Beiträge

Photo: Fraktion DIE LINKE. im Bundestag from Flickr (CC BY 2.0)

Ein Chlorhühnchen nach dem anderen wird wie die sprichwörtliche Sau durchs Dorf gejagt. Neben dem guten Gefühl, auf der richtigen Seite zu stehen, zahlt sich das für die großen Panikmacher auch finanziell aus. Wieviel „Profitgier“ steckt in der Hysterie-Industrie?

Ein blühendes Geschäft

Campact, Attac, Greenpeace, Deutsche Umwelthilfe – die Bilanzen dieser Unternehmen lesen sich respektabel: Greenpeace nahm im letzten Jahr 57,7 Mio. Euro ein, die Deutsche Umwelthilfe (DUH) folgt mit 8,3 Mio., Campact mit 7 Mio. und schließlich Attac mit 1,8 Mio. Die DUH, Campact und sogar Attac fallen damit gemäß der Definition des Instituts für Mittelstandsforschung in Bonn in die Kategorie „mittlere Unternehmen“, während Greenpeace sogar als Großunternehmen gilt. Das Geschäft blüht: Campact etwa hat seine Einnahmen von etwa 2 Mio. in den Jahren 2011 und 2012 auf die 7 Mio. heute kontinuierlich und eindrucksvoll gesteigert.

Wie sich die einzelnen Kampagnen-Unternehmen finanzieren, unterscheidet sich durchaus. Am dubiosesten ist sicherlich die DUH unterwegs. Als sie vor einigen Jahren eine Kampagne zur Dieselfilter-Pflicht durchführten, wurde öffentlich, dass sie von Partikelfilterherstellern 100.000 Euro eingesammelt hatten. Neben diesen blanken Lobbyismus tritt dann noch die klassische Abmahn-Abzocke gerade von kleinen mittelständischen Unternehmen, wodurch im letzten Jahr 2,3 Mio. Euro direkt in ihre Kassen flossen. Im Jahresbericht wird diese Masche dann blumig umschrieben mit den Worten „Hinzu kommen Einnahmen des Verbraucherschutzes, die zum größten Teil aus der Kontrolle von Unternehmen stammen, die gegen die Regeln der Energieverbrauchskennzeichnung verstoßen haben.“

Der einfache Bürger öffnet sein Portemonnaie

Greenpeace und Campact nutzen solche Methoden nicht und finanzieren sich fast ausschließlich aus Spenden. Sie nehmen – das hat durchaus Anerkennung verdient – weder Gelder von der Industrie noch von der öffentlichen Hand. Attac schreibt auf seiner Website, dass sie sich „bei größeren Projekten auch durch die Akquise von Drittmitteln (öffentliche, kirchliche oder private Förderorganisationen)“ finanzieren. Ihre Finanzberichte weisen das freilich nicht auf. Prinzipiell könnte man den Impuls, sich durch Kleinspenden die Unabhängigkeit zu bewahren, für sehr lobenswert halten. Man könnte Respekt haben vor der Leistung, Hunderttausende von Spendern zum Einsatz zu motivieren.

Oder man könnte das ganze einmal durch die Logik-Brille der Agitatoren dieser Organisationen betrachten. Stellen Sie sich einmal vor, es gäbe die Organisation „Marketpeace“, die sich durch hunderttausende von Kleinspenden finanziert. Man kann darauf wetten, dass sofort die Vorwürfe laut würden, dass hier einfache Bürger übers Ohr gehauen werden mit gefälschten Studien, tendenziösen Vereinfachungen und blanken Lügen. Man würde Marketpeace Manipulation und Täuschung vorwerfen mit dem Ziel, die eigenen Taschen zu füllen.

Profit- und Panikmache

Mit Slogans wie „Ceta ist brandgefährlich“ (Greenpeace), „Für ein anderes Europa – ohne Austerität und Rassismus!“ (Attac) und „TISA – Stoppt den Geheimplan der Konzerne“ (Campact) bewegen sich die Organisationen nicht nur auf dem vielgescholtenen „Bild-Zeitungs-Niveau“. Sie arbeiten auch vornehmlich mit Ängsten. Da wird mit einem Begriff wie „brandgefährlich“ an menschliche Fluchtinstinkte appelliert. Da werden „neoliberale Politik und die globalisierte kapitalistische Ökonomie“ in einer bizarren Volte mit Rassismus in Zusammenhang gebracht. Und da wird von „Geheimplänen“ gemunkelt, als hätte sich Campact mit dem Verschwörungstheoretiker-Magazin „Compact“ zusammengetan. Das ist Panikmache. Das ist verantwortungslose Polemik. Das ist Manipulation erster Güte, die mit den Ängsten von Menschen spielt, um sie auf die eigene Seite zu ziehen und so die Kampfkassen zu füllen.

Profitgier kann sehr unterschiedliche Züge annehmen. Derzeit werden wir beispielsweise wieder sehr deutlich daran erinnert, welche Blüten sie im Bankensektor getrieben hat und noch treibt. Profitgier ist übertriebenes Eigeninteresse und uns aus gutem Grund zuwider. Aber Profitgier muss sich nicht notwendigerweise auf Geld beziehen. Der Profit, den jemand gierig verfolgt, kann etwa auch in gesellschaftlicher Anerkennung bestehen, in der Zahl von Anhängern oder in der Durchsetzung der eigenen Vorstellungen. All das sind auch Profite. Man kann sie auf normalem Wege verfolgen und viele tun das auch, ohne dass es uns anstößig vorkommen würde. Man kann Profit aber auch in einer Haltung der Gier verfolgen, wenn man immer mehr davon will und immer weniger Rücksichten zu nehmen bereit ist.

Ängste statt Argumenten

Obwohl manche der Beschäftigten in den angeführten Organisationen nicht schlecht verdienen, häufen sie doch keine Reichtümer an. Viele von ihnen sind wahrscheinlich Idealisten, für die Geld nur eine untergeordnete Rolle spielt. Oberflächlich betrachtet wäre es also eigenartig, ihnen Profitgier vorzuwerfen. Ihre Gier bezieht sich aber auf eben diese nicht-materiellen Werte. Sie haben bereits früher Zehntausende gegen TTIP und CETA auf die Straße gebracht – nun sollen es Hunderttausende sein. Sie haben die eine Partei vor sich hergetrieben – nun soll die nächste an die Reihe kommen.

Von dieser Gier getrieben ist ihnen jedes Mittel recht: Verkürzungen und Verunglimpfungen, Hohn und Hysterie, Parolen und Propaganda. Sie wittern Verschwörungen, schwingen sich zu Fürsprechern der „kleinen Leute“ auf und schüren Ressentiments gegen Unternehmer und Konzerne. Sie arbeiten mit Ängsten statt mit Argumenten und bereiten so den Boden für die Gegner von Marktwirtschaft und offener Gesellschaft auf allen Seiten des politischen Spektrums. Insofern sind sie tatsächlich Gesellschaften mit beschränkter Haftung: denn die Folgen werden vergemeinschaftet. Sehr schade, denn Kritik ist wichtig – bei der Kontrolle von Regierungshandeln wie beim Schutz der Umwelt und vielen anderen Anliegen, die allen Menschen zugutekommen würden.

Photo: Aad van der Drift from Flickr (CC BY 2.0)

In Freiburg oder Düsseldorf rümpft man schnell mal die Nase, wenn Bürger in Dresden oder Rostock wieder einmal auf die Straße gehen, meist gegen und seltener für etwas protestieren. Sie werden „Wutbürger“ genannt, was in den Medien zum Schimpfwort verunglimpft wird. Diese „Wutbürger“ werden dann als etwas rückständig und unterbelichtet dargestellt, weil sie aus dem tiefsten Dunkeldeutschland entstammen. Sie lesen keine Zeitungen mehr, informieren sich nur noch im Internet und neigen zu Verschwörungstheorien. Wenn wir am Montag den 26. Jahrestag der deutschen Wiedervereinigung feiern, dann ist diese Einordnung keine gute Entwicklung. In dieser „Wutbürger“-Stigmatisierung kommt eine vermeintliche intellektuelle Überlegenheit des Kulturbürgertums im Westen gegenüber dem Osten zum Ausdruck.

Nicht alles, wofür Leute in Dresden und anderswo auf die Straße gehen, muss einem persönlich gefallen, aber hier kommt etwas zum Ausdruck, das in westdeutschen Milieus verloren gegangen ist. Die Sensibilität für Veränderungen. Wahrscheinlich ist dies auch Ergebnis des Wendeprozesses 1989. Damals gab es von der SED-Führung Durchhalteparolen, die eine evolutorische Veränderung der DDR versprachen, eine Zwei-Staaten-Lösung zum Ziel hatten, aber die Vorherrschaft der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands nicht in Frage stellte. Und dann kam alles plötzlich ganz anders. Es war das Nichterkennen der Realität, die die DDR zum Einsturz brachte. Vielleicht ist die Realitätsverweigerung auch heute der Grund, wieso viel mehr ostdeutsche Bürger auf die Straße gehen, sich bei Wahlen viel volatiler verhalten und etablierten Parteien stärker misstrauen als im Westen.

Diese hohe Sensibilität in Ostdeutschland führt dazu, dass gesellschaftliche Veränderungen früher erkannt, thematisiert und angesprochen werden. Das muss unserem demokratischen Gemeinwesen nicht schaden. Diese Entwicklung übt Druck auf die Parteien aus, sich stärker und intensiver um die Sorgen der Bürger zu kümmern. Gleichzeitig überhöht diese Entwicklung die Parteien in unserer Demokratie nicht weiter. Sie reduziert sie wieder auf die Rolle, die ihnen das Grundgesetz zugewiesen hat. Sie „wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit“. Sie bestimmen also nicht alles und über jeden, sondern sind lediglich ein Teil des demokratischen Gemeinwesens.

Letztlich gewinnt die Demokratie dadurch. Abzulesen ist dies sogar an der Wahlbeteiligung. Lange Zeit galten die neuen Bundesländer als Beispiel für Politikverdrossenheit. Zeitweise gingen in den ostdeutschen Bundesländern weniger als die Hälfte der Wahlberechtigten zur Wahl. Ein größeres Misstrauensvotum gegenüber der parlamentarischen Demokratie kann es eigentlich nicht geben. Doch es ändert sich wieder. Gingen 2006 in Sachsen-Anhalt lediglich 44 Prozent der Wahlberechtigten zur Wahl, waren es 10 Jahre später bereits 61 Prozent. Nichtwähler, die von Wahlbeobachtern bereits abgeschrieben waren, gehen heute wieder zur Wahl. Vielleicht ist diese Entwicklung auch ein Beweis dafür, dass die Bürger der Politik wieder etwas zutrauen.

Insofern haben die Bürger der neuen Bundesländer auch der Demokratie insgesamt in Deutschland ihre Lebendigkeit ein Stück weit zurückgegeben. Doch große Freude sollte nicht aufkommen. Wenn man auch andere Landtagswahlen betrachtet, dann gehen rund ein Drittel der Wahlberechtigten weiterhin nicht zur Wahl. Eigentlich müsste diese Entwicklung die Parteien aufrütteln und über neue Formen der Partizipation nachdenken und entscheiden lassen.

Wenn sich der Parteienstaat immer mehr Macht und Kontrolle aneignet, braucht es in der Demokratie eine Gegenmacht. Institutionalisiert ist es traditionell der freiheitliche Rechtsstaat. Parteien, Regierungen und das Parlament dürfen nicht alles. Das Individuum genießt im freiheitlichen Rechtsstaat unveräußerliche Rechte, gegen die kein Parlament, keine Regierung und erst Recht keine Partei vorgehen kann. Doch dies alleine beschränkt die Allmacht der Parteien und ihrer Regierung zu wenig. Es braucht auch die Gegenmacht durch direktdemokratische Elemente. Nur wenn Parlament, Regierung und Parteien Gefahr laufen, dass ihr Wunsch nach immer mehr Macht und Einfluss vom Bürger jeder Zeit begrenzt werden kann, verhalten sie sich anders. Es braucht also ein Rückholrecht der Bürger für demokratische Entscheidungen der Regierung und des Parlaments. Es geht daher um eine Machtbegrenzung, um den Missbrauch der Macht zu beschränken. Die Macht und ihre Begrenzung war das große Thema des britischen Liberalen mit deutschen Wurzeln, Lord Acton, im 19. Jahrhundert. Sein wohl berühmtester Satz lautet: „Macht hat die Tendenz zu korrumpieren und absolute Macht korrumpiert absolut.“ Der neue Imperativ sollte daher lauten: Lasst uns mehr direkte Demokratie wagen!

 

Photo: dierk schaefer (CC BY 2.0)

Die DDR-Vergangenheit wird verharmlost, vertuscht, verklärt. Es hat Folgen für die heutige Politik, wenn ein „Schutzwall“ nicht als mörderisches Instrument gesehen wird und eine exzessive Planwirtschaft nicht als Weg zur Verelendung großer Bevölkerungsteile.

Mauer, Stasi und Mangelwirtschaft als Pflichtübungen

Wenn Sie dieser Tage in Berlin unterwegs sind, kann es passieren, dass Sie in eine S-Bahn steigen, auf der für das DDR-Museum geworben wird. Hierbei handelt es sich nicht etwa um einen Erweiterungsbau der Gedenkstätte im Stasi-Gefängnis Hohenschönhausen, um die Schrecken der 40 Jahre langen Diktatur darzustellen. Eher im Gegenteil: Das DDR-Museum liegt in bester Lage an der Spree gegenüber dem Berliner Dom. Der Besucher kann sich in alte Trabis setzen, sich über die FKK-Kultur und die Blech-Münzen amüsieren, etwas Kalter-Krieg-Grusel empfinden und in einem authentischen DDR-Wohnzimmer umherwandeln – inklusive Abhörstation.

Mauer, Stasi und Mangelwirtschaft kann man natürlich schwerlich auslassen. Aber man will den etwa 600.000 Menschen, die jährlich das Museum besuchen, ja nicht die Stimmung vermiesen. Und so ist die Darstellung dieser Aspekte der DDR eher eine Pflichtübung, die auch noch absolviert wird. Wer will schon den spanischen Schulklassen, britischen Fanclubs und japanischen Rentnerinnen, die sich gerade zwischen dem Döner am Hackeschen Markt und dem Bummel über die Friedrichstraße befinden, die Geschichten erzählen von Unterdrückung und Umweltverpestung, von Fremdenfeindlichkeit und Familienzerwürfnissen, von Misswirtschaft und Mauertoten?

Stalinisten als Namensgeber

Das Museum ist eines der prominentesten Beispiele für DDR-Nostalgie, aber bei weitem nicht das einzige. Mitten durch Berlin laufen gleich zwei große Straßen, die nach Karl Marx benannt sind, auf dem Gebiet der ehemaligen DDR gibt es noch unzählige von ihnen. Auch Rosa Luxemburg fungiert als Namensgeberin für Straßen, Plätze, Schulen und sogar eine Stiftung. Also die Frau, die feststellte „Wer sich dem Sturmwagen der sozialistischen Revolution entgegenstellt, wird mit zertrümmerten Gliedern am Boden liegenbleiben.“ Auch der ausgemachte Stalinist Ernst Thälmann geistert noch allenthalben mit Denkmälern und als Namensgeber durch die östlichen Teile unseres Landes. All diese kulturellen Reminiszenzen an ein diktatorisches Regime sind in etwa so absurd als würde man einen Erlebnispark Deutscher Kolonialismus aufmachen, wo man lustige Tropenhüte erwirbt, mit einer Bimmelbahn die Ostafrikanischen Zentralbahn nachspielt und alle zwei Stunden einem traditionellen Tanz der Papua zusehen kann.

Doch nicht nur die Symbole und Souvenirs sind erhalten geblieben. Auch in vielen Köpfen ist die DDR noch oder wieder ein Sehnsuchtsort. Nach der Wiedervereinigung war sie vor allem für die „Wendeverlierer“ das positive Gegenbild zur neuen Realität. Diese Menschen verhalfen der zur PDS gewandelten SED zum Überleben. Inzwischen gibt es eine neue Gruppe, für die die Vorstellung umfassender Fürsorge und echten Schutzes an Attraktivität gewinnt. Es sind die Menschen, die sich überrannt fühlen von der Globalisierung, denen gesellschaftliche Veränderungen zu schnell gehen und die das Gefühl haben, vernachlässigt zu werden.

Die Versuchung, Verantwortung abzugeben

Vernachlässigung war nun wahrhaft nicht das Problem des DDR-Regimes. Für jeden wurde ein Arbeitsplatz gefunden, für jeden die Konsummöglichkeiten bestimmt und viele hatten einen ganz persönlichen Ansprechpartner und Kümmerer im Ministerium für Staatssicherheit. Der marktwirtschaftlich organisierte und freiheitlich-demokratische Rechtsstaat bietet da wesentlich weniger Komfort und verlangt ein wesentlich höheres Maß an Selbstverantwortung. Natürlich gibt es auch in diesem System immer wieder Verlierer – zumindest im Kontrast zu den Gewinnern. Weil die DDR-Vergangenheit jedoch nie wirklich aufgearbeitet wurde und landauf, landab eher der kitschige als der kritische Blick dominiert, fällt es den Verlierern schwer zu erkennen, dass sie selbst als Verlierer im jetzigen System noch viel besser dran sind.

Ein Resultat der mangelhaften bis ungenügenden DDR-Vergangenheitsbewältigung ist der rege Zuspruch, den Kritiker und Gegner von Marktwirtschaft, freiheitlicher Demokratie und offener Gesellschaft derzeit erfahren. Bei den Wahlen in den ostdeutschen Bundesländern haben Parteien am linken und am rechten Rand in den letzten beiden Jahren zwischen 33 und 42 Prozent der Wähler hinter sich versammeln können. Diese Wähler sind nicht lauter Kommunisten und Rassisten. Es sind insbesondere auch Menschen, die sich – oft mit guten Gründen – schwertun, zu akzeptieren, dass unser gesellschaftliches und politisches System ihnen mehr Selbstverantwortung zumutet als sie zu übernehmen bereit oder vielleicht auch imstande sind.

Der Preis, den ein vermeintlich einfacheres, überschaubares und sichereres System á la DDR uns abverlangt, ist vielen zu wenig bewusst. Wer den Durchmarsch der Parteien der einfachen Antworten auf der Linken und Rechten stoppen will, muss auch bei einem besseren Geschichtsverständnis ansetzen. Darum ist es eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, noch viel deutlicher als bisher klarzumachen, dass zentrale Planungsbehörden und Einheitsprodukte, Mauern und politische Gefängnisse zu den ganz großen Tragödien unseres Landes, ja unseres Kontinents gehören. Das hatte schon vor bald zehn Jahren der bedeutende Historiker Hans-Ulrich Wehler vorausgesehen: „Eine intensive Beschäftigung mit der DDR-Vergangenheit ist dringend geboten. Die Konsequenzen dieses Staates sind doch nicht nur in Bitterfeld, sondern auch in der Gesellschaft noch über Jahrzehnte zu beobachten.“

Photo: James Vaughan from Flickr (CC BY-NC-SA 2.0)

Die Werbung steht mal wieder im Fokus der Kritik. Die Alternative zu vermeintlich oder tatsächlich manipulativer Werbung ist jedoch nicht „Mutter Staat“, die ihre Kinder von allen Bedrohungen und Verlockungen abschirmt. Die Alternative ist der selbstbestimmte Bürger.

Wutbürger auf allen Seiten des politischen Spektrums

Im April dachte der Justizminister laut über ein Verbot sexistischer Werbung nach. In den vergangenen Tagen beschäftigt eine schlüpfrige Werbekampagne der Firma „true fruits Smoothies“ nicht mehr nur den Werberat und die Mitglieder der Wirtschaftsredaktionen, sondern inzwischen auch massenweise Feuilletonisten und Wortwitzkünstler. Und in der letzten Woche ließ sich das „Forum Rauchfrei“ eine Anzeige in der FAZ sportliche 33.000 € kosten, um ein „umgehendes Verbot der Außenwerbung für Tabakprodukte“ zu fordern. Hand in Hand, so könnte die Erzählung lauten, kämpfen Zivilgesellschaft und Politik gegen die übermächtige Interessenmacht der Industrie und ihrer Vermarkter. Die Realität sieht wohl anders aus.

Wutbürger finden sich mitnichten nur auf Pegida-Demonstrationen oder in den Wahlkabinen in Pforzheim und Greifswald. Es gibt sie in den verschiedensten Färbungen und Variationen. Den Wutbürger macht wesentlich aus, dass er sich einer Macht gegenübersieht, die ihn verkauft und verraten hat. Er kann sich kaum gegen sie wehren, weil sie größer und mächtiger ist als er. Aber er will es sich nicht mehr länger gefallen lassen. Darum erhebt er seine Stimme und wirft sich dem Gegner entgegen wie einst David dem Goliath. Im Falle der politisch nach rechts tendierenden Wutbürger sind die Gegner dann „die Eliten“ oder „die Meinungsmacher“. Der auf die linke Seite neigende Wutbürger sieht sich im Kampf gegen Großkonzerne und neoliberale Ausbeuter. Mehr Unterschied ist nicht.

Man muss sexistische Werbung nicht gut finden

Im Wut-Weltbild der Gegner des Neoliberalismus sind die „Gewinnmaximierer“ der Feind Nummer eins. Menschen, die nur nach ihrem eigenen Vorteil streben und das Wohl ihrer Mitmenschen auf dem Altar des Profits opfern. Die Begeisterung über die eigene moralische Erhabenheit in Verbindung mit fanatischem Eifer führt freilich oft dazu, dass Zusammenhänge falsch dargestellt, Ursache-Wirkungs-Ketten verkehrt und Verantwortlichkeiten durcheinandergenbracht werden. Wer das intensiv genug betreibt, wird im Laufe der Zeit immun gegen Argumente.

Nehmen wir sexistische Werbung. Es muss kein Ausweis von Spießigkeit sein, wenn man es als unangemessen empfindet, dass gewisse Zeitschriften auf jedem dritten Cover nackte Menschen abbilden, egal ob es beim Heft-Thema um Altersvorsorge, den Brexit oder das Dritte Reich geht. Man muss nicht prüde und verklemmt sein, um der Meinung zu sein, dass 10jährige Kinder nicht am laufenden Band mit unbekleideten Damen und Herren auf XXL-Plakaten konfrontiert werden müssen. Und man kann sogar der Organisation „Pinkstinks“, die Minister Maas bei seinem Vorschlag beraten hat, zustimmen, wenn sie beklagt, dass „Produkte, Werbe- und Medieninhalte … Kindern eine limitierende Geschlechterrolle zuweisen“.

Gesetz erlassen – Problem beseitigt

Aber man sollte genauer hinsehen. Der Slogan „sex sells“ beruht eben auch auf sehr deutlicher empirischer Evidenz. Das liegt nicht nur an den Verkäufern, sondern auch an den Käufern. Offenbar ist der Einsatz von erotischer Bebilderung ein erfolgreiches Mittel, um Käufer anzulocken. Die sehr niedrige Hemmschwelle beim Gebrauch von nackter Haut hat zudem auch damit zu tun, dass die Käufer geprägt sind von einer Gesellschaft, in der es nur noch wenige Tabus auf dem Gebiet der Sexualität gibt. In den Marketing- und Werbe-Agenturen sitzen mitnichten lauter Machos, die konsequent den Masterplan verfolgen, die komplette Verdinglichung von Frauen zu erreichen. Es sitzen dort vielmehr Kinder ihrer tabulosen Zeit, die versuchen, einen möglichst breiten Geschmack zu treffen und sich deshalb an den Wünschen unserer Mitbürger orientieren. Und so platt das auch klingen mag: Wenn sie es nicht machen würden, würden es andere machen.

Werbung zu verbieten, die mit Nacktheit, Sexualität oder festgeschriebenen Rollenbildern operiert, löst keine Probleme. Ja, es kann sogar den Effekt haben, dass man die Augen vor tatsächlichen Problemen und vor allem vor deren Ursachen verschließt. Die Logik „Gesetz erlassen – Problem beseitigt“ gleicht der Vorstellung kleiner Kinder, dass sie nicht gesehen werden, wenn sie sich die Hände vor die Augen halten. Einem herablassenden Frauenbild kann man nur mit langfristiger Bewusstseinsveränderung entgegenwirken. Eine solche Veränderung kann Jahrzehnte dauern – da „wirkt“ ein Gesetz natürlich schneller. Aber es bleibt bei einer rein äußerlichen Veränderung. Jenseits der Frage, ob ein Gesetz ein wirksames Mittel sein kann, ist natürlich vor allem auch die Frage bedeutsam, ob es ein legitimes Mittel sein kann. Dürfen wir Gesetze nutzen, um unserem mitunter durchaus berechtigen Unmut über Sexismus Luft zu machen?

Aus der Herrschaft des Rechts in eine Herrschaft der Gesetze?

In unserer und anderen Gesellschaften hat es tiefgreifende Veränderungen gegeben in den letzten Jahrzehnten: von der Frauenemanzipation bis zur bewussteren Ernährung, von einer Verbesserung der Aufstiegschancen bis zum friedlichen Miteinander von Menschen unterschiedlichster Herkunft. Dass es zu diesen Veränderungen gekommen ist, liegt an Frauen und Männern, die dafür geworben haben; die ihre Ideale hochgehalten haben, zum Teil gegen massiven Widerstand; die Beharrungsvermögen und ein dickes Fell mitgebracht haben. Wenn in diesen Bereichen mit Gesetzen gearbeitet wurde (z. B. Frauenquote, Nichtraucherschutz, Antidiskriminierung), dann kamen diese oft lange nachdem die Veränderung bereits stattgefunden hatte und hatten kaum noch Einfluss auf das Verhalten, geschweige denn die Einstellung der Menschen.

Die Wutbürger, die heute für Werbeverbote kämpfen, sollten dringend abrüsten. Eine freie und offene Gesellschaft muss auf anderem Wege verändert werden. Aufklärung, öffentlicher Diskurs, Überzeugungsarbeit – das sind die einzigen Mittel, deren man sich in einer freiheitlichen Demokratie bedienen darf, wenn man dem Grundgedanken des selbstbestimmten, mündigen Bürgers treu bleiben möchte. Andernfalls drohen wir, aus der Herrschaft des Rechts in eine Herrschaft der Gesetze zu rutschen – aus der Gerechtigkeit in die Willkür. Und es kann übrigens auch sehr gut sein, dass die meisten Menschen in unserem Land nicht so einfältig, willenlos und manipulierbar sind, wie die Werbeverbots-Wutbürger meinen …

Photo: Tom Thai from Flickr (CC BY 2.0)

Eine Studie der Unternehmensberatung Ernst & Young hat gerade die beruflichen Pläne von Studenten abgefragt. 32 Prozent der befragten Studenten wollen nach ihrem Studium in den Öffentlichen Dienst wechseln. Lediglich 9,9 Prozent wollen sich selbstständig machen. Wahrscheinlich drückt nichts den aktuellen Gemütszustand junger Menschen in diesem Lande besser aus als diese beiden Zahlen. Der Staatsdienst ist sicher und auskömmlich, die Selbstständigkeit gilt als risikobehaftet und für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf weniger gut geeignet. Wenn man bedenkt, dass unter der Bedingung von Mehrfachnennungen auch noch 23 Prozent der Studenten gerne in Kultureinrichtungen arbeiten würden, die ja ebenfalls meist staatlich finanziert sind, und weitere 18 Prozent in die staatlich finanzierte Wissenschaft, dann wird einem angst und bange.

Denn für die Zukunftsfähigkeit einer Gesellschaft ist das ein Alarmsignal. Die Funktionsfähigkeit des Öffentliche Dienstes ist für das Vorankommen einer Gesellschaft und ihres Wohlstandes wahrscheinlich nicht völlig zu vernachlässigen. Man muss dazu nur nach Griechenland schauen, um das hiesige Funktionieren einer Bürokratie auch ein wenig schätzen zu lernen. Dennoch sollten sich in einer offenen Gesellschaft, die zwangsläufig auf einer marktwirtschaftlichen Ordnung beruht, die besten Kräfte selbstständig machen, ihre Ideen umsetzen und nicht nur ihre Energie im Verwalten des Staates vergeuden.

Zum Wohlstand des Einzelnen und einer Gesellschaft insgesamt bedarf es einer Wertschöpfung. Wohlstand entsteht nur, wenn Unternehmer Produkte oder Dienstleistungen besser machen als bisher. Das nennt man dann Wachstum. Es muss also etwas produziert und hergestellt werden, das am Markt Käufer findet. Der öffentliche Dienst ist natürlich auch Innovation. Doch diese Innovation konzentriert sich in der Regel auf neue Vorschriften, Verordnungen und Bürokratie. Sie lähmen den Fortschritt der echten Innovationen in einer freien Marktwirtschaft.

Wahrscheinlich ist das Kind erstmal in den Brunnen gefallen. Die Entwicklung und die Präferenzen der Studenten von heute sind das Ergebnis der falschen Bildungsanstrengungen von gestern. Woher sollen die Studenten die Faszination der Marktwirtschaft und des darin agierenden Unternehmers kennen, wenn in Erdkundebüchern lieber über „Fair Trade“ zur Armutsbekämpfung anstatt über Freihandel und seine wohlstandsfördernde Wirkung zu lesen ist. Dieser moderne Ablasshandel, der moralisierend jedem Käufer ein schlechtes Gewissen einredet, ist inzwischen in die obersten Etagen der Politik vorgedrungen. Wenn selbst der amtierende Wirtschaftsminister sich zum Beispiel für weniger Freihandel ausspricht, nichts Anderes ist seine Ablehnung von TTIP, dann ist er selbst das fleischgewordene Produkt des Bildungsversagens der 1970er Jahre. Er hat das verinnerlicht, was er damals im Erdkundeunterricht eingebläut bekam, dass die Wirtschaft ein Nullsummenspiel sei. So wie es ein Schulbuch für Gesellschaftslehre, Geschichte und Erdkunde an Haupt- und Gesamtschulen (Terra Band 9/10), wahrscheinlich auch schon zu seiner Schulzeit formuliert hat: „Dem Zuviel an Nahrungsmitteln in den Industriestaaten steht ein Mangel in vielen Entwicklungsländern, vor allem in Afrika, gegenüber.“ Ergo, man muss es nur besser verteilen.

Sigmar Gabriel werden wir wohl nicht mehr bekehren können, da bleibt Hopfen und Malz verloren. Doch die Schüler von heute, könnten die Unternehmer von morgen sein. Sie könnten ein neuer Werner Siemens, ein Robert Bosch oder ein Ferdinand Porsche sein. Es ist schon etwas her, aber es gab auch Zeiten in diesem Land, wo Unternehmerpersönlichkeiten mit ihren Ideen Unternehmen mit Weltgeltung geschaffen haben. Es ist nicht selbstverständlich, dass diese Unternehmer heute aus Amerika kommen und Bill Gates, Marc Zuckerberg oder Elon Musk heißen.

Es sind lange Entwicklungsströme, die eine Gesellschaft zum Guten oder Schlechten verändern und es sind wenige, die diesen Prozess beeinflussen. In erster Linie hat dies natürlich mit dem Elternhaus zu tun, aber auch mit einer frühen schulischen Prägung. Wie wahrscheinlich ist es, wenn der größte Teil der heutigen Studenten den öffentlichen Dienst präferiert, dass diese dann als spätere Lehrer, Pädagogen oder Erzieher ihren Anvertrauten die Vorzüge der internationalen Arbeitsteilung, das Bild eines erfolgreichen Unternehmers oder des mündigen Konsumenten vermitteln? Wahrscheinlich werden sie eher die Unternehmer als vermeintliche Ausbeuter und Steuerhinterzieher darstellen und den einzelnen Bürger als willenlosen Konsumenten, der von Werbung und Verlockungen so vernebelt ist, dass er ohne staatliche Hilfe im Dschungel der Marktwirtschaft nicht mehr zurechtkommt.

Die Darstellung von Marktwirtschaft und Unternehmertum in Schulbüchern ist daher eine fundamentale Aufgabe, die nicht unterschätzt werden darf. Es gibt so eindrucksvolle Texte und Beispiel dafür, wie es gehen könnte. Einer dieser Texte ist der bereits 1958 von Leonard Read verfasste „Ich, der Bleistift“. Darin wird anhand der Produktion eines Bleistiftes anschaulich gezeigt, dass niemand das umfassende Wissen haben kann, wie ein Bleistift hergestellt wird. Dafür braucht es das Wissen ganz vieler. Die einen kennen sich mit dem Holz, seiner Be- und Verarbeitung aus. Die anderen kennen sich mit dem Abbau und der Verarbeitung von Graphit aus.

Wiederum andere wissen, wie der Radiergummi und die Metallfassung hergestellt werden und wieder andere haben das Know-how, wie dies alles zu einem Bleistift zusammengefügt wird. In jedem Teilbereich der Herstellung gibt es wieder unzählige Beteiligte, die ihr Wissen zur Verfügung stellen: vom Transportunternehmer über die Buchhalterin bis zum Kaffeebauern. Dies alles kann nur arbeitsteilig erfolgen, indem sich einzelne Unternehmer spezialisieren. Es kann umgekehrt nicht zentral geplant werden, weil keine Zentralbehörde das umfassende Wissen haben kann, wie ein Bleistift hergestellt, in welchen Mengen, an welchem Ort und zu welchem Preis er zur Verfügung stehen soll. Gerade hat das Berliner Prometheus-Institut dazu das Planspiel „Unsere Wirtschaft – Verständlich erklärt an einem Tag“ herausgebracht, das jungen Menschen dies spielerisch nahe bringt.

Wenn es die Beamten in den Kultusbürokratien nicht hinbekommen, müssen wir es eben selbst tun. Ganz im Sinne von Wilhelm von Humboldt: „Gleichförmige Ursachen haben gleichförmige Wirkungen: je mehr also der Staat mitwirkt, desto ähnlicher ist nicht bloß alles Wirkende, sondern auch alles Gewirkte.“

Erstmals veröffentlicht bei Tichys Einblick.