Photo: Mathias Apitz (München) from Flickr (CC BY-ND 2.0)
Von Eva-Maria Hanke, Research Fellow bei Prometheus Juni bis Juli 2022. Sie hat evangelische Theologie und Geschichte in Heidelberg studiert. Nach Studienaufenthalten in Asien, promoviert sie in der evangelischen Theologie im Bereich Religionswissenschaft. Ihr Schwerpunkt liegt auf der Erforschung des zeitgenössischen protestantischen Christentums in der Volksrepublik China.
Die Volksrepublik China ist seit ihren Anfängen laut Verfassung ein laizistischer Staat. Die bis heute gültige Verfassungsversion von 1982 garantiert Bürgern Religionsfreiheit. Doch lohnt sich ein zweiter Blick. Denn die Garantie der Religionsfreiheit bezieht sich lediglich auf die fünf offiziell anerkannten Religionen: Daoismus, Buddhismus, Islam, Protestantismus und Katholizismus.
Was ist aber mit den in den Medien oft erwähnten christlichen Untergrund- und Hauskirchen, die ja auch den Katholiken und Protestanten zuzuordnen sind? Auf diese bezieht sich die „Religionsfreiheit“ genauso wenig wie auf die Uiguren-Muslime in Xinjiang. Der Grund: Sie gehören nicht zur offiziell anerkannten Organisation ihrer jeweiligen Religion.
Die Präsidentschaft Xi Jinpings steht für eine zunehmend autoritäre Haltung gegenüber Religionen. Bis heute hat China kein nationales Religionsgesetz, sondern bloß eine Sammlung zahlreicher Verwaltungsrechtsnormen. Diese hat die Regierung Xi meist nicht neu erlassen. Stattdessen werden bereits existierende Fassungen revidiert, wie die am 1. Februar 2018 in Kraft getretenen „Vorschriften für religiöse Angelegenheiten“. Die Vorschriften erweitern die erste umfassende Verwaltungsrechtsnorm von 2004, die den Umgang des Staates mit den Religionen regelt. Sie ermöglichen drastische Eingriffe in die Religionsfreiheit wie zum Beispiel stärkere Kontrollen von Versammlungen und hohe Geldstrafen für religiöse Aktivitäten außerhalb der offiziellen Institutionen.
Das Hauptziel der Regierung unter Xi ist eine engmaschigere Überwachung und eine stärkere Anpassung der Religionen an die Staatsideologie des Sozialismus chinesischer Prägung. Das hat nicht nur eine starke Einschränkung von bisherigen Handlungsspielräumen zur Folge, sondern führt auch vermehrt zum Ausmerzen von Grauzonen in den meisten Rechtsnormen. So wird zum Beispiel durch die „Maßnahmen für die Verwaltung religiöser Amtsträger“ die lückenlose Kontrolle religiösen Personals möglich u.a. durch digitale Datensammlungen und Kontrollen der Auslandskontakte. Offizielles Ziel dieser Einschränkung der Religionsfreiheit ist eine Minimierung von sogenannter ausländischer Einflussnahme.
Die stärkeren Einschränkungen machen auch die internationale Zusammenarbeit schwierig. Ausländische Organisationen stehen unter Generalverdacht Einfluss zu nehmen und die jeweiligen lokalen Kräfte bringen sich selbst in Gefahr, wenn sie mit ausländischen Organisationen zu religiösen Themen kooperieren. Dies führt zu einer zunehmenden Behinderung der Chinaarbeit auch vieler deutscher Organisationen.
Von brennender Aktualität ist ein neues Rechtsdokument, das sich mit „Maßnahmen für die Verwaltung religiöser Informationsdienste im Internet“ befasst. Es trat zum 1. März 2022 in Kraft. Durch eine sechsmonatige Übergangsfrist zum 1. September 2022 sind die Auswirkungen des Gesetzes noch kaum abschätzbar. In diesem Zeitraum müssen alle „Dienste, die der Öffentlichkeit Informationen über religiöse Lehren und Vorschriften, religiöse Kultur, religiöse Aktivitäten etc. (…) anbieten“ eine Lizenz bei den Religionsbehörden erwerben. Jeder, der im Internet religiöse Inhalte veröffentlichen möchte, braucht eine solche Genehmigung. Die Kommunistische Partei sieht darin eine Wiederherstellung der früheren Ordnung, in der das religiöse Leben auf den internen Bereich beschränkt war. Vor der Zeit des Internets konnten beispielsweise religiöse Schriften nur religionsintern erworben werden, nicht in öffentlichen Buchhandlungen. Die neuen Maßnahmen weisen einen solchen Weg zurück.
Das Credo, das hinter diesen Maßnahmen steht, ist Anpassung, der Begriff hierfür „Sinisierung“. Religionen, allen voran Fremdreligionen, soll es erschwert werden in Konkurrenz mit der Ideologie der Kommunistischen Partei zu treten: Religionen sollen „chinesisch werden“. Ironischerweise wird auch der Daoismus chinesischen Ursprungs dazu aufgefordert. Sinn ergibt das Ganze, wenn man betrachtet, dass die Kommunistische Partei unter chinesisch vor allem sozialistische Wertvorstellungen versteht, sowie einen Beitrag der Religionen zu dem politischen Ziel des Chinesischen Traums einer modernen sozialistischen Nation fordert. Passend zur sozialistischen Idee gehören Fünfjahres-Pläne zu den wichtigsten politischen Maßnahmen, um die politische Sinisierungskampagne aller Religionen in China voranzutreiben. Teil dieser Pläne ist zum Beispiel die Neuübersetzung der Bibel. Es soll in Zukunft eine Version geben, die auf Kompatibilität mit den sozialistischen Wertvorstellungen der Kommunistischen Partei ausgelegt ist.
Die religionspolitische Entwicklung in China sollte uns sorgenvoll stimmen. Die zunehmende Sinisierung von Religionen im Sinne der chinesischen Regierung ist nämlich nicht nur eine Gefahr für die individuellen religiösen Gruppen vor Ort. Die freie, von der Politik unabhängige Religionsausübung ist auch von institutioneller Seite von entscheidender Bedeutung: sie ist ein Bollwerk gegen den Totalitarismus. Liberalen Denkern von Alexis de Tocqueville, über John Locke bis John Rawls ist klar, dass die Gewalt in einem Staat geteilt werden muss. Am populärsten ist dabei die Gewaltenteilung zwischen Legislative, Judikative und Exekutive. Dabei wird die Religionsfreiheit häufig vernachlässigt. Dabei ist die freie Religionsausübung ein wichtiges Bollwerk gegen einen ideologisch übergriffigen Staat. Finden Bürger Bedeutung und ideologische Erfüllung in zivilgesellschaftlichen Organisationen wie der Kirche, sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass der Staat sich eines relevanten Teils der Bevölkerung ideologisch bemächtigen kann. Die Macht über das Seelenheil wird nicht der Politik, sondern der Religion übertragen. Dadurch verliert die Politik ein Stück ihrer Macht über die Bürger und kann sie nur in anderen, legitimeren, Bereichen einsetzen. Es bleibt also zu hoffen, dass es den religiösen Gruppen in China gelingt, sich der zunehmend bedrohlichen Sinisierung so gut es geht zu widersetzen.