Photo: Athena Iluz from flickr (CC BY 2.0)

Von Dr. Alexander Fink, Universität Leipzig, Senior Fellow des IREF – Institute for Research in Economic and Fiscal Issues.

Je dichter eine Region besiedelt ist, desto attraktiver kann der öffentliche Nahverkehr relativ zur Nutzung des eigenen Pkw jedoch ausgestaltet sein. Leben in einem Gebiet viele Menschen übereinander, kann der öffentliche Nahverkehr bei niedrigen Fahrpreisen kostendeckend betrieben werden. Zugleich ist er für die potentiellen Nutzer attraktiv, weil die nächste Haltestelle unweit ihrer Wohnung zu finden ist und die Wartezeiten an der Haltestelle aufgrund der hohen Frequenz der Fahrten kurz sind.

Autofahren hat in den letzten Jahren an Prestige eingebüßt. Dennoch wird weiterhin der weitaus größte Teil aller Personenkilometer im Auto zurückgelegt – 2016 knapp 80 %. Trotz der Aufarbeitung des Dieselskandals, der Diskussionen um Fahrverbote für Dieselfahrzeuge in ausgewählten Städten und der Betonung der Umweltfreundlichkeit des öffentlichen Verkehrs bleibt das Auto also das mit großem Abstand meistgenutzte Verkehrsmittel. Voraussichtlich wird sich daran so schnell auch nichts ändern. Außerhalb dicht besiedelter Städte ist das Auto dem öffentlichen Verkehr aus der Perspektive der meisten Nutzer haushoch überlegen. Wem daran liegt, dass sich mehr Menschen für den emissionsarmen öffentlichen Nahverkehr entscheiden, sollte sich für eine dichtere Besiedlung der Städte einsetzen.

Personenverkehr in Deutschland 1999 – 2016

Im motorisierten Verkehr wurden laut Daten des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur 2016 mehr Personenkilometer zurückgelegt als in den Jahren zuvor, nämlich etwas über 1.200 Milliarden.

Bei der Betrachtung des motorisierten Verkehrs werden üblicherweise individueller Verkehr und öffentlicher Verkehr unterschieden. Wege, die zu Fuß oder auf dem Fahrrad zurückgelegt werden, sind nicht dem motorisierten Verkehr zuzuordnen, und machen gemeinsam etwa 6 % aller Personenkilometer aus.

Der motorisierte Individualverkehr umfasst individuell genutzte Autos und Zweiräder und zeichnet seit 1999 für etwa 80 % der gesamten Personenkilometer im motorisierten Verkehr verantwortlich. Zum öffentlichen Verkehr sind zu zählen staatlich und privat betriebene Eisenbahnen, Flugzeuge, Omnibusse sowie Straßen- und U-Bahnen. Sie vereinen die übrigen etwa 20 % auf sich. Etwas weniger als die Hälfte davon entfällt über den betrachteten Zeitraum auf den öffentlichen Personennahverkehr, der den Nahverkehr von Eisenbahnen, Omnibussen und Straßen- sowie U-Bahnen umfasst. 2016 machte er 47 % des öffentlichen Verkehrs aus.

Der Luftverkehr und der Eisenbahnverkehr konnten ihre Anteile an den gesamten zurückgelegten Personenkilometern in den letzten Jahren ausbauen. Die auf den öffentlichen Straßenpersonenverkehr und den motorisierten Individualverkehr entfallenen Anteile gingen etwas zurück.

Öffentlicher Nahverkehr: Eine Frage des Preises?

Gerade der öffentliche Nahverkehr erhält regelmäßig viel Aufmerksamkeit. So wurde Anfang dieses Jahres diskutiert, alle Fahrgäste im öffentlichen Nahverkehr gratis zu transportieren, um die Luftverschmutzung zu reduzieren. Dabei konnte der Eindruck entstehen, der in Geldeinheiten zu entrichtende Preis sei vornehmlich verantwortlich dafür, dass nicht deutlich mehr Wege im öffentlichen Nahverkehr zurückgelegt werden. Dass eine Reduzierung des zu zahlenden Preises zu etwas mehr Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs führen würde, steht außer Frage. Dass der Effekt bedeutend wäre, ist jedoch fraglich.

Neben dem Preis blicken die Nutzer von Verkehrsmitteln auf eine Reihe weiterer Charakeristika. Die Vorzüge des motorisierten Individualverkehrs stecken bereits in seinem sperrigen Namen. Erstens, ganz individuell kann der Verkehrsteilnehmer Route und Zeitplan auf seine Bedürfnisse abstimmen. Zweitens, der Verkehrsteilnehmer muss keine Zeit darauf verwenden, sich zur nächsten Haltestelle zu bewegen, zu warten, umzusteigen und schließlich sein Ziel zu Fuß anzusteuern. Zeitaufwendig sind am öffentlichen Nahverkehr nicht die Fahrt selbst, sondern die Phasen, in denen es nicht voran geht, sowie die letzten Strecken an Start und Ziel. Drittens, im eigenen Auto kann man sich seine Mitfahrer selbst aussuchen.

Hohe Bevölkerungsdichte, attraktiver öffentlicher Nahverkehr

Je dichter eine Region besiedelt ist, desto attraktiver kann der öffentliche Nahverkehr relativ zur Nutzung des eigenen Pkw jedoch ausgestaltet sein. Leben in einem Gebiet viele Menschen übereinander, kann der öffentliche Nahverkehr bei niedrigen Fahrpreisen kostendeckend betrieben werden. Zugleich ist er für die potentiellen Nutzer attraktiv, weil die nächste Haltestelle unweit ihrer Wohnung zu finden ist und die Wartezeiten an der Haltestelle aufgrund der hohen Frequenz der Fahrten kurz sind. Ermöglicht wird die attraktive Kombination aus niedrigem Preis und schnellem Service durch die hohe Anzahl potentieller Kunden pro Fläche. Es ist keine Überraschung, dass Stadtmenschen den öffentlichen Nahverkehr besonders häufig nutzen. Beispielsweise entfielen 2013 in deutschen Städten mit mehr als 500.000 Einwohnern mehr als ein Drittel der Wege im motorisierten Verkehr auf den öffentlichen Verkehr.

Anders sieht es in dünn besiedelten Gebieten aus. Wird der öffentliche Nahverkehr hier kostendeckend bereitgestellt, ist der Preis relativ hoch und der Service langsam – die durchschnittlichen Wege zu den Haltestellen sind weit, die Frequenz der Fahrten niedrig und die Wartezeiten an den Haltestellen entsprechend lang. Je mehr das der Fall ist, desto attraktiver und effizienter ist das Auto als alternatives Verkehrsmittel. Wäre – finanziert durch Subventionen – in dünn besiedelten Gebieten das Haltestellennetz so eng und die Frequenz der Fahrten so hoch wie in einer dicht besiedelten Großstadt, würden die häufig leer umherfahrenden Fahrzeuge deutlich auf den verschwenderischen Einsatz von Ressourcen im ländlichen öffentlichen Nahverkehr hinweisen.

Dicht besiedelte Städte: Gut für Mensch und Umwelt

Eine rege Bauaktivität in den Städten hilft also nicht nur, den starken Mietpreisanstieg der letzten Jahre zu dämpfen, sondern ist auch einer dichteren Bebauung von Städten zuträglich, die wiederum den verkehrsbedingten Eimmissionsaustoß einzuschränken hilft. In dicht besiedelten Städten entscheiden sich Menschen häufiger für den emissionsarmen öffentlichen Nahverkehr oder verzichten als Fußgänger und Fahrradfahrer ganz auf motorisierte Verkehrsmittel, wenn sie sich zur Arbeit begeben, Freizeitaktivitäten nachgehen, ihre Kinder in die Kita bringen oder Einkäufe erledigen. Eine Wohnungspolitik, die insbesondere in Städten dem Neubau von Wohnungen keine Steine in den Weg legt, ist also auch verkehrs- und umweltpolitisch wünschenswert.

Erstmals erschienen bei IREF

Photo: Ken Bosma from flickr (CC BY 2.0)

Von Dr. Alexander Fink, Universität Leipzig, Senior Fellow des IREF – Institute for Research in Economic and Fiscal Issues und Fabian Kurz, Doktorand der Volkswirtschaftslehre. 

Die Relikte des Protektionismus aus der alten Welt, Zölle, sollten abgeschafft werden. Zum Wohle der Verbraucher kann dies bei zu großem politischen Widerstand in anderen Ländern auch unilateral geschehen. Doch sollen weitere substanzielle Fortschritte für einen freieren Welthandel erreicht werden, muss vor allem der Abbau nichttarifärer Maßnahmen, wie Subventionen oder Lokalisierungsmaßnahmen in Angriff genommen werden.

Die jüngsten Zollstreitigkeiten zwischen den Vereinigten Staaten und China sowie der Europäischen Union könnten den Eindruck erwecken, dass alleine Zölle den internationalen Handel behindern. Doch auch Maßnahmen, die häufig weniger transparent sind als Zölle, erschweren den Austausch von Gütern über Landesgrenzen hinweg. Diese nichttarifären Handelshemmnisse haben in den vergangenen Jahren einen Aufschwung erlebt. Während Zollbarrieren in den letzten Jahrzehnten erfolgreich abgebaut wurden, besteht die Herausforderung der weiteren Liberalisierung des internationalen Handels vor allem im Rückbau nichttarifärer Handelsbarrieren, denen ein aktuelles IREF Policy Paper gewidmet ist.

Trotz Trump: Zölle auf dem Rückzug

Die durchschnittlichen weltweiten Zölle sind in den vergangenen Jahrzehnten deutlich gesunken. Befördert wurde der Zollabbau vor allem durch das Inkrafttreten des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens (GATT) im Jahre 1947 und die Fortführung multilateraler Liberalisierungsbemühungen im Rahmen der Welthandelsorganisation (WTO) seit 1994. Multilaterale und regionale Abkommen trugen dazu bei, dass der durchschnittliche Zollsatz weltweit heute bei etwa fünf Prozent liegt.

Verdeckter Protektionismus: Nichttarifäre Maßnahmen

Doch nicht nur Zölle schränken den Handel über Grenzen hinweg ein, auch zollfremde Maßnahmen wirken handelshemmend. Nichttarifäre Handelshemmnisse umfassen eine ganze Reihe von Regierungsmaßnahmen. Sie können sowohl Exporte als auch Importe direkt betreffen, etwa durch Einfuhrkontingente, Einfuhrverbote, Einfuhrlizenzen, Zollverfahren oder Verwaltungsgebühren. Zudem können Regulierungen, die augenscheinlich nur den inländischen Markt betreffen, handelshemmende Wirkung haben, wenn sie ausländische Anbieter stärker belasten als inländische. Diese Maßnahmen „hinter der Grenze“ können Gesundheits-, Technik-, Produkt-, Arbeits-, Umweltnormen sowie Steuern, Gebühren und inländische Subventionen sein.

Gerade den Maßnahmen „hinter der Grenze“ ist zu eigen, dass ihre Wirkungsweise undurchsichtiger ist als die von Zöllen. Darüberhinaus werden Maßnahmen, die Einfuhren nicht explizit zahlenmäßig beschränken, sondern lediglich erschweren, von Regierungen nicht zwingend als solche gekennzeichnet – im Gegenteil. Regierungen führen zur Rechtfertigung protektionistischer Maßnahmen andere legitime Ziele an, um sich dem Vorwurf des Schutzes einheimischer Unternehmen zum Nachteil ausländischer Produzenten zu entziehen.

Trotz der Schwierigkeiten, nichttarifäre Handelshemmnisse zu identifizieren, erlauben die Daten zweier Quellen, die Entwicklung ihres Einsatzes über die Zeit zu beurteilen: Die WTO stellt Daten zu de jure nichttarifären Handelshemmnissen bereit. Die Initiative Global Trade Alert der Universität St. Gallen stellt Daten zu de facto handelshemmenden tarifären und nichttarifären Maßnahmen zur Verfügung.

WTO: De jure nichttarifäre Handelshemmnisse

Zahlen der Welthandelsorganisation zeigen, dass die Anzahl jährlich gemeldeter nichttarifärer Handelshemmnisse seit dem Jahr 2000 deutlich zunahm. Neue potentiell handelsbeschränkende Maßnahmen müssen von allen Mitgliedern der Welthandelsorganisation an diese gemeldet werden. Seit dem Jahr 2000 hat sich die Anzahl der jährlichen Meldungen deutlich erhöht – von 750 im Jahr vor dem Eintritt Chinas in die WTO auf 1480 im letzten abgeschlossenen Jahr 2017.

Fast 80 Prozent aller neu eingeführten nichttarifären Maßnahmen sind im Bereich Hygiene- und Gesundheitsschutz zu verorten. Diese Maßnahmen betreffen vor allem Agrarprodukte wie Grundnahrungsmittel. Technische Barrieren, die diskriminierende technische Vorschriften, Normen und Konformitätsbewertungsverfahren umfassen, machten 17 Prozent aller neuen Maßnahmen im Jahr 2017 aus.

Die jährliche Anzahl gemeldeter neuer Maßnahmen gibt nur einen groben Hinweis auf die Entwicklung der Beschränkung von internationalem Handel durch nichttarifäre Maßnahmen seit dem Jahr 2000. Zum einen wird nur die Anzahl der Maßnahmen erfasst. Der Wirkungsgrad einzelner Maßnahmen bleibt unberücksichtigt. Zum anderen unterscheidet sich die Meldepraxis von Land zu Land. Unter der Annahme, dass sich das Meldeverhalten einzelner Länder über die Zeit nicht systematisch geändert hat, lassen die Daten dennoch den Schluss zu, dass nichttarifäre Handelsmaßnahmen mit potentiell handelshemmender Wirkung seit der Jahrtausendwende zugenommen haben.

Global Trade Alert: De facto handelshemmende Maßnahmen

Die Daten der Initiative Global Trade Alert an der Universität St. Gallen basieren nicht auf offiziellen Meldungen der jeweiligen Regierungen an die WTO. Die Wissenschaftler untersuchen stattdessen systematisch offizielle Regierungsverlautbarungen in 55 Ländern auf Maßnahmen, die ausländische Anbieter gegenüber inländischen Anbietern benachteiligen. Sie unterscheiden 44 verschiedene Kategorien protektionistischer Maßnahmen. Die Initiative wurde 2008 ins Leben gerufen. Daten für den Zeitraum davor stehen deshalb nicht bereit.

Die Forscher bewerten jede Meldung potentiell handelshemmender Maßnahmen nach einem festen Schema hinsichtlich ihrer zu erwartenden tatsächlichen Wirkung. Es müssen sechs Voraussetzungen erfüllt sein, damit eine Maßnahme als handelshemmend in den Datensatz aufgenommen wird. Erstens sind nur Maßnahmen zulässig, die ausländische Anbieter relativ zu inländischen Anbietern schlechter stellen. Zweitens müssen die Änderungen den Handel substanziell behindern. So werden finanzielle Hilfen in Form von Subventionen, Krediten oder Bailouts erst ab einem Volumen von 10 Millionen US-Dollar berücksichtigt. Auch kleinere Änderungen, die den bürokratischen Aufwand für ausländische Unternehmen nur leicht erhöhen, werden nicht als substanziell eingestuft. Drittens müssen die Maßnahmen umgesetzt oder von den Gesetzgebern beschlossen sein. Die vierte Voraussetzung ist, dass die Maßnahme aus kommerziellem Interesse heraus eingeführt wurde. Maßnahmen, die de jure etwa der inneren Sicherheit oder der öffentlichen Gesundheit dienen, werden nicht aufgenommen. Schließlich werden Maßnahmen nur einmal aufgenommen und nur, wenn sie nach dem 1. November 2008 verkündet wurden.

Der Vorteil der Daten ist, dass sie ein deutlich breiteres Feld an Maßnahmen abdecken als die Daten der WTO. Zudem sind die Daten nicht von der Meldezuverlässigkeit der Regierungen abhängig.

Insgesamt machen Zollmaßnahmen nur 23 Prozent aller protektionistischen Maßnahmen seit dem Jahr 2009 aus. Gut drei Viertel aller handelsbeschränkenden Maßnahmen sind folglich nichttarifärer Natur.

Neue Welt: Nichttarifäre Maßnahmen gewinnen an Bedeutung

Obwohl die Datensätze der Welthandelsorganisation und der Initiative Global Trade Alert sich in ihrer Natur maßgeblich unterscheiden, illustrieren beide die Zunahme des Einsatzes nichttarifärer Handelsbeschränkungen in den vergangenen Jahren.

Auch ohne diese Zunahme hat sich angesichts sinkender Zölle die Relevanz nichttarifärer Handelsbarrieren für den internationalen Handel erhöht. Der frühere Generaldirektor der WTO und EU-Kommissar für Handel, Pascal Lamy, erachtet nichttarifäre Maßnahmen in der neuen Welt des Handels mit ihren international verwickelten Wertschöpfungsketten ebenfalls als die maßgebenden Handelsbarrieren. In der alten Welt seien dagegen vornehmlich Fertigprodukte gehandelt worden und Zölle gaben den protektionistischen Ton an.

Die Relikte des Protektionismus aus der alten Welt, Zölle, sollten abgeschafft werden. Zum Wohle der Verbraucher kann dies bei zu großem politischen Widerstand in anderen Ländern auch unilateral geschehen. Doch sollen weitere substanzielle Fortschritte für einen freieren Welthandel erreicht werden, muss vor allem der Abbau nichttarifärer Maßnahmen in Angriff genommen werden. Konkrete Maßnahmen zum Abbau nichttarifärer Handelshemmnisse stellen wir in unserem neuen IREF Policy Paper vor.

Erstmals erschienen bei IREF

Photo: Cha già José from flickr (CC BY-SA 2.0)

Von Dr. Alexander Fink, Universität Leipzig, Senior Fellow des IREF – Institute for Research in Economic and Fiscal Issues und Kalle Kappner, Promotionsstudent an der Humboldt-Universität zu Berlin, Research Fellow bei IREF, Fackelträger von Prometheus.

Sprachhürden und niedrige oder auf dem deutschen Arbeitsmarkt nicht gefragte Qualifikationen stellen für die Arbeitsmarktintegration der Flüchtlinge ein grundsätzliches und politisch nur bedingt lösbares Problem dar. Doch darüber hinaus stehen der Politik zahlreiche Optionen zur Verfügung, die das Potenzial haben, die Arbeitsmarktintegration von Flüchtlingen zur Erfolgsgeschichte zu machen.

Arbeitsmarktintegration von Flüchtlingen: Eine Erfolgsgeschichte?

Seit 2015 wurden in Deutschland knapp 1,46 Millionen Asyl-Neuanträge gestellt. Zwar sind die Neuantragszahlen seit 2015 und 2016 deutlich gesunken, doch die Nachwirkungen der Asylmigration stellen die deutsche Gesellschaft vor Herausforderungen. Zu den größten Herausforderungen gehört die Integration der relativ jungen und geringqualifizierten Migranten in den Arbeitsmarkt.

Aktuelle Erhebungen der Bundesagentur für Arbeit zeigen: Über 300.000 Flüchtlinge befanden sich im Juni mittlerweile in einem Beschäftigungsverhältnis – eine vermeintliche Erfolgsmeldung, die basierend auf den Daten für Mai breit rezipiert wurde. Setzt man die Beschäftigtenzahl ins Verhältnis zur Gesamtzahl der in Deutschland lebenden arbeitsfähigen Flüchtlinge, wird allerdings deutlich, dass die Beschäftigungsquote im Juni nur 27,8 Prozent betrug. Damit die Integration der Flüchtlinge zu einer echten Erfolgsgeschichte wird, sollte sich die Politik auf den Abbau von Eintrittsbarrieren zum Arbeitsmarkt konzentrieren.

Absolute Beschäftigtenzahl nicht aussagekräftig

Seit August 2014 weist die Bundesagentur für Arbeit monatlich den Beschäftigungsstand von in Deutschland lebenden Menschen aus den acht maßgeblichen Herkunftsländern von Flüchtlingen Syrien, Afghanistan, Eritrea, Irak, Iran, Nigeria, Pakistan und Somalia aus. Nicht alle Menschen aus diesen Ländern sind Flüchtlinge und nicht alle Flüchtlinge kommen aus diesen Ländern, doch in Ermangelung genauerer Erhebungen bildet diese Gruppe die beste Approximation der gesamten Flüchtlingspopulation in Deutschland. Wie vielerorts berichtet wurde, weisen die Zahlen für den Mai 2018 rund 307.000 beschäftigte Flüchtlinge aus – 100.000 mehr als ein Jahr zuvor.

Isoliert betrachtet sind diese Zahlen jedoch wenig aussagekräftig. Um besser bewerten zu können, ob über 300.000 beschäftigte Flüchtlinge eine Erfolgsmeldung ist, können die Zahlen ins Verhältnis zur Gesamtzahl aller arbeitsfähiger Flüchtlinge in Deutschland gesetzt werden. Die resultierende Kennziffer, die Beschäftigungsquote, erlaubt den Vergleich über die Zeit und mit anderen Bevölkerungsgruppen, etwa Ausländern allgemein und der Gesamtbevölkerung. Um den Erfolg der Arbeitsmarkt- und Integrationspolitik zu bewerten, sind solche relativen Angaben hilfreicher als absolute Zahlen.

Beschäftigungsquote wächst, aber langsam

Wird die Anzahl beschäftigter Flüchtlinge in Relation zu allen in Deutschland lebenden Flüchtlingen im Alter zwischen 15 und 64 gesetzt, fällt das Ergebnis recht ernüchternd aus. Nur 27,8 Prozent der Flüchtlinge waren im Juni 2018 beschäftigt. Dagegen waren im Juni 49,4 Prozent aller in Deutschland lebenden Ausländer und 66,9 Prozent der Gesamtarbeitsbevölkerung im Alter zwischen 15 und 64 beschäftigt.

Die Fluchtmigration nach Deutschland nahm Mitte 2015 deutlich zu und erreichte gegen Ende des Jahres ihren Höhepunkt. Angesichts der hohen monatlichen Zuzugszahlen überrascht es nicht, dass die Beschäftigungsquote zunächst stark zurückging. Im April 2016 erreichte sie mit 14,5 Prozent ihren Tiefpunkt. Seitdem stieg sie kontinuierlich und lag im Mai nahe dem Niveau von Ende 2014 (rund 30 Prozent).

Sozialhilfequote auf hohem Niveau

Spiegelbildlich zur geringen Beschäftigungsquote verhält sich die Arbeitslosenquote, die hier als Anteil der Arbeitslosen an der Summe aus Arbeitslosen und Arbeitenden (also ohne Nicht-Arbeitssuchende) gebildet wird. Für Flüchtlinge lag sie im Juni bei 38,1 Prozent und damit auf vergleichbarem Niveau wie schon 2014. Die Arbeitslosenquote fiel unter den in Deutschland lebenden Ausländern mit 12,6 Prozent und unter der Gesamtbevölkerung mit 5,9 Prozent deutlich geringer aus.

Ein großer Teil der arbeitslosen Flüchtlinge erhält nach Anerkennung des Asylantrags bzw. Duldungsbescheid Sozialhilfeleistungen nach SGB II. Auch Kinder, nicht erwerbsfähige Personen sowie Personen mit geringem Arbeitseinkommen („Aufstocker“) können Anrecht auf solche Leistungen haben. Die SGB-II-Quote misst den Anteil der SGB II-Leistungsempfänger an der Bevölkerung unter 65 Jahren. Im Mai 2018 lag diese unter Flüchtlingen bei 64,7 Prozent. Im gleichen Monat betrug sie für in Deutschland lebende Ausländer 21 Prozent und für die Gesamtbevölkerung etwa 9,2 Prozent.

Zwar spiegelt die seit 2016 deutlich gestiegene SGB-II-Quote unter Flüchtlingen vor allem den allmählichen Übergang von Asylleistungen zu SGB-II-Leistungen wider und signalisiert nicht zwingend Mehrbelastungen für die Steuerzahler. Doch fiel die SGB-II-Quote im Mai dieses Jahres weitaus höher aus als noch Ende 2014 (rund 45 Prozent) und stagniert seit Mitte 2017 – ein weiterer Hinweis darauf, dass sich unter den seit 2015 eingewanderten Flüchtlingen überproportional viele Personen befinden, die auf dem deutschen Arbeitsmarkt bisher nicht Fuß fassen konnten bzw. noch nicht in der Lage sind, ihren Lebensunterhalt eigenständig zu bestreiten.

Erfolgsmeldung?

Rechtfertigt die Annäherung der Beschäftigungs- und Arbeitslosenquote an den Status quo ante eine Erfolgsmeldung? Der Vergleich zwischen den 2018 und den 2014 beobachteten Werten ist schwierig, da sich die zugrundeliegenden Populationen wahrscheinlich hinsichtlich der durchschnittlichen Aufenthaltsdauer in Deutschland unterscheiden – und damit auch hinsichtlich der Arbeitsmarktchancen.

Angesichts der hohen Zuzugszahlen 2015 und 2016 liegt die Vermutung nahe, dass die durchschnittliche Aufenthaltsdauer eines Flüchtlings heute geringer ist als 2014. Eine im Aggregat ähnlich hohe Arbeitsmarktbeteiligung wie vor Anstieg der Flüchtlingszahlen spricht daher für eine relativ erfolgreiche Integration der neueren Zuzugskohorten.

Angesichts der heute deutlich günstigeren Konjunktur und des Abbaus mancher Arbeitsmarkthürden wäre zwei Jahre nach dem Höhepunkt der Asylmigration hingegen eine höhere Beschäftigungsquote zu erwarten gewesen, zumal diese in den letzten zwei Jahren auch unter Ausländern allgemein sowie in der Gesamtarbeitsbevölkerung gestiegen ist. Das spricht für eine relativ misslungene Arbeitsmarktintegration der neu zugezogenen Flüchtlinge. Das legen auch Untersuchungen aus 2017 im Rahmen der IAB-SOEP-Migrationsstichprobe nahe, die zeigen, dass sich die seit 2013 eingewanderten Flüchtlinge langsamer in den Arbeitsmarkt integrieren als vor 2013 eingewanderte Flüchtlinge oder sonstige Zuwanderer.

Arbeitsmarktreformen dringend nötig

Der Vergleich von Beschäftigungsquoten über die Zeit ist aussagekräftiger als der Vergleich absoluter Beschäftigtenzahlen, doch er erlaubt ebenso wenig ein abschließendes Urteil über die Arbeitsmarktintegration der neu hinzugezogenen Flüchtlinge. Unabhängig von der Frage des Arbeitsmarkterfolgs jüngerer Zuzugskohorten relativ zu den vor 2014 zugezogenen Flüchtlingen sollte eine Beschäftigungsquote von 27,8 Prozent jedoch keinen Anlass zur Entwarnung geben. Vielmehr verdeutlicht die niedrige Quote, dass Arbeitsmarktintegration der aktuellen Flüchtlingskohorten weiterhin viel zu wünschen übrig lässt. Sollte der derzeitige Arbeitsmarktboom abebben, droht vielen Flüchtlingen dauerhafte Arbeits- und Perspektivenlosigkeit.

Sprachhürden und niedrige oder auf dem deutschen Arbeitsmarkt nicht gefragte Qualifikationen stellen für die Arbeitsmarktintegration der Flüchtlinge ein grundsätzliches und politisch nur bedingt lösbares Problem dar. Doch darüber hinaus stehen der Politik zahlreiche Optionen zur Verfügung, die das Potenzial haben, die Arbeitsmarktintegration von Flüchtlingen zur Erfolgsgeschichte zu machen. Dafür muss es jedoch möglich sein, dem häufig niedrigen Qualifikationsniveau der Flüchtlinge entsprechend Jobs mit niedriger monetärer oder nicht-monetärer Entlohnung entstehen zu lassen. So bieten sich etwa die selektive Aussetzung von Mindestlohn und Kündigungsschutz für Flüchtlinge sowie die Kürzung des ALG-II-Satzes bei großzügigeren Hinzuverdienstregeln an.

Erstmals erschienen bei IREF

Photo: Franz Venhaus from Flickr (CC BY-ND 2.0)

Von Dr. Alexander Fink, Universität Leipzig, Senior Fellow des IREF – Institute for Research in Economic and Fiscal Issues, und Justus Lenz, Leiter Haushaltspolitik bei Die Familienunternehmer/Die Jungen Unternehmer.

Der Staat sollte ausschließlich die Umsetzung solcher Regeln in Betracht ziehen, die sich per se positiv auswirken, indem sie unerwünschtes Verhalten unterdrücken, wünschenswertes Verhalten befördern und zusätzliche Kooperationsmöglichkeiten schaffen.

Bürokratie: Notwendig, aber ein Übel

Die Bürokratie hat keinen guten Ruf – lange Warteschlangen beim Bürgeramt, komplizierte Formulare sowie langwierige Genehmigungsverfahren sind (un-)beliebte Themen für den Smalltalk. Auch fehlt in keiner politischen Sommerrede der Hinweis auf die Notwendigkeit, bürokratische Belastungen zu reduzieren. Unternehmer reihen sich ein und identifizieren „Bürokratie“ regelmäßig als großes Problem. Ohne Bürokratie geht es jedoch nicht. Das Zusammenleben in unserer komplexen Gesellschaft basiert auf Regeln – staatlichen und nicht-staatlichen – und wenn sie formeller Natur sind, müssen sie bürokratisch um- und durchgesetzt werden. Allerdings sind weder alle bestehenden Regeln noch alle Maßnahmen zur Um- und Durchsetzung derselben wünschenswert. Die in den Verantwortungsbereich des Staates fallenden Regeln gehören deshalb samt ihres bürokratischen Beiwerks immer wieder auf den Prüfstand.

Zu hoher und zunehmender bürokratischer Aufwand

Auf die Frage, mit welchen Projekten die Große Koalition am besten die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen steigern könnte, antworteten jüngst 57 Prozent der vom Verband DIE FAMILIENUNTERNEHMER befragten Unternehmer mit dem Vorschlag, Bürokratie abzubauen. Damit landete das Thema an der Spitze.

Das etwas dran ist an der Wahrnehmung der Unternehmer, zeigen die Ergebnisse des seit 2011 erhobenen Erfüllungsaufwandsmonitors des Normenkontrollrats. Der jährliche bürokratische Aufwand im Zusammenhang mit Gesetzesänderungen des Bundes nahm seit 2011 um über 8 Milliarden Euro zu.

Der bürokratische Aufwand trifft Bürger nicht nur indirekt durch höhere Verwaltungskosten beim Staat und bei privaten Organisationen, sondern teilweise auch direkt: Bei der Beantragung des Personalausweises über die Kfz-Anmeldung bis hin zum Steuerrecht.

Ohne Bürokratie geht es nicht

Für das Zusammenleben von Menschen bedarf es Regeln. Sie geben uns Planungssicherheit bezüglich des Handels anderer und fördern im besten Fall kooperatives Verhalten. Das gilt für kleinere Gruppen und erst Recht für große komplexe Gesellschaften. Staatliche Regeln strukturieren Lebensbereiche wie Wohnen, Leben und Arbeiten, aber formulieren auch Abwehrrechte gegenüber dem Staat selbst – das Wort Rechtsfrieden kommt nicht von ungefähr. Eine Welt ohne Regeln wäre schrecklich. Ordnungspolitisch: Kein gutes Spiel ohne Spielregeln.

Regeln und ihre bürokratische Umsetzung: Nutzen und Kosten

Auf Märkten können Regeln die Erwartungssicherheit für Unternehmen und das Vertrauen von Kunden erhöhen. So profitieren in Deutschland alle Marktteilnehmer von Regeln, die Eigentumsrechte ordnen und die Übertragung von Eigentumsrechten durch Kauf- und Verkauf strukturieren.

Der Staat sollte ausschließlich die Umsetzung solcher Regeln in Betracht ziehen, die sich per se positiv auswirken, indem sie unerwünschtes Verhalten unterdrücken, wünschenswertes Verhalten befördern und zusätzliche Kooperationsmöglichkeiten schaffen.

Um zu beurteilen, ob eine Regel erstrebenswert ist, müssen jedoch auch ihre Umsetzungs- und Durchsetzungskosten berücksichtigt werden – die notwendige Bürokratie beim Staat, privaten Organisationen und den Bürgern direkt. Übersteigen diese bei staatlichen Einheiten und privaten Akteuren anfallenden Transaktionskosten den Nutzen der Regel, sollte sie nicht angestrebt werden.

Ideale Regulierung?

Nutzen und Kosten von Regeln und ihrer Anwendung abzuschätzen, ist ein heikles Unterfangen. Wie resultierende Nutzen und Kosten gewichtet werden, entscheidet mit darüber, ob eine zur Diskussion stehende Regel für erstrebenswert erachtet wird. Verschiedene Gutachter werden regelmäßig zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen kommen. Und dennoch lässt sich basierend auf der analytischen Trennung zwischen Regeln auf der einen Seite und ihrer Durchsetzung sowie Umsetzung auf der anderen Seite festhalten, dass Regeln gesetzt werden sollten, die nicht nur per se wünschenswert, sondern auch einfach um- und durchsetzbar sind.

Einige Beispiele: Bei Umweltregulierungen ist es besser, Ziele vorzugeben, als detaillierte Vorgaben zu machen, wie Ziele erreicht werden sollen. Im Bereich des Steuer- und Sozialrechts, sind häufig großzügige Pauschalen dem Versuch vorzuziehen, Einzelfallgerechtigkeit bis auf Centbeträge herzustellen.

Es versteht sich von selbst, dass es Aufgabe des Staates ist, die günstigste mögliche Alternative der Um- und Durchsetzung seiner Regeln zu gewährleisten, beziehungsweise zu ermöglichen. Leider verfehlt der deutsche Staat dieses Ideal regelmäßig. So kam der Normenkontrollrat in einem Gutachten 2015 zum Schluss, dass sich 30 Prozent der staatlichen Verwaltungskosten durch eine konsequente Umsetzung von E-Government-Lösungen einsparen ließen. Seitdem hat sich nicht viel getan. Die Einsparungen durch eine konsequentere Umsetzung von E-Government wären gewiss auch auf Seiten privater Akteure erheblich.

Tendenz zu übermäßiger Regulierung

In Demokratien werden nicht nur staatliche Regeln eingeführt, die auch ein unparteiischer Beobachter für eine große Mehrheit der Gesellschaft für wünschenswert erachtet. Politiker können sich durch die Einführung neuer Regeln profilieren und Interessengruppen mit eng abgegrenzten Partikularinteressen können Regeln zu ihrem Vorteil beeinflussen. In beiden Fällen kann der parlamentarische Prozess neue Regelungen mit negativem gesellschaftlichen Nettonutzen zutage fördern.

Zudem haben Mitarbeiter staatlicher Organisationen, die mit der Um- und Durchsetzung von Regeln betraut sind, ein Interesse an ihrer fortwährenden (ressourcenintensiven) Umsetzung, um ihre Existenz rechtfertigen zu können – auch wenn die Regeln aus gesellschaftlicher Perspektive nicht (mehr) angewandt werden sollten. Das trifft auf Bundes- und Landesverwaltungen ebenso wie auf Verwaltungen auf EU-Ebene zu.

Eine über die Zeit zunehmende Regelungsdichte und ein mit ihr steigender Erfüllungsaufwand überraschen also nicht. Sie sind aus politökonomischen Gründen zu erwarten. Vieles spricht dafür, dass die Vertragsfreiheit durch staatliche Regeln heute zu sehr eingeschränkt und der verursachte bürokratische Aufwand zu hoch ist.

Institutionelle Sklerose vermeiden

Umso mehr sollten nicht direkt am politischen Prozess Beteiligte darauf pochen, Regeln per se Prüfungen zu unterziehen und Kosteneinsparpotentiale bei ihrer Umsetzung beispielsweise durch den Einsatz von E-Government-Lösungen konsequent zu nutzen, um eine institutionelle Sklerose zu vermeiden.

Dass Aufmerksamkeit und öffentlicher Druck dazu beitragen können, das politökonomische Kalkül zu verändern, zeigt sich am Beispiel der EU-Kommission: Als Reaktion auf die Kritik, die EU würde zu viele und zu detailverliebte Regeln setzen, wurde in der aktuellen Kommission der erste Vizepräsident und Stellvertreter vom Kommissionspräsidenten, Frans Timmermanns, mit der Aufgabe betreut, die Regeldichte einzudämmen – ein kleiner Schritt, aber immerhin in die richtige Richtung.

Erstmals erschienen bei IREF

Bild: Vwpolonia75 from Wikimedia Commons (CC BY-SA 3.0)

Von  Prof. Dr. Stefan Kooths, Leiter des Prognosezentrums im Institut für Weltwirtschaft an der Universität Kiel und Professor für Volkswirtschaftslehre an der University of Applied Sciences Europe (UE) in Berlin.

Es gehört zu den vornehmsten Aufgaben in der liberalen Demokratie, die freie Meinungsäußerung gerade auch derjenigen zu wahren, deren Weltbild und/oder Auftreten einem fremd oder gar zuwider sind. Die darin zum Ausdruck kommende Haltung folgt keinem moralischen Appell, sondern wendet sich an das Eigeninteresse vernunftbegabter Menschen. Die Ratio hierzu wurzelt tief in der liberalen Sozialphilosophie, die den Erfolg sozialer Koordination darauf zurückführt, inwieweit eine Gesellschaftsordnung das unter den Mitgliedern verteilte Wissen zugänglich macht.

Jeder Einzelne verfügt nur über einen verschwindend geringen Bruchteil des menschlichen Wissens und ist darin zudem auch noch fehlbar. Man kann sich daher eines überlegenen Wissens nie sicher sein – im Gegenteil: die Wahrscheinlichkeit, für ein bestimmtes Wissensfeld irgendwo auf der Welt seinen Meister zu finden, ist sehr hoch. Darüber hinaus ist das Wissen der Menschheit immer nur vorläufig. Jeden Tag könnte jemand etwas entdecken, das bisherige Gewissheiten obsolet macht. Oder, um es mit dem britischen Philosophen und Ökonomen John Stuart Mill (Über die Freiheit, 1859) zu sagen: „Jede Unterbindung einer Erörterung ist eine Anmaßung von Unfehlbarkeit.“

Es ist daher ein Gebot der Klugheit, andere Ansichten an sich heranzulassen. Selbst wenn man dabei viel Unsinn ertragen muss – es könnte einem der eine zündende Gedanke entgehen, auf den man von allein nie gekommen wäre. Und der Austausch mit kritischen Gegenmeinungen hilft auch, die eigene Position klarer zu fassen und dabei selbst neues Wissen zu entdecken. So sind die beiden österreichischen Ökonomen Ludwig von Mises und Friedrich August von Hayek zu wissenschaftlicher Höchstform aufgelaufen, als sie sich mit ihren marxistischen Widersachern in der Kontroverse um die Unmöglichkeit der sozialistischen Wirtschaftsrechnung einen mehrjährigen Schlagabtausch geliefert hatten. Herausgekommen ist dabei ein Verständnis von Marktprozessen, das bis heute richtungweisend für die moderne Wirtschaftswissenschaft ist.

Im freiheitlichen Diskurs kommt es auf das einzelne Argument an, nicht darauf, ob einem die Beteiligten sympathisch sind oder ob sie in anderen Themenfeldern falsch liegen. So bleibt die „Pearson-Korrelation“ ein nützliches Instrument der Statistik, auch wenn ihr Erfinder, der britische Mathematiker Karl Pearson, mit seiner abenteuerlichen „Rassenlehre“ zu Recht schärfster Kritik ausgesetzt ist. Die Grundidee der Wissenschaftsfreiheit, wonach im wissenschaftlichen Diskurs nur durch Forschungsfreiheit Fortschritte zu erzielen sind, gilt entsprechend für den politischen Diskurs in der liberalen Demokratie.

Die Sozialistin Rosa Luxemburg steht für den Gegenentwurf zu dieser Ordnung. Ihre Forderung „Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden“ klingt nur scheinbar wie eine liberale Parole. Tatsächlich ging es ihr ausschließlich um die Diskursfreiheit innerhalb des kommunistischen Lagers, um den bolschewistischen Dogmatismus Leninscher Prägung einzudämmen. Gleichzeitig hat sie den zu Klassenfeinden erklärten politischen Gegnern die Legitimation zur Teilnahme am gesellschaftlichen Diskurs abgesprochen und ihnen gegenüber auch vor Gewaltaufrufen nicht zurückgeschreckt.

Aus Sicht der marxistischen Sozialphilosophie war das nur folgerichtig: Eine bürgerliche Klasse, die den scheinbar wissenschaftlichen Entwicklungsgesetzen der Menschheit im Wege stand, durfte diese Entwicklung nicht durch rückwärtsgewandte Einwände aufhalten. Wie es mit der Weltrevolution am besten weitergehen sollte, konnte daher nur in einer kommunistischen Echokammer erörtert werden. Mit Rosa Luxemburg als Galionsfigur mag man für vieles eintreten – der freie demokratische Diskurs gehört nicht dazu.

Der liberalen Sozialphilosophie sind die Vorstellungen von historischen Entwicklungsgesetzen fremd, stattdessen betont sie die aus der freiheitlichen Interaktion der individuellen Akteure resultierende Ergebnisoffenheit der Geschichte. Zu dieser Freiheit gehört maßgeblich der freie Diskurs und die Neugier auf frische Ideen. Eine Gesellschaftsordnung, in der die Menschen durch Interaktion ihr Wissenspotenzial ausschöpfen und erweitern können, muss daher in Bezug auf mögliche Meinungen maximal tolerant sein.

Allein die Meinung, andere an ihrer Meinungsäußerung hindern zu dürfen, können Liberale nicht dulden – Toleranz muss in der Intoleranz ihre Grenze finden. Zugleich dürfte klar sein, dass Meinungsfreiheit nicht zu verwechseln ist mit der Erlaubnis ehrabschneidender oder gar die Würde des Einzelnen herabsetzender Diffamierungen. Es geht um die Freiheit im politischen Diskurs – idealerweise über abstrakte Regeln –, nicht um einen Freibrief für üble Nachrede.

An der für eine demokratische Diskursreife erforderlichen Toleranz hapert es hierzulande. Toleranz gegenüber Minderheiten, denen man ohnehin gewogen ist, kostet nichts und instrumentalisiert diese letztlich nur für das Schärfen des eigenen Profils. Echte Toleranz respektiert auch den politischen Gegner. Im politischen Diskurs ist nichts gewonnen, wenn man sich nur gegenseitig bescheinigt, über die Meinung des anderen empört zu sein. Hieraus lässt sich nichts lernen.

Die wechselseitigen Empörungsrituale führen in der Eskalation zu Ausgrenzungen, die dem Luxemburgschen Schema ähneln. Wenn Attribute wie „demokratisch“, „europäisch“ oder „gerecht“ von einer bestimmten Position im politischen Spektrum alleinvertretend beansprucht werden, bleibt für den politischen Gegner nur das „undemokratische“, „antieuropäische“ und „ungerechte“ Lager: Wer wollte mit solchen Leuten etwas zu tun haben? Besonders auffällig zeigt sich diese Schieflage in der EU-Debatte, bei der die Befürworter von mehr Zentralismus dazu neigen, ihre Position als „europäisch“ zu deklarieren. Dies ist nicht nur aus historischer Perspektive gewagt, sondern setzt zugleich diejenigen im Diskurs herab, die dieselben abstrakten Ziele (Freiheit, Wohlstand und Frieden in Europa) eher zu erreichen glauben, wenn Subsidiarität und Wettbewerb die Entwicklung in der EU bestimmen. Letztlich wird so der Streit über die besten Wege behindert, indem der anderen Seite die Lauterkeit mit Blick auf die Ziele abgesprochen wird. Dieses Ausgrenzungsprinzip zeigt sich im Großen wie im Kleinen. So ist auch die „Fair Trade“-Bewegung in diesem Sinne anmaßend. Und wer sich einer genderpolitischen Vereinnahmung der Sprache verweigert, ist deshalb noch längst nicht gegen die Gleichberechtigung von Mann und Frau.

Die moralisch imprägnierte Diskursverengung provoziert überzogene Reaktionen, die sich als Anti-Establishment-Bewegung aufführen, eine angebliche „Lügenpresse“ anprangern und einem diffusen Gefühl des Unterdrücktseins Ausdruck verleihen, wodurch auch der Nährboden für abenteuerliche Verschwörungstheorien entsteht. Im Ergebnis hört man auf, voneinander zu lernen, und der politische Diskurs wird dysfunktional.

Bei den Streitfragen über die Grenzen des demokratisch zulässigen Meinungsspektrums prallen zwei Gesellschaftskonzepte aufeinander, die der österreichisch-britische Philosoph Karl Popper als „kritischen“ und „konstruktivistischen“ Rationalismus unterschieden hat. Sie unterscheidet vor allem die Ansicht darüber, inwieweit sich komplexe Gesellschaften durch das bewusste Setzen von Institutionen gestalten lassen oder ob sich tragfähige Regeln des Zusammenlebens stärker evolutionär entwickeln müssen. Konstruktivisten neigen dazu, die politische Machbarkeit hoch einzuschätzen, kritische Rationalisten bezweifeln das und sehen sich so immer wieder dem Vorwurf ausgesetzt, die abstrakten Ziele (Freiheit, Wohlstand, Frieden, Teilhabe etc.) zu hintertreiben, wenn sie am Interventionismus Kritik üben. Obwohl sich die Kontroverse an der Wahl der Mittel entzündet, führt der konstruktivistische Fehlschluss (wer die Mittel nicht billigt, will die Ziele verhindern) zu einer verengten Diskursbasis im demokratischen Prozess. Letztlich ist es daher der übersteigerte Glaube an die Möglichkeiten der sozialplanerischen Vernunft, der es den Konstruktivisten erschwert, das liberale Toleranzgebot weit auszulegen.

Die Tendenz, weniger über konkrete Vorschläge zu diskutieren als über mutmaßlich üble Motive des Gegenübers zu spekulieren, hat auch schon den politikbegleitenden Wissenschaftsbetrieb infiziert. Es scheint, als würden Wissenschaftler zunehmend vorsichtiger darauf achten, mit wem sie sprechen, seien es Parteien oder Medien, um nicht in den Dunstkreis der falschen Leute zu geraten. Dadurch verengt sich die Möglichkeit, im politischen Diskurs neue Einsichten zu Tage zu fördern, weiter. Dessen sollten sich Wissenschaftler im besonderen Maße bewusst sein und entschlossen gegensteuern. Hierzu gehört mittlerweile eine gewisse Zivilcourage, indem man es aushält, mit Leuten zu sprechen und von ihnen zitiert zu werden, deren politische Auffassungen man nicht teilt. Wird aber erst die politische Meinungsfreiheit scheibchenweise eingeengt, dann ist es auch bald mit der Wissenschaftsfreiheit nicht mehr weit her.

Geringfügig erweiterte Fassung eines Essays, der am 14. Dezember 2018 unter dem Titel „Maximale Toleranz für Andersdenkende!“ in der Wirtschaftswoche erschienen ist.