Nicht jedes Buch im Eigenverlag schafft es auf Platz 2 der Bestsellerliste von Amazon. „Shitbürgertum“ von Ulf Poschardt ist dort gelandet. Wahrscheinlich liegt es an der gnadenlosen Analyse und dem Sprachwitz des Autors, der dem modernen Bürgertum den Spiegel vorhält. Er prangert darin die Selbstgefälligkeit, Scheinheiligkeit und oberflächliche Moralvorstellungen an, während er den Einfluss sozialer Medien und politischer Korrektheit aufzeigt. Ulf Poschardt muss nicht jedem gefallen, aber er sticht aus dem Einheitsbrei des Journalismus in Deutschland erfreulich erfrischend hervor.
Mit der Rückkehr Trumps, dem Kotau-Reigen der Social-Media-Mogule in Mar-a-Lago und natürlich auch dem hiesigen Wahlkampf wird wieder intensivst über Phänomene wie Fake News gesprochen und die Rolle sozialer Medien ausführlich kommentiert. Eine angenehme Erdung zu all diesen Themen ermöglicht der uns schon sehr lange freundschaftlich verbundene Kommunikationswissenschaftler Prof. Dr. Christian Hoffmann von der Universität Leipzig in einem Podcast der Uni.
„Es ist fraglich, ob der der Mitte zugeneigte Charakter der Deutschen sich hätte so entscheidend radikalisieren lassen, wenn nicht ein anderes Bild vor Augen getreten wäre, dessen Lockung er in zunehmendem Maße unterlag: Die Faszination durch die Regierungsführung der Diktatur. … Die Abdankung der Selbstentscheidung, die Ausschaltung der freien Selbstbestimmung zugunsten des Führerideals ist die Reflexwirkung jener Überspannung des Politischen, die seit bald zwei Jahrzehnten die gegenwärtige Generation in Atem hält.“
Klingt alles recht bekannt, oder? Diese Beobachtungen stammen aus dem Anfang der 1930er Jahre entstandenen Buch „Apologie des liberalen Staatsdenkens“ des Juristen und Politiktheoretikers Karl Loewenstein (1891-1973), das im letzten Jahr erschienen ist, nachdem der Münsteraner Nachwuchswissenschaftler Michael Kubitschek es aus Archivtiefen in Massachusetts gezogen und anschließend editiert hat. Der erfolgreiche Rechtsanwalt Loewenstein, der seit 1931 als Privatdozent an der Universität in München lehrte, wurde als Jude im Herbst 1933 aus dem Unibetrieb ausgeschlossen und verließ Deutschland im Winter des gleichen Jahres in Richtung USA. Dort wirkte er wissenschaftlich und aktivistisch und entwarf unter anderem das Konzept der „militant democracy“, der streitbaren oder wehrhaften Demokratie. Wie in einem Brennglas finden sich auch heute höchst aktuelle Fragen in seiner Streitschrift wieder, die schmal genug ist, um sie an einem Nachmittag sorgfältig durchzulesen, und dicht genug, um noch lange Zeit darüber nachzudenken.
Apropos Gesellschaft. Hier empfehle ich mit dem 1931 erschienenen Buch „Die geistige Situation der Zeit“ das wohl populärste Werk des deutschen Philosophen Karl Theodor Jaspers. In seiner Niederschrift beleuchtet Jaspers die moderne Gesellschaft und den Massenmenschen im Lichte einer Rationalisierung und Universalisierung der Daseinsordnung. Was in Jahrtausenden die Welt der Menschen war, scheint heute zusammenzubrechen. Längst hat sich der Mensch dem blinden Fortschrittsgedanken verschrieben. In einer Zeit, in der Funktionalität, wirtschaftlicher Erfolg und Bedarfsbefriedigung im Vordergrund stehen, scheint der Mensch allein darin aufzugehen, was nur Mittel, nicht Zweck, geschweige denn Sinn sein sollte. Ein Leben im Apparat der Nützlichkeit, das zwar materiell abgesichert, jedoch auf die Trivialität des Genießens reduziert ist. Eigenes Denken und Handeln wird für große Teile der Gesellschaft zur blanken Zumutung.
Es ist die große Leistung Jaspers, vor dem Hintergrund der anonymen Massengesellschaft eine Philosophie zu lancieren, die beim Individuum ansetzt und zum Wir übergeht. Obschon Anfang der 1930er-Jahre und damit inmitten des beginnenden Aufstiegs des Nationalsozialismus in Deutschland entstanden, reicht Jaspers scharfsinnige Zeitdiagnose bis in die Gegenwart und sagt Einiges über die herrschenden Zustände im 21. Jahrhundert aus.
Notabene: Eine vergleichbare und gleichfalls empfehlenswerte zeitgenössische Kritik an der modernen Massengesellschaft äußert auch José Ortega y Gasset in seinem Werk „Der Aufstand der Massen“ – wie auch Jaspers Buch zu finden in der Bibliothek des Liberalismus.
Photo: Filmalcinema
Die vor uns liegenden Feiertage bieten womöglich etwas mehr Zeit, um sich einmal mit etwas mehr Muße einem Film zu widmen. In diesem Sinne empfehle ich gerne einen meiner absoluten Lieblingsfilme von einem meiner absoluten Lieblingsregisseure. Lucchino Visconti (1906-1976) war bekannt für seine mehrere Stunden dauernden epischen Filme: Literaturverfilmungen wie „Der Tod in Venedig“ und „Der Leopard“, ein Drama über eine sich im Nationalsozialismus verstrickende Industriellenfamilie – „Die Verdammten“ – und ein vierstündiges Biopic von König Ludwig II von Bayern. Allesamt höchst sehenswert.
Aber mein ganz besonderer Favorit ist „Rocco und seine Brüder“. Mit einer eindrucksvollen Mischung aus professioneller Distanz und verständnisvoller Einfühlsamkeit begleitet der Regisseur
die Erlebnisse von fünf Brüdern, die in den 50er Jahren mit ihrer Mutter aus dem tiefen Süden Italiens nach Mailand ziehen auf der Suche nach Arbeit und einem besseren Leben. Die Dynamik zwischen den Brüdern wird mitreißend dargestellt: Die nuancierten Charakterzeichnungen. Die Rollenverteilung, die sich im Lauf der Geschichte immer wieder verschiebt. Die Mischung aus Rivalitäten, Abhängigkeiten, Bewunderung, Fürsorge, Abnabelung und brüderlicher Liebe. Und die berührende Seelentiefe, die bei jungen Menschen meist noch viel näher an der sichtbaren Oberfläche liegt als bei Erwachsenen, wo sie oft tief vergraben ist.