Wer heute 30, 40 oder 50 ist, gehört zur belogenen Generation. Niemals in der jüngeren Geschichte dieses Landes war die Rente so unsicher wie heute. Es sind zwei Betrugsfälle des Staates und seiner Institutionen, die diese belogene Generation wegzustecken hat.
Der erste Betrug: Bislang war das Wissen um die demographische Entwicklung und ihre Folgen für ein umlagefinanziertes Rentensystem Allgemeingut in der politischen Auseinandersetzung. Wenn immer weniger Kinder geboren werden und gleichzeitig die Menschen immer älter werden, dann gibt es eigentlich nur vier Möglichkeiten das Finanzierungsproblem künftiger Renten in den Griff zu bekommen. 1. Beitragssatzsteigerung, 2. Verschiebung des Renteneintrittsalters, 3. Rentenkürzung oder 4. einen höheren Steuerzuschuss für die Rentenkasse. An den Gesetzmäßigkeiten der Demographie konnte deshalb auch Norbert Blüm nichts ändern als er 1986 plakatierte: „denn eins ist sicher: Die Rente“
Für die Pragmatiker in der Politik, also die übergroße Mehrheit, ist klar, dass es sehr wahrscheinlich auf eine Kombination verschiedener Maßnahmen hinauslaufen wird. Zwischen den politischen Strömungen in diesem Land geht es bestenfalls um eine unterschiedliche Gewichtung. Sozialisten, Grüne und SPD wollen einen höheren Steueranteil, Union und FDP wollen den Schein der beitragsbezogenen Rente möglichst lange aufrecht erhalten.
Und da sind wir schon beim zweiten Betrug: Die bürgerlichen Kräfte in diesem Land setzen seit langem auf die zweite und dritte Säule der Altersvorsorge. Für sie war und ist die Stärkung der betrieblichen und privaten Altersvorsorge die Antwort auf den demographischen Wandel.
Sie glauben an die Kraft der Marktwirtschaft und damit an die Kapitaldeckung. Diese sei viel besser geeignet, in einer schrumpfenden Gesellschaft die Probleme zu lösen. Denn wenn sich Einzahlungen über sehr lange Zeit, also über 30, 40 oder sogar 50 Jahre verzinsen, dann führt dies am Ende zu einer Verdoppelung oder Verdreifachung des daraus gebildeten Kapitalstocks. Der Zinseszins ist der Turbo für die private Altersvorsorge und gleichzeitig ihre Erfolgsgeschichte. Das ist die Story, die die Befürworter der Marktwirtschaft immer postulieren. Sie berufen sich dabei auf Ludwig Erhard, der 1956 schon sagte: „Die totale Zwangsversicherung und der Versorgungsstaat sind naturgemäß besonders geeignet, den Wagemut, das Leistungsstreben, die Bereitschaft zu freier Spartätigkeit, die persönliche Initiative und das Verantwortungsbewusstsein mehr und mehr zu lähmen, ohne die eine freiheitliche Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung nicht existieren kann.“
Es ist also mehr als nur das Bekenntnis zur individuellen Vorsorge. Es ist ein Gesellschaftsbild, das hier zum Ausdruck kommt. Es ist das Bild eines Staates, der nicht als Nannystaat auftritt, sondern einen Ordnungsrahmen schafft, in dem sich jeder Einzelne nach eigenen Präferenzen entscheiden kann oder auch nicht. Eine dieser Grundannahmen dieses Ordnungsprinzips ist es, dass derjenige der spart am Ende seines Berufslebens mehr in der Tasche hat, als derjenige der dies nicht tut.
Dabei geht es nicht so sehr um die Gruppen in der Gesellschaft, die dies traditionell eh können. Es geht also nicht um Millionäre, bekannte Fußballspieler oder Formel-1-Fahrer. Nein, es geht um die Mitte der Gesellschaft, also diejenigen, die angestellt sind oder einer selbständigen Tätigkeit nachgehen, ein gutes Auskommen haben, das ihnen erlaubt, einen Teil des Arbeitseinkommens wegzulegen und zu sparen. Ökonomisch gesprochen, verzichten sie heute auf den Konsum, indem sie sparen, damit sie im Alter diesen Konsum nachholen können.
Anders als zu Blüms Zeiten wird die belogene Generation jetzt doppelt getäuscht. Sie weiß, dass die gesetzliche Rente weniger und dennoch teurer für sie wird. Deshalb flüchtet sie sich in die Kapitaldeckung. Es ist also die Mitte der Gesellschaft, die maßgeblich von der Niedrigzinspolitik der EZB und der finanziellen Repression der Regierung betroffen ist. 800 Mrd. Euro stecken allein in den 90 Millionen Lebensversicherungsverträgen. Und 89 Prozent davon sind in festverzinslichen Wertpapieren angelegt, deren Verzinsung durch die Geldpolitik der EZB vernichtet wird. Dabei garantieren heimische Lebensversicherungen ihren Kunden noch Garantiezinsen von bis zu 4 Prozent, obwohl eine zehnjährige Bundesanleihe nur noch eine Rendite von 0,72 Prozent abwirft. Selbst wenn sie es wollten, könnten die Versicherer nicht wesentlich anders ihre Beitragseinnahmen anlegen, die Anlagevorschriften der Regierung zwingen sie in vermeintlich sichere Zinspapiere.
Ihnen allen drohen japanische Verhältnisse. Dort hat die lang andauernde Niedrigzinspolitik der japanischen Zentralbank nicht nur die Staatsverschuldung auf über 240 Prozent zur Wirtschaftsleistung hochgetrieben, sondern auch in den 2000er Jahren zum Zusammenbruch von fünf Lebensversicherern geführt. Hohe garantierte Verzinsungen für Lebensversicherungsverträge konnten am Markt für festverzinsliche Wertpapiere nicht mehr erwirtschaftet werden. Die Folge war, dass der Gesetzgeber den Lebensversicherungen gestattete, ihre Garantieverzinsung für bestehende Lebensversicherungsverträge rückwirkend zu reduzieren. Damit ist die Frage beantwortet, wer am Ende die Politik des billigen Geldes bezahlt.
Was private und staatliche Schuldner gleichermaßen freut, wird für die Anleger in deren Schulden, also die Lebensversicherungshalter, zu einer Katastrophe. Seit dem Ausbruch der Staatsschuldenkrise 2010 in Europa haben deutsche Anleger rund 23 Milliarden Euro an Zinseinnahmen verloren, allein 2014 werden es 5,4 Mrd. Euro sein. Dagegen ist das Rentengeschenk der Regierung für die Mütter und die Frührentner mit 3 Milliarden Euro in 2015 geradezu ein Schnäppchen.
Den privaten Krankenversicherungen geht es auf Sicht nicht anders. Auch sie müssen ihre Alterungsrückstellungen überwiegend in festverzinslichen Wertpapieren anlegen und müssen dies zwangsläufig durch Beitragserhöhungen kompensieren. Und auch die Unternehmen schieben eine riesige Finanzanzierungslücke ihrer betrieblichen Altersvorsorge vor sich her. Sie sind oft durch Lebensversicherungen rückgedeckt oder haben bei der Ausarbeitung der Tarifverträge mit 6 oder 7 Prozent kalkuliert.
Sie mögen denken, vielleicht kommt es nicht so schlimm. Vielleicht setzt Mario Draghi seine Ankündigung aus 2012 doch nicht um, als er sagte, die EZB werde „alles Notwendige tun“, um den Euro zu erhalten. „Und glauben Sie mir, es wird genug sein.“ Oder vielleicht war die Aussage von Mario Draghi Mitte November dieses Jahres auch nur ein großer Bluff, als er die Börse zu neuen Höhenflügen mit wenigen Worten animierte: „Ohne Verzögerung“ müsse man die Inflationsrate wieder an die Zielmarke der Notenbank von 2 Prozent heranführen.
Aber vielleicht geht es dem deutschen Michel auch so wie in Max Frischs Drama „Biedermann und die Brandstifter“, als die Brandstifter in der Nacht schon die Benzinfässer ins Haus brachten und Biedermann sie fragte: „… ist wirklich Benzin in den Fässern?“ … Brandstifter Eisenring: „Wofür halten Sie uns, Herr Biedermann, offen gesprochen: wofür eigentlich?“ Biedermann: „Sie müssen nicht denken, mein Freund, dass ich keinen Humor habe, aber ihr habt eine Art zu scherzen, ich muss schon sagen.“ Brandstifter Eisenring: „Wir lernen das.“ Biedermann: „Was?“ Brandstifter Eisenring: „Scherz ist die drittbeste Tarnung. Die zweitbeste Sentimentalität … Aber die beste und sicherste Tarnung … ist immer noch, die blanke und nackte Wahrheit. Komischerweise. Die glaubt niemand.“ – Am Ende brannte Biedermanns Haus lichterloh.