Ines Geipel war eine Leichtathletin in der DDR und wurde zum Opfer des dortigen Dopingsystems. Sie wandte sich gegen die Erwartung, aus ihr einen systemtreuen Teil des Sportkaders zu machen, und wurde schon in jungen Jahren zu einer Oppositionellen. Nach ihrer Flucht in die Bundesrepublik 1989 begann sie dort, ihren geisteswissenschaftlichen und literarischen Interessen zu folgen. Seit Beginn der 2000er ist sie auch als Schriftstellerin tätig.
Vor drei Wochen erschien von ihr ein Essay in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, in dem sie zu ergründen versucht, was den Erfolg der Rechtspopulisten von AfD und BSW in den ostdeutschen Bundesländern ausmacht. Ein bisschen musste ich schlucken, dass sie ihre sehr kritische Beobachtung besonders auch an dem Begriff der Heimat festmachte, schließlich haben wir für uns auch vor einigen Jahren der Begriff „Heimat der Freiheit“ gefunden. Aber Geipel stellt sehr klug heraus, wie diese in sich ja sehr wertvolle Vorstellung von Heimat eben auch genutzt werden kann, um zu manipulieren. Am Ende des Tages haben Höcke und Wagenknecht so wenig mit dem zu schaffen, was Heimat ausdrücken soll, wie die schäumenden Hasskommentatoren aus dem republikanischen Spektrum mit Familienwerten. Aber ihre Erzählung funktioniert leider und damit die Transformation von Begriffen und Ideen, die eigentlich Geborgenheit, Inklusion, Zuwendung, Bestätigung ausdrücken sollen in eine Terminologie, die Angst schürt und das Bedürfnis nach Stagnation und Abschottung triggert.
Ludwig Erhard ist ein leuchtendes Beispiel für den großen Einfluss, den ein Mensch ausüben kann, der zur richtigen Zeit am richtigen Ort ist. Erst in diesem Sommer wurden seine 1976 von einem Ghostwriter verfassten Erinnerungen veröffentlicht. Prädikat: lesenswert! Insbesondere die Auseinandersetzung mit Konrad Adenauer, dessen politischen Methode Erhard eher zwischen „Pragmatismus und Machiavellismus“ verortet, sowie seine Kritik an opportunem politischem Verhalten sind spannend. Das Buch mit dem Titel „Erfahrungen für die Zukunft: Meine Kanzlerzeit“ erschien im Econ Verlag und hat einen Umfang von 336 Seiten.
Seit einigen Wochen produzieren der junge Philosoph Sven Gerst und der freie Journalist Phillipp Mattheis einen Podcast über Liberalismus und Geopolitik. Der Podcast erscheint etwa alle zwei Wochen und „nordet globale Entwicklungen unter dem Aspekt der Freiheit ein“. Bisher haben die beiden vier Folgen produziert, die sich mit den EU-Wahlen, Strafzöllen, Bitcoin und der Rolle der USA im Nahen Osten beschäftigen. Beide Hosts sind weit gereist, leben zum Teil sogar im Ausland und arbeiten seit Jahren akademisch sowie publizistisch zu genau diesen Fragen.
Ich kann jedem empfehlen, in „Weltanschauung“ reinzuhören für eine liberale Einordnung geopolitischer Ereignisse.
Der Sommer bietet ja manchmal Gelegenheit zu längerer Lektüre, ob auf der Terrasse eines österreichischen Berggasthofs, im Strandkorb am französischen Atlantikstrand, in einem Café in London oder auf der Mauer einer gemütlichen Hafenbucht einer griechischen Insel. Die Wahrscheinlichkeit, dass der Protagonist des Buches, das ich Ihnen und Euch heute ans Herz legen möchte, schon dort war, ist gar nicht so gering, denn Hadrian war Kaiser eines Reiches, das alle wichtigsten Urlaubsregionen deutscher Sommerfrischler umfasste.
Über 20 Jahre hinweg forschte und schrieb die belgische Schriftstellerin Marguerite Yourcenar (1903-1987) an einer fiktiven Autobiographie des römischen Kaisers, der zu dessen Glanzzeit zwei Jahrzehnte lang die Geschicke des Reiches lenkte. Altertumshistoriker preisen die Autorin für ihre historische Präzision. Doch der besondere Reiz des Buches besteht aus meiner Sicht in der überwältigenden Empathiefähigkeit Yourcenars: man hat bei der Lektüre den Eindruck einen ganz und gar authentischen Einblick in die Seele des Kaisers zu bekommen. Faszinierend ist es, mit Hilfe der Autorin die vielen Gedankengänge des Herrschers live und in Farbe mitvollziehen zu können. Psychologisch und politiktheorethisch ist das Buch ein absolutes Meisterwerk. Es sollte eigentlich in den Kanon politökonomischer Fachliteratur gehören … Zugleich ermöglichen einem die Schilderungen der Gegenden, Sitten und Gebräuche des Vielvölkerreichs Fernwehträume.
Das Buch ist auf Französisch geschrieben und liegt in deutscher Übersetzung unter dem Titel „Ich zähmte die Wölfin vor“. Wer Französisch scheut, es aber gerne möglichst nah am Original haben möchte, dem sei die englische Übersetzung empfohlen: Sie wurde von Grace Frick übersetzt, die von 1937 bis zu ihrem Tod die Lebensgefährtin von Yourcenar war. In Zeiten immer dicker werdender Romane ist auch erwähnenswert, dass es Yourcenar gelingt, ihre Meisterschaft auf etwa 250 Seiten zu entfalten. Das Buch gehört zu den zehn besten Romanen, die ich je gelesen habe. Ich würde sagen, die Investition lohnt sich.
Das Thema Migration entscheidet Wahlen. Denn den Feinden der offenen Gesellschaft ist es in den letzten Jahrzehnten gelungen, das Diskursfenster erheblich zu ihren Gunsten zu verschieben. Und sei es im Übereifer, das Feld nicht Linken und Rechten zu überlassen, oder einfach aus trauriger Prinzipenlosigkeit stimmen leider auch immer wieder sich als liberal bezeichnende Personen in den Chor der Migrations-Untergangspropheten ein.
Die ultimative Antwort darauf ist die klare und empathiefähige Logik des großen Intellektuellen Chandran Kukathas in seinem Buch „Immigration and Freedom“. Gerade lese ich es erneut für meine Dissertation zum Thema Menschenschmuggel und ich bin überwältigt von der Kraft und Eleganz dieses Buches. Kukathas ist selbst in Malaysia geboren und war einen Großteil seines Lebens Immigrant. Bis vor kurzem war er Fakultätsdekan an der London School of Economics. Ihm gelingt, was ich mir von freiheitlicher Politik wünsche: Die Entwicklung und Propagierung eines positiven, zukunftsgewandten und menschlichen Narrativs für eine Welt mit offenen Grenzen.
Immigration Freedom Chandran Kukathas
Debatte zu dem Buch mit Kukathas (Video)