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Der Optimismus hat es ohnehin nicht immer leicht im Land der Bedenkenträger und Beschwerdeführer. Wenn jetzt zusätzlich zur Klima-Apokalypse und dem Corona-Massensterben auch noch der Hungerwinter auf uns zukommt, haben diejenigen einen schweren Stand, die dem kommenden Tag mehr zutrauen als dem vergangenen.

Der härtere Weg

Optimisten brauchen ihr häufig sonniges Gemüt. Denn als Optimist muss man mithin sehr viel mehr Stehvermögen und dickes Fell mustern als die Nostalgiker und Pessimisten, Fatalisten und Zyniker. Wessen Herz und Seele in der Vergangenheit hängt, kann verhältnismäßig leicht auf unsere Neigung aufbauen, die alten Zeiten zu verklären und allen Unbill auszublenden. Wer mit einem düsteren Blick nach vorn blickt, kann sich darauf verlassen, dass für uns Menschen die Furcht oft eine sehr viel stärker wirkende Emotion ist als die Hoffnung. Wer daran zweifelt, dass wir etwas verändern können, wird die Trägen immer wieder anziehen. Und der Zyniker ist ohnehin in der bequemen Position, überhaupt gar keine Gegenentwürfe oder Lösungen präsentieren zu müssen. Optimisten hingegen müssen damit zurechtkommen, dass ihnen Traumtänzerei vorgeworfen wird, Augenwischerei und Realitätsferne. Ja, die Realität, die vor ihrem oder seinem inneren Auge ersteht, ist fern – sie liegt noch in der Zukunft. Aber sie speist sich auch aus der Vergangenheit. Das zumindest bleibt Optimisten: der Verweis darauf, dass vor 150 Jahren viel mehr Säuglinge gestorben sind; dass die Welt aus dem Normalfall Analphabetismus herausgewachsen ist; dass in vielen Ländern der Welt das letzte Wort nicht mehr bei Alleinherrschern liegt.

Wenn von überall die Unheilsbotschaften nur so auf uns einprasseln, wird es sehr schwer mit einer hellen und zupackenden Weltsicht durchzudringen. Auch die Politik reagiert auf die Inflation und die bevorstehende Rezessionsgefahr weniger mit dem Aufruf zum Anpacken als mit dem immer stärker aufgeblähten Versprechen, die gute alte Zeit mittels astronomischer Summen einfach künstlich am Leben zu erhalten. Vollkasko statt Selbstbeteiligung: Der individuelle Einsatz für eine bessere neue Zeit ist keine Option, die im öffentlichen Diskurs gezogen wird. Dabei wäre gerade das jetzt nötig. Durch die Jahrtausende der Geschichte des Homo sapiens sind wir nur deshalb aus Not, Elend, Hunger und Dummheit herausgewachsen, weil sich immer wieder Leute gefunden haben, die den Mut und das Durchhaltevermögen der Optimisten aufgebracht haben: Gottfried Wilhelm Leibniz und Hellen Keller, Winston Churchill und Mahatma Gandhi, Marie Curie und Sophie Scholl, Warren Buffet und Steve Jobs. Diejenigen, die resigniert und womöglich nörgelnd daneben gesessen haben, waren meist nicht daran beteiligt, Freiräume zu erweitern, neue Geschäftsmodelle zu entwickeln oder Therapiemöglichkeiten zu finden.

Zerschmetterte Visionen

Es gab schon mal bessere Zeiten für den Optimismus … Die letzte Hochzeit hatte er wahrscheinlich in den 90er Jahren, als der Eiserne Vorhang gefallen war, das Internet-Zeitalter anbrach und die Skorpions mit „Wind of change“ die erfolgreichste deutsche Single-Produktion aller Zeiten herausbrachten. Am populärsten war der Optimismus freilich in der Zeit zwischen dem Höhepunkt der Aufklärung in der Mitte des 18. Jahrhunderts bis in die Zeit der Übersättigung durch den explodierenden Wohlstand am Ende des 19. Jahrhunderts. Es gibt viele Gründe dafür, dass diese Zeit auch entscheidende Fortschritte in Wissenschaft, Wirtschaft und bürgerlichen Freiheiten hervor- oder zumindest in Gang gebracht hat. Aber ein wesentlicher war die Hoffnung, die in den Herzen der Menschen brannte; die tiefsitzende Gewissheit, dass sich die Mühe lohnt, weil das Morgen besser wird. Der Marquis de Condorcet, ein überzeugter Aufklärer und eines der freundlichen und freiheitlichen Gesichter der Französischen Revolution, schrieb in seinem Versteck, in das er 1794 vor dem mörderischen Gesicht der Revolution geflohen war, sein herrliches Buch „Entwurf einer historischen Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geistes“. Er beschreibt und begründet dort seine Überzeugung, „dass die Natur unseren Hoffnungen keine Grenzen gesetzt hat“.

Diese von ihm bis ins frühe Grab gelebte und gefeierte Überzeugung wurde von vielen Menschen jener Epoche geteilt. Sie war auch der Motor, der in allen Ländern, die wir zum Westen zählen, Männer und Frauen dazu antrieb, sich gegen Sklaverei und Zensur einzusetzen, für Freihandel und Frauenwahlrecht. Doch dann kam erst die große Welle der seelenlosen Zyniker, die sich mit größtem Vergnügen darin ergingen, mit Spott und Snobismus anderer Leute Träume zum Platzen zu bringen. Und dann brach natürlich eine Ideenwelt zusammen, als die Barbareien des 20. Jahrhunderts offenbar wurden: die Schlächtereien des Kolonialismus, das sowjetische Staatsmonstrum und die Vernichtungswalze des Nationalsozialismus. Unter einem Berg aus Stahl, Gas und Blut wurden die Visionen der Denker begraben, die vor ihrem inneren Auge gesehen hatten, wie mit dem technischen und wissenschaftlichen Fortschritt auch Politik und Moral immer besser würden.

Lebenselixier Optimismus

Mit Zuversicht und Tatendrang in die Zukunft zu blicken, sich überhaupt Zukunft vorstellen zu können, gehört zu den Fähigkeiten, die der Homo sapiens in der Geschichte der Menschheit ausgebildet hat. Das hat ihn dazu befähigt, ein Leben zu entwickeln, das nicht mehr nur an dem täglichen Überleben ausgerichtet war, sondern geprägt ist von Mückennetzen, Theaterstücken, Impfungen und Smart Home Anwendungen. Diesen Prozess versuchte Condorcet in seinem oben erwähnten Buch nachzuvollziehen in der Überzeugung, „dass die Natur der Vervollkommnung der menschlichen Fähigkeiten keine Grenzen gesetzt hat; dass die Fähigkeiten des Menschen zu Vervollkommnung tatsächlich unabsehbar sind“. Wissenschaftlichen Standards des 21. Jahrhunderts hält dieses Werk natürlich nicht mehr Stand. Aber das fundamentale Prinzip, dass der Mensch immer besser werden kann, bleibt nach wie vor eine wirkmächtige Sicht der Dinge. Nicht von jedem geteilt. Aber für viele ein entscheidender Grund, dass sie weitermachen.

Die kommenden Monate, womöglich auch Jahre, werden voraussichtlich für die meisten Menschen in unserem Land und rund um den Globus ziemlich herausfordernd. Nostalgie und Pessimismus, Fatalismus und Zynismus werden uns aber nicht aus dieser Lage herausführen. Panik erst recht nicht. Nur der Optimismus kann die Menschen in der Ukraine motivieren, ihr Land besser, wohlhabender und freier wiederaufzubauen. Nur der Optimismus kann Menschen weltweit dazu anfeuern, ihre ganze intellektuelle Feuerkraft aufzuwenden, um herauszufinden, wie wir mit dem Klimawandel umgehen. Nur der Optimismus kann sich gegen das Gespenst des Populismus, Autoritarismus und Faschismus stemmen, das in den letzten Jahren wieder so gewaltig sein Haupt erhebt. Das 21. Jahrhundert muss ein Wiedererstarken des Optimismus erleben. Und da darf man sich nicht irre machen lassen von denjenigen, die einem Naivität und Verblendung vorwerfen. Vielmehr kann man sich orientieren an einem Mann, über dessen Haupt gleichsam der Stahl der Guillotine blitzte, und der im letzten Absatz seines Buches schrieb:

Und was für ein Schauspiel bietet dem Philosophen das Bild eines Menschengeschlechts dar, das von allen Ketten befreit, der Herrschaft des Zufalls und der Feinde des Fortschritts entronnen, sicher und tüchtig auf dem Wege der Wahrheit, der Tugend und des Glücks vorwärtsschreitet; ein Schauspiel, das ihn über die Irrtümer, die Verbrechen, die Ungerechtigkeiten tröstet, welche die Erde noch immer entstellen und denen er selbst so oft zum Opfer fällt! In der Betrachtung dieses Bildes findet er den Lohn für seine Mühen um die Fortschritte der Vernunft, die Verteidigung der Freiheit. So findet er den Mut, seine Mühen mit der ewigen Kette der menschlichen Geschicke zu verknüpfen: die Betrachtung dieses Bildes vergilt ihm wahrhaft für die Tugend, und sie erfüllt ihn mit der Freude, etwas bleibend Gutes bewirkt zu haben, etwas, das kein Verhängnis mehr in unheilvollem Ausgleich zerstören wird, indem es Vorurteil und Sklaverei wiederkehren lässt. Seine Betrachtung ist ihm eine Stätte der Zuflucht, wohin ihn die Erinnerung an seine Verfolger nicht begleiten kann; wo er in Gedanken mit dem Menschen, der in seine Rechte wie in die Würde seiner Natur wieder eingesetzt ist, lebt und wo er den Menschen vergisst, den Habgier, Furcht und Missgunst quälen oder verderben; dort ist er wahrhaft zusammen mit seinesgleichen in einem Elysium, das seine Vernunft sich zu erschaffen wusste und das seine Liebe zur Menschheit mit den reinsten Freuden verklärt.