquote 50,4 %, ein weit über dem Gesamt- und OECD-Durschnitt liegender Wert (32 % bzw. 44,6 %). Eine föderale Staatsorganisation steht einer zügigen Durchimpfung der Bevölkerung offensichtlich nicht im Weg, wie Deutschland und die USA illustrieren. Andererseits preschen mit Israel und Großbritannien zwei besonders zentralistische Staaten voran. Mit Australien und Japan weisen zwei außerhalb der EU liegende Staaten trotz des unterschiedlichen Dezentralisierungsgrades eine ähnlich niedrige Impfquote auf.
Der Föderalismus funktioniert auch in der Krise
Im Zuge der Pandemie ist das Ansehen des Föderalismus in der deutschen Bevölkerung laut repräsentativer Umfragen deutlich gestiegen. Das mag angesichts der überwiegend kritischen Medienkommentare zum angeblich unübersichtlichen, chaotischen und widersprüchlichen Krisenmanagement zunächst verwundern.
Doch das hohe Ansehen föderaler Institutionen steht im Einklang mit der positiven Einschätzung seitens wissenschaftlicher Beobachter. Auch ein systematischer Vergleich dreier zentraler Indikatoren zwischen zentralistischen und föderalen Staaten verdeutlicht, dass dezentrale Entscheidungsmechanismen in der Pandemie nicht hinderlich waren. Unberücksichtigt lässt dieser Vergleich den schwer quantifizierbaren, in Krisen jedoch möglicherweise gewichtigsten Vorzug des Föderalismus: Mit den Föderalstaaten schützt eine zusätzliche Instanz die Bürger vor massiven Freiheitseinschränkungen und der Aushöhlung von Grundrechten.
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