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Photo: Robyn Edge from Flickr (CC BY 2.0)

Von Maximilian Wirth, Ökonom, arbeitet in Washington D.C. im Bereich Handelspolitik und internationale Entwicklung.

Die Schlagzeilen im letzten Jahr waren schockierend: Terror von Berlin bis Bangkok, der Syrienkrieg, Flüchtlinge, die im Mittelmeer ertrinken, und die weiterhin ungelöste Eurokrise. Die zunehmende gesellschaftliche Polarisierung und erstarkende Populisten auf der ganzen Welt kommen somit wenig überraschend. Viele waren dementsprechend froh, 2016 endlich hinter sich zu lassen. Und dennoch: 2016 war das beste Jahr in der Menschheitsgeschichte.

Wir sind reicher als jemals zuvor. Einkommen steigen und Waren werden zunehmend erschwinglich. Anfang des 19. Jahrhunderts musste der durchschnittliche Arbeiter noch 6 Stunden arbeiten, um das Sesamöl zu kaufen, welches er für eine Stunde Leselicht benötigte. Die Kerosinlampe senkte diese Kosten bis 1880 auf 15 Minuten Arbeit pro Stunde Licht. Heute wird weniger als eine halbe Sekunde Arbeitszeit benötigt, um eine Stunde zu lesen.

Armut sinkt auf der ganzen Welt. Der Anteil der Weltbevölkerung, die von weniger als 1,90 US$ pro Tag leben muss, ist seit 1980 von 40 auf 10 Prozent gesunken. Das Ende der absoluten Armut ist somit kein Traum mehr, sondern könnte noch zu unseren Lebzeiten Wirklichkeit werden.

Dieser Fortschritt wird möglich durch Innovation: Leute erzielen höhere Einkommen, weil Maschinen ihre Arbeit unterstützen und somit die Produktivität steigern. Wir leben länger und gesünder, weil Krankheiten, die in der Vergangenheit den sicheren Tod bedeutet hätten, heute durch Impfung verhindert oder einfach geheilt werden können. Milliarden Menschen, die einmal am Rande des Verhungerns gelebt haben, konnten sich selbst aus der Armut befreien, als vor allem asiatische Länder Teil der globalen Wirtschaft wurden.

Menschen haben die beeindruckende Fähigkeit, ihr Leben durch Innovationen zu verbessern und 2016 war da keine Ausnahme. Die Verbesserungen von Prothesen durch den Gebrauch von 3D-Druckern hätte man vor wenigen Jahren noch als Science Fiction bezeichnet. Inzwischen werden diese zunehmend zum Massenprodukt. Selbstfahrende Autos könnten unsere Gesellschaft so tiefgreifend verändern wie das Fahrzeug selbst vor hundert Jahren. Von künstlicher Intelligenz über die Sharing Economy bis zu Nano-Sensoren: die Liste der technologischen Verbesserungen letztes Jahr war so lang wie begeisternd.

Technischer Fortschritt und steigende Lebensstandards sollten allerdings nicht als selbstverständlich angesehen werden. Beides entsteht nur in einer Gesellschaft mit freiem Handel und gesicherten Eigentumsrechten. Eigentumsrechte erlauben dem Erfinder, einen Teil der Gewinne zu behalten, was ihn antreibt, ständig nach Verbesserungen zu streben. Profit und Verlust sind nötig, damit er weiß ob seine Eingebungen tatsächlich so genial sind wie er dachte. Nur wenn wir mit weit mehr Leuten als unseren direkten Nachbarn handeln können, haben wir die Möglichkeit, von den Ideen von Milliarden von Menschen anstatt nur einer Handvoll zu profitieren. Nur wenn Waren und Dienstleistungen Grenzen überqueren dürfen, können Soldaten zu Hause bleiben.

Freihandel und Kapitalismus haben unsere Welt zu einem besseren Ort gemacht. Aber sie ist weiterhin alles andere als perfekt. Bei aller Freude über die Verbesserungen sollte man die weiterhin bestehenden Probleme nicht aus den Augen verlieren. Ganze demographische Gruppen haben das Gefühl, in einer Gesellschaft zu leben, in der jeder außer ihnen seinen Lebensstandard erhöht. Vor allem wenn der Eindruck entsteht, dass einem Migranten den Job wegnehmen, oder dass der Arbeitslatz ins Ausland ausgelagert wurde, wirkt Globalisierung, der Motor unserer Wirtschaft, dann schnell wie eine Attacke auf Identität und Wohlstand. Besonders ältere Generationen wollen zudem ihre Kultur bewahren in einer Welt, die einem Wandel unterworfen ist, den sie so nie gewollt geschweige denn gewählt haben. Fast jeder ist besorgt wegen der Aggressionen innerhalb der Staaten und zwischen ihnen.  Und so steigt der Unmut über das politische „Establishment“ und die „Eliten“ aus Wirtschaft und Medien, welche unfähig scheinen, die Probleme zu adressieren.

Lösungen dafür werden dringend benötigt. Nur sollten wir uns bei der Suche danach immer die Prinzipien vor Augen halten,die unsere Gesellschaft groß gemacht haben.  Problemlösung darf nicht zur Panikmache verkommen. Globale Herausforderungen erfordern mehr internationale Kooperation, nicht weniger. Mit sinkender globaler Nachfrage sollte Handel, nicht Protektionismus auf der politischen Agenda stehen. Die Welt ist kein Nullsummenspiel. Wir können alle davon profitieren, enger zusammenzuarbeiten anstatt uns zu isolieren. Nur dann können diejenigen, die im Wandel zurückbleiben, angemessen unterstützt werden. Nur dann ist eine friedvolle Koexistenz mit unseren Mitmenschen auf Dauer möglich. Wenn diese Prinzipien bedacht werden, dann kann auch 2017 das beste Jahr in der Menschheitsgeschichte werden.

Photo: Andrea Puggioni from Flickr (CC BY 2.0)

Warum entwickeln sich einzelne Regionen oder Staaten ökonomisch und politisch stabiler und damit erfolgreicher als andere? Diese Frage ist für entwickelte Demokratien und Volkswirtschaften von großer Bedeutung, aber natürlich auch für Entwicklungs- und Schwellenländer. Der peruanische Ökonom Hernando de Soto sieht die Voraussetzung für eine dauerhafte stabile wirtschaftliche Entwicklung im institutionellen Schutz des privaten Eigentums. Nur wenn rechtssicher Eigentum erworben und übertragen werden kann, wird langfristig investiert und Vertrauen in einer Volkswirtschaft erzielt. Gerade das ist in vielen Entwicklungs- und Schwellenländern das Problem. Dort ist das private Eigentum Einzelner vielfach durch staatliche und private Willkür bedroht. Unternehmer können hier meist nicht langfristig planen oder ihr Eigentum über Generationen weiterreichen. Es sei denn, sie sind Teil der Nomenklatura. Die meisten dieser Länder kennen kein Grundbuch oder Kataster, in dem Grundstücke und Flächen klar abgegrenzt und die Eigentumsverhältnisse für alle sichtbar gemacht werden. Mangelnde Rechtssicherheit kommt dazu. Wer sein Eigentum nicht vor Gericht einklagen kann, ist ebenfalls der Willkür ausgesetzt.

Das ist nicht nur ein Problem in Afrika und Lateinamerika, sondern auch in Europa. Griechenland hat bis heute kein Grundbuch, obwohl inzwischen von EU-Seite mehrere hundert Millionen Euro in den Aufbau investiert wurden. Tatsächlich mangelt es dort an der Mitwirkung der Bevölkerung. Viele Bürger sehen den Aufbau eines Grundbuches mit Sorge. Sie befürchten, dass sie die Eigentumsverhältnisse gegenüber dem Staat nicht ausreichend nachweisen können und ihnen daher anschließend eine Enteignung droht.

Der Schutz des privaten Eigentums und ein Rechtsstaat, der allgemeine, abstrakte und für alle gleiche Regeln aufstellt, sind sicherlich die wichtigsten Voraussetzungen für dauerhaften Wohlstand. Aber nicht nur. Eine langfristig stabile wirtschaftliche Entwicklung setzt auch stabile politische Verhältnisse voraus. Wenn sich Politik bei jeder Wahl fundamental verändern kann, sodass anschließend das genaue Gegenteil dessen gemacht wird, was vorher politisch in Regierung und Parlament umgesetzt wurde, dann fehlt Bürgern und Unternehmen Planungssicherheit, die über Legislaturperioden hinausgeht. Unser politisches System, das zwar nicht ausreichend, aber dennoch politische Macht verteilt, lässt diese Fundamentalveränderungen glücklicherweise nicht zu. Das ist gut so. Wer die Regierung in Deutschland bildet, muss meist auf andere Mehrheiten im Bundesrat Rücksicht nehmen. Der Föderalismus hierzulande ist eine Begrenzung von politischer Macht und könnte ein Entdeckungsverfahren für bessere Politik sein, wenn er mehr auf Wettbewerb ausgelegt wäre. Leider nivelliert unser Föderalismus die Unterschiede, statt sie zu fördern.

Doch warum soll nur in der Wirtschaft der Wettbewerb zu besseren Ergebnissen für alle führen und nicht auch beim Staat? Mehr Wettbewerb in der Steuer- und Finanzpolitik, in der Schul- und Hochschulpolitik oder bei der Infrastruktur wäre eigentlich notwendig, um auch Deutschland fit für die Zukunft zu machen. Der Wettbewerb der Ideen findet unter Vielen viel besser statt, als wenn nur einer sich überlegt, wie es besser gehen könnte. Stattdessen gehen wir leider den anderen Weg. Die Länder beseitigen über den kommunalen Finanzausgleich den Erfolg der leistungsstarken Kommunen gegenüber den rückständigen. Der Bund zieht immer mehr Aufgaben zentral an sich, in der Bildungspolitik, in der Sozialhilfe und im Steuerrecht. Und die EU will immer stärker die unterschiedliche wirtschaftliche Entwicklung in der EU durch Umverteilung und staatliche Investitionsprogramme beseitigen. Auf allen diesen Ebenen werden die Vorteile unseres institutionellen Rahmens schleichend beseitigt. Damit werden die Vorteile „des Westens“, der historisch aus dem Konflikt der Kirche mit dem Staat entstanden ist und zum Individualismus und zur Machtverteilung geführt hat, unnötig aufgegeben.

Der Philosoph Sir Karl Popper hat die Vorteile einmal so formuliert: „Die Einigung des Westens auf eine Idee, auf einen Glauben, auf eine Religion, wäre das Ende des Westens, unsere Kapitulation, unsere bedingungslose Unterwerfung unter die totalitäre Idee.“

Erstmals erschienen in der Fuldaer Zeitung am 31. Dezember 2016.

Photo: Bruce Guenter from Flickr (CC BY 2.0)

Freihandel hat im Augenblick keinen besonders guten Ruf. Weder bei Demonstranten in deutschen Großstädten noch bei Wählern in den alten Industrieregionen der USA. Höchste Zeit, mit einem kleinen Ausflug in die Geschichte daran zu erinnern, was der Freihandel bringt: Frieden und Wohlstand für alle.

Das Elend der Armen im Großbritannien des 19. Jahrhunderts

In diesen Tagen begegnet uns immer wieder die Weihnachtsgeschichte von Charles Dickens – vielfach verfilmt (besonders anrührend in der Version mit den Muppets). Die Geschichte erinnert uns daran, wie wichtig es ist, dass wir auch auf unseren Nächsten schauen. Sie legt den Finger in die Wunde der Indifferenz, des Egoismus und der Gier. Charles Dickens ist der Chronist der Armen und Notleidenden im Großbritannien des 19. Jahrhunderts schlechthin. Keiner konnte so anschaulich und einfühlsam die Nöte der Armen schildern wie er – ganz besonders der Kinder.

Doch wo lag die Verantwortung für dieses Elend? Waren es die kapitalistischen Ausbeuter, die Miethaie, erbarmungslosen Geldverleiher und all die anderen Schurken, deren Gier und Boshaftigkeit Dickens so eindrücklich geschildert hat? Ja. Aber nicht nur. Natürlich gab und gibt es unter den Besitzenden und Reichen viele rücksichtslose Menschen. Aber ebenso gibt es unter ihnen verantwortungsvolle, fürsorgliche und hilfsbereite Menschen, die ihren Nächsten im Blick behalten. Eine Menschengruppe pauschal zur Verantwortung zu ziehen, ist immer eine sehr schlechte Idee.

Der ungeschriebene Roman von Charles Dickens

Es gibt eine Geschichte, die Charles Dickens hätte schreiben können. Schade, dass er das nie getan hat, denn er hätte seine Sprachgewalt und sein Talent damit durchaus in den Dienst einer sehr guten Sache stellen könne. Es wäre eine Erzählung gewesen, in der, wie in so vielen seiner Geschichten, ein Unternehmer eine große Rolle spielt. In der es um Arme und Notleidende geht und um die Gier der Reichen und ihre Besitzstandswahrung. In der es um ein paar sehr sympathische Helden geht und um die sonderbaren Verstrickungen, die zu ihrem Erfolg führen. Es ist die Geschichte der Freihandelsbewegung.

Die Globalisierung war schon seit Beginn der Neuzeit für manch einen bedrohlich. Mit dem rasant wachsenden Handel in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wuchs diese Bedrohung. Eine Gruppe, die das Gefühl hatten, dass ihnen die Felle wegschwimmen, waren die englischen Großgrundbesitzer. Diese kleine und enorm wohlhabende Gruppe von überwiegend Adligen hatte mit sinkenden Getreidepreisen zu kämpfen, weil dank des technischen Fortschritts nunmehr günstigeres Getreide aus Deutschland oder den Ländern Osteuropas importiert werden konnte. Sie nutzten ihren leichten Zugang zur Macht, um sich für höhere Zölle auf Getreide-Importe (die sogenannten Corn Laws) stark zu machen – mit Erfolg. Selbst in Zeiten schwerer Hungersnöte waren die Menschen im Land gezwungen, das überteuerte einheimische Getreide zu kaufen.

Zwei reale Helden

Auftritt unseres Helden: Richard Cobden wird 1804 als viertes von elf Kindern eines armen Bauern im äußersten Süden Englands geboren. Mit 15 Jahren geht er nach London, um im Warenhaus seines Onkels zu arbeiten. Der sieht den Bildungshunger seines Neffen mit einer Mischung aus Unverständnis und Missfallen. – Dickens hätte sich die Szenerie nicht besser ausdenken können. – Der junge Richard arbeitet sich nach oben: mit 24 gründet er seine erste eigene Firma. Doch auch wenn die Geschäfte gut laufen, kann unser Held die Finger nicht von den großen Fragen seiner Zeit lassen. Er ist einfach ein klassischer Weltverbesserer, ein Gutmensch.

1835 veröffentlicht er sein erstes Buch: „England, Ireland, and America“. Es ist ein flammendes Plädoyer für die Begrenzung öffentlicher Ausgaben, Freihandel und Pazifismus. Darüber hinaus macht er sich stark für ein besseres Bildungswesen – schließlich hatte er selbst die Erfahrung gemacht, wie wichtig Bildung ist. Nun braucht aber auch jeder Held einen Freund, der ihm zur Seite steht: Sherlock Holmes seinen Watson, Winnetou seinen Old Shatterhand und Frodo seinen Sam. Dieser Freund ist der sieben Jahre jüngere John Bright, den Cobden in dieser Zeit in der Nähe von Manchester trifft. Die beiden teilen dieselben Ideale, für die sie ihr Leben lang eintreten sollten – in guten wie in bösen Tagen: Freiheit, Frieden und Wohlstand für alle.

Eine Graswurzelbewegung für den Freihandel

In der Schutzpolitik für Großgrundbesitzer sehen sie eine Maßnahme, die diesen Idealen diametral entgegenstand. Darum gründen sie im Jahr 1838 die Anti-Corn Law League – eine der frühesten Graswurzelbewegungen der Geschichte. Während Cobden der strategische Kopf der Bewegung ist, wird der sehr begnadete Redner Bright das Aushängeschild. Sie haben gelernt von den Männern und Frauen um William Wilberforce, die einige Jahrzehnte zuvor erfolgreich die Sklavenbefreiung durchgesetzt hatten. Sie verteilen über neun Millionen Pamphlete, um ihr Anliegen zu erklären, führen im ganzen Land Versammlungen und Demonstrationen durch und können Millionen von Unterschriften für ihre Petitionen sammeln. Die Basis ihrer Bewegung sind die Arbeiter und Armen, von deren Nöten uns Charles Dickens so eindrucksvoll berichtet.

Nachdem die Anti-Corn Law League 1846 an ihr Ziel gekommen ist und die Zölle beseitigt wurden, folgen in den nächsten Jahrzehnten viele weitere Maßnahmen zugunsten des Freihandels, die zu einem erheblichen Wirtschaftsausschwung führen – und damit eben auch zu einer substantiellen Verbesserung der Lage einfacher Arbeiter. Cobden ist später der Chef-Unterhändler für den britisch-französischen Freihandelsvertrag im Jahr 1860. Dieser Vertrag ist der Startschuss für ein Freihandelssystem in Europa, das in seinen Grundzügen bis 1914 Bestand hat.

Unerschrockene Pazifisten

Doch mit dem Erfolg von 1846 ist die Geschichte unseres Helden noch nicht zu Ende. Es liegen noch heftigere Herausforderungen vor ihm. Dass ihn eine Zeit lang nicht nur große Teile der britischen Bevölkerung, sondern auch Menschen in ganz Europa begeistert feiern, ist nicht von langer Dauer. Cobden und sein Freund Bright haben nämlich ein Anliegen, das ihnen vielleicht noch wichtiger ist als der Freihandel: sie sind radikale Pazifisten und Anti-Imperialisten. Der Zeitgeist ist hier freilich nicht auf ihrer Seite.

Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts ist vielmehr geprägt von einem rasanten Aufstieg von Nationalismus und Militarismus. Kolonien und Eroberungen werden sowohl aus Prestigegründen begrüßt als auch, weil man glaubt, davon als Land wirtschaftlich zu profitieren. Überall wittert man Feinde und man sieht sich inmitten eines globalen Machtkampfes. Der Krimkrieg (1853-1856) und der Zweite Opiumkrieg (1856-1860) versetzen Großbritannien in Kriegsbegeisterung und beim Amerikanischen Bürgerkrieg finden sich die meisten auf Seiten der Südstaaten wieder.

Weltverbesserer, die tatsächlich die Welt verbessern

In diese Stimmung platzen unsere Helden mit ihren Forderungen nach Abrüstung, Diplomatie, konsequenter militärischer Zurückhaltung und einem Rückzug aus den Kolonien herein. Spielverderber. Nachdem sie wenige Jahre zuvor von der Bevölkerung begeistert gefeiert wurden, werden sie nun plötzlich Gegenstand des öffentlichen Hasses. Cobden, Bright und ihre Freunde sind allesamt eigentlich keine Politiker. Sie sind eher überzeugte Aktivisten. Für sie stehen ihre Ideale im Vordergrund. Und deshalb halten sie stand und dienen als Mahnung in einer verrückten Zeit, die im 20. Jahrhundert auf einen schrecklichen Höhepunkt zulaufen wird.

Mit ihrem Pazifismus sind sie leider weniger erfolgreich als mit ihrem Kampf um den Freihandel. Mit diesem freilich haben sie einen wesentlichen Anteil daran, dass Millionen von Menschen – zunächst in Großbritannien, aber dann auch in ganz Europa – den Weg aus der Armut finden. Sie haben dafür gesorgt, dass nicht nur eine kleine Elite von den Segnungen des Fortschritts, der Technik und der Globalisierung profitieren, sondern alle. Sie haben den Mächtigen und Reichen wesentliche Instrumente der Unterdrückung aus der Hand geschlagen. Und sie haben den Armen einen Weg eröffnet zu einem besseren Leben. Ihr Einsatz für Freihandel und Frieden ist immer auch ein Einsatz für andere. Sie sind Weltverbesserer, die tatsächlich die Welt verbessern. Wenn das mal nicht eine großartige Erzählung geworden wäre, wenn sich Dickens nur daran gemacht hätte …

„Ich habe einen Traum“

Gerade in Zeiten wie den unseren, wo eine unheilige Allianz aus Politikern auf der Rechten wie Donald Trump und fanatischen Aktivisten auf der Linken wie Campact und Attac zum Generalangriff auf Freihandel und Globalisierung ruft, sollte man sich wieder die wunderbaren Worte in Erinnerung rufen, die Richard Cobden im Jahr 1846 fand, und mit denen er ein Vorläufer jener berühmten „Ich habe einen Traum“-Rede Martin Luther Kings wurde:

Ich richte meinen Blick weiter. Ich sehe, dass das Freihandelsprinzip die moralische Welt bestimmen wird wie das Gravitationsprinzip unser Universum: indem es Menschen einander nahebringt; indem es den Gegensatz der Rassen, Bekenntnisse und Sprachen beseitigt; indem es uns in ewigem Frieden aneinander bindet. Und ich habe noch weiter geschaut. Ich habe spekuliert, ja wohl geträumt, von einer fernen Zukunft, vielleicht in tausend Jahren.

Ich habe darüber spekuliert, was das Ergebnis davon sein mag, dass dieses Prinzip obsiegt. Ich glaube, dass es das Antlitz der Erde verändern wird, indem es ein Prinzip des Regierens hervorbringen wird, das sich vollständig vom derzeitigen unterscheidet. Ich glaube, dass das Streben nach großen und mächtigen Reichen absterben wird; das Streben nach gigantischen Heeren und bedeutenden Flotten; nach den Mitteln, die benutzt werden, um das Leben zu zerstören, und um die Früchte der Arbeit zu verwüsten. Ich glaube, dass all das nicht mehr nötig sein wird und auch nicht mehr angewandt wird, wenn die Menschheit erst eine Familie geworden ist und Mensch mit Mensch aus freien Stücken die Früchte seiner Arbeit brüderlich austauscht.

Erstmals erschienen auf dem Ökonomen Blog.

Photo: DIE LINKE. Landesverband Baden-Württemberg from flickr.com (CC BY-ND 2.0)

Seit einiger Zeit treffen Wähler unerwartete, unkonventionelle und für manch einen unbequeme Entscheidungen. Politiker und Journalisten analysieren eine Vertrauenskrise des Establishments. Ist eine Ursache dieser Vertrauenskrise womöglich das mangelnde Vertrauen der Politiker in ihre Bürger?

Leben wir in einer Diktatur?

Die Politik ist in Verschiss – selbst bei den Bürgern, die nicht sofort mit Vorwürfen wie Lüge oder Betrug operieren. Die Einschätzung, dass sich der Abstand zwischen Politikern und Normalbürgern immer mehr vergrößert, wird inzwischen von vielen dieser Politiker selbst geteilt und kommuniziert (in der Regel mit der Floskel, man müsse Politik nun besser erklären). Das aufkommende Misstrauen hat allerdings auch relativ wenig mit der gesunden Politik- und Staatsskepsis zu tun, die aufgeklärten Bürgern gut zu Gesichte steht. Es ist oft an der Grenze zum pauschalen Hass auf „die da oben“. Der zivilisierte Diskurs, der eine freiheitliche Demokratie und eine Offene Gesellschaft ausmacht, gerät dadurch zunehmend in die Defensive. Doch liegt das an der Verrohung der Bevölkerung? Oder spielt vielleicht die Politik eine wesentlich größere Rolle als die Rede vom „Wutbürger“ vermuten ließe?

In der Staatsform der Demokratie, wo der Bürger der Souverän ist, ist es von zentraler Bedeutung, dass Politiker den Bürgern – ihren Wählern! – vertrauen. Schwindet dieses Vertrauen, besteht nicht nur die Gefahr, dass die Bürger ihrerseits das Vertrauen entziehen. Es wird letztlich auch an den Grundfesten unseres Gemeinwesens gerüttelt – ist es doch Kennzeichen despotischer und autoritärer Herrschaft, dass ein Herrscher den Untertanen misstraut. Natürlich ist keine der westlichen Demokratien eine Tyrannei oder Diktatur. Mit Blick auf Länder wie Nordkorea, Syrien oder Venezuela sind solche Vergleiche mehr als zynisch. Doch mangelndes Vertrauen der politischen Verantwortlichen in die Bürger löst bei manchem jenes Gefühl der Hilflosigkeit und des Ausgeliefertseins aus, das auch der Untertan eines Gewaltherrschers empfindet. Drei Aspekte stehen exemplarisch für diesen Vertrauensverlust: die Terrorbekämpfung, die Eurokrise und der neue Paternalismus.

„Ein Teil dieser Antworten würde die Bevölkerung verunsichern.“

Deutschland ist erfreulicherweise eines der Länder, in dem Bürger am sensibelsten auf staatliche Überwachung reagieren, und in dem ein sehr waches Gespür für Fragen des Datenschutzes herrscht. Regierungen anderer Länder, wie etwa der USA oder Großbritanniens, sind da weniger zimperlich. Für die einen mögen Email- und Telefonüberwachung, unzählige Überwachungskameras und komplizierte Einreise-Formalitäten das Gefühl von Sicherheit hervorrufen. Viele aber fühlen sich als unbescholtene Bürger schikaniert und mitunter auch bedroht durch einen wachsenden Überwachungsstaat. Im Zweifel ist es, wie bei der NSA-Affäre, ja nicht einmal der eigene Staat, der das Privateste der Menschen durchschnüffelt. Wer liest unsere Daten? Wozu werden sie genutzt? Ist Terrorbekämpfung der einzige Grund für die Sammelwut?

Als 2010 die Eurokrise ausbrach, stand vor allem Beschwichtigung auf der Tagesordnung. Es bedurfte eines medialen Schwergewichts wie Hans-Werner Sinn, um die Risiken der Target-Salden aufzudecken. Haftungsmechanismen wurden verschleiert. Selbst viele Bundestagsabgeordnete waren ahnungslos, wieviel Geld wieder einmal für eine Rettung krisenbedrohter Staatshaushalte in der EU aufgewandt werden mussten. Und die Politik der EZB ist nicht nur für Laien kaum mehr nachvollziehbar. Während die verantwortlichen Politiker beschwichtigend behaupteten, sie hätten alles im Griff, wuchs unter den Bürgern das mulmige Gefühl, dass ihnen eine realistische Perspektive vorenthalten werde. Viele hatten damals schon den Eindruck, den Innenminister de Maizière im November 2015 mit seinem berühmten Diktum hervorrief: „Ein Teil dieser Antworten würde die Bevölkerung verunsichern.“

Eigenverantwortliche Bürger

Ein bereits länger anhaltender Trend des Misstrauens gegenüber der eigenen Bevölkerung findet sich in den mannigfaltigen Ausprägungen des Paternalismus. Immer mehr politische Maßnahmen werden ergriffen, um Bürger zum „verantwortlichen“ Konsum, zur „gesunden“ Ernährung oder zu „richtigen“ Entscheidungen hinzuführen. All diese Initiativen suggerieren, dass Politiker und Bürokraten den einfachen Bürgern an Wissen, Einsicht und eventuell auch moralischer Größe überlegen sind, was sie dazu prädestiniert, diese auf den rechten Weg zu weisen. Man hat nicht mehr das Gefühl, als selbstverantwortliches Individuum ernstgenommen zu werden. Die Botschaft, die durch den wachsenden Paternalismus bei vielen ankommt, lautet: „Wir vertrauen Dir eigentlich nicht …“

Unser freiheitlich-demokratisches Gemeinwesen wird gefährdet durch das mangelnde Vertrauen der Politik in den Bürger. Eine Kehrtwende in der politischen Kultur tut Not. Politiker können ihren Bürgern nicht nur bittere Wahrheiten zutrauen, sie müssen es auch – sie haben eine Rechenschaftspflicht gegenüber ihren Wählern. (In Frankreich erlebten wir vor kurzem bei der Wahl von François Fillon zum Präsidentschaftskandidaten der Republikaner, dass das funktionieren kann.) Unter Umständen gehört dazu auch bisweilen das Eingeständnis, selber nicht genau zu wissen, was die richtige Lösung ist. Alles ist besser, als sich in Nebel zu hüllen, um niemanden zu „verunsichern“. Die staatliche Überwachung muss immer wieder auf den Prüfstand und muss der Prämisse unterworfen sein, dass eine überwältigende Mehrheit der Menschen unbescholtene Bürger oder Gäste sind, deren Privatsphäre zu schützen zu den obersten Pflichten des Staates gehört.

Und schließlich müssen politische Entscheidungsträger wieder mehr Respekt vor den eigenverantwortlichen Entscheidungen ihrer Bürger haben. Ihre eigenen Ansichten darüber, was gut und richtig ist, dürfen nicht der Maßstab für politische Maßnahmen sein. Der Griff zur Zigarette, zum Schokoriegel oder zum Steak ist Teil der Privatsphäre der Menschen und zugleich Ausdruck ihrer eigenen Entscheidungsfähigkeit. Wer ihnen diese abspricht, sägt letztlich am eigenen Ast: denn in einer Demokratie ist diese Entscheidungsfähigkeit der Grund dafür, dass Politiker im Amt sind. Die Politik muss sich das Vertrauen der Bürger verdienen – der beste Weg dorthin besteht darin, wenn die Politik wieder den Bürgern vertraut. Es mag helfen, wenn sich Politiker wieder bewusstmachen, wer der Souverän ist.

Photo: fleetingpix from Flickr (CC BY-SA 2.0)

Die größte gesellschaftliche Herausforderung ist derzeit der wachsende Protektionismus auf der Welt. Darin kommen Abschottungshaltung und Kleingeistigkeit zum Ausdruck. Die Anti-TTIP und Anti-Ceta-Bewegungen zeigen das ebenso wie die Botschaften der Parteien am linken und rechten Rand. Hier wird mit Umwelt-und Verbraucherschutz argumentiert und dort mit der Sicherung von Arbeitsplätzen. Auf beiden Seiten wird mit Angst Politik gemacht. Doch Angst ist meist ein schlechter Ratgeber.

Nicht nur die Freihandelsabkommen mit anderen Wirtschaftsräumen werden zunehmend bekämpft. Auch der Umgang mancher Europäer mit Großbritannien nach der Brexit-Entscheidung war ein Beleg für den wachsenden Protektionismus. Wenn der scheidende EU-Parlamentspräsident Martin Schulz den Briten vor der Brexit-Entscheidung drohte, es gebe in der EU nur alles oder nichts, dann hat er seinen Teil zum Brexit-Votum aktiv beigetragen. Die EU und ihr Binnenmarkt ist für viele Länder aus Afrika und den Schwellenländern wie eine Wagenburg: Nur mit Zöllen und Eintrittsgeldern kommt man mit seinen Waren und Dienstleistungen hinein. Eigentlich müsste die EU ein Vorbild für Freihandel nicht nur im Inneren sein, sondern auch nach außen. Das wäre endlich mal eine positive Botschaft der EU, wo sie zudem einseitig und rasch Handlungsfähigkeit beweisen könnte. Sie müsste – und könnte! – ihre Grenzen einseitig öffnen und so als positives Beispiel wirken, damit andere auf dieser Welt eingeladen werden, gleiches zu tun.

Leider hat die große Idee des Freihandels in Deutschland und Europa keine Lobby. Das war schon einmal so: Vor 180 Jahren herrschte in ganz Europa Protektionismus und Nationalismus. Dem haben sich Leute wie Richard Cobden, Frederic Bastiat, John Prince-Smith und später auch Hermann Schulze-Delitsch und Eugen Richter entgegengestellt. Sie haben eine Graswurzelbewegung in Gang gesetzt, die angefangen in Großbritannien über Frankreich und Deutschland den Freihandel in die ganze Welt getragen haben. Sie waren für Freihandel, weil er gerade den Armen und Benachteiligten half und die Hungersnot der damaligen Zeit bekämpfte. Und sie waren für Freihandel, weil er ein Garant des Friedens ist. Richard Cobden sagte über den Freihandel: „der Freihandel wird unweigerlich, indem er die wechselseitige Abhängigkeit der Länder untereinander sichert, den Regierungen die Macht entreißen, ihre Völker in den Krieg zu stürzen.“ Freihandel ist Friedenspolitik.

Die heutigen Gegner des Freihandels sind bestens vernetzt und stellen bald sogar den US-Präsidenten. Diese Entwicklung muss Freunden der Freiheit Sorge bereiten. Trump hat bereits angekündigt, dass er am ersten Tag seiner Präsidentschaft das Transpazifische Handelsabkommen TTP kündigen wird. TTIP liegt damit ebenfalls erstmal auf Eis. Ob CETA von allen Parlamenten in Europa ratifiziert wird, muss sich erst noch zeigen. Das heißt konkret zum Beispiel: Von links wie von rechts wird bis zum Schluss gekämpft, um schlechtere Abgaswerte für Autos in Europa zu verteidigen.

Mit Trumps Präsidentschaft wird ein Trend gesetzt, dessen Wirkung wir erst in einigen Jahren spüren werden – weltweit gesellen sich immer mehr Politiker dem Abschottungslager bei. Es braucht eigentlich wieder eine Graswurzelbewegung im Cobdenschen Sinne, die gegen diesen Trend ankämpft. Der Freihandel braucht eine Lobby, eine Stimme, die klar und unverwechselbar für die Marktwirtschaft und den friedlichen Austausch von Waren und Dienstleistungen streitet. Wo ist diese Lobby? Außer einigen Anzeigen in den Gazetten ist Funkstille im Land des Exportweltmeisters.

Selbst die Kritiker dieser Freihandelsabkommen, die aus der marktwirtschaftlichen Ecke kommen, müssten doch erkennen, dass die Alternative nicht heißen wird: ein Freihandelsabkommen auf einer Seite Papier oder TTIP beziehungsweise CETA auf vielen tausend Seiten. Nein, die Alternative wird heißen: entweder TTIP oder CETA auf der einen Seite oder Zölle, Markteintrittsbarrieren und Abschottung auf der anderen Seite. Die Alternative heißt: ein Zugewinn an Freiheit oder neue Mauern, Zäune und Wirtschaftskriege.