Weltgeschichtliche Ereignisse wie zuletzt der Fall der Mauer oder die Attentate vom 11. September haben oft ganze Generationen geprägt. Wer heute 15 oder 20 ist, wird sein Weltbild womöglich wesentlich durch den Krieg gegen die Ukraine geprägt sehen. Wagen wir einen Blick in die Zukunft des Jahres 2037: Wie schauen die Dreißigjährigen zurück?
Sofie: „Die Leute, die in Politik, Wirtschaft und Medien Verantwortung getragen haben in den ersten zwanzig Jahren des Jahrhunderts, waren doch geprägt von den großen Errungenschaften der Vergangenheitsbewältigung. Aber wenn ich jetzt zurückblicke auf die Zeit, stellt sich mir fast dieselbe Frage: Warum habt Ihr nichts getan, als Russland unter Putin Menschen abgeschlachtet hat? In Tschetschenien, in Georgien, bei der Krim-Annexion und dem Krieg in der Ostukraine, in Syrien … Warum habt Ihr das alles ignoriert, während Ihr die deutsche Verantwortung und das ‚Nie wieder!‘ wie eine Monstranz vor Euch hergetragen habt? So richtig konnte mir das kaum einer beantworten. Und das finde ich schon erschreckend. Ich habe bisweilen das Gefühl, dass es noch nicht mal fehlgeleiteter Pazifismus war, der mehrheitlich zur Verblendung beigetragen hat; sondern dass da vor allem ein unglaubliches Ausmaß an Gleichgültigkeit reingespielt hat.“
Leon: „Ich glaube, erst durch den Ukrainekrieg ist uns in Deutschland und Europa überhaupt klargeworden, was sich in China aufgebaut hatte. Gerade für uns in Deutschland war das schon eine harte Pille zu schlucken, dass diese vermeintlich unerschöpfliche Goldgrube mittel- bis langfristig eine gigantische Bedrohung ist. Als Präsident Trump gegen China die ersten Geschütze aufgefahren hatte, konnte man das noch vom Tisch wischen. Aber jetzt wurde langsam klar: Unter Xi ist China zu einem Putin-Russland auf Steroiden geworden. Dass Imperialismus, Nationalismus und Totalitarismus immer noch Attraktivität ausstrahlen, mussten wir, glaube ich, erst wieder lernen. Und dann mussten wir herausfinden, wie man damit umgeht. Da ist es mit einem ernsten Blick und ein paar mahnenden Worten einfach nicht getan.“
Mia: „Apropos China: Ich wundere mich doch immer wieder, wie unwidersprochen das Schlagwort vom ‚Wandel durch Handel‘ über Jahrzehnte hinweg blieb. Was da unter diesem Motto betrieben wurde, war Industriepolitik im großen Stil. Und die Handelspartner waren nicht Konsumentinnen und Produzentinnen im Mittelstand, die durch den wachsenden Wohlstand und durch den Austausch empowered worden wären. Da wurden einfach nur die Militärbudgets und Oligarchenkonten gefüllt. Und im krassen Kontrast dazu der erbitterte Widerstand gegen echten Freihandel mit anderen freiheitlich-demokratischen Ländern wie den USA, Kanada und Australien. Das war doch echt bizarr. Zum Glück haben wir inzwischen verstanden, wie wichtig es ist, da zu priorisieren. Gerade in Südasien, Afrika und Lateinamerika haben wir doch auch viel Strahlkraft entfaltet, indem wir durch den Abbau von Handelsbeschränkungen den dortigen Produzenten Zugang zu unseren Märkten ermöglicht haben.“
Malik: „Für viele in meiner Generation war 2022 auch ein Schlüsseljahr, weil wir da nochmal konfrontiert wurden mit der Frage, wofür wir uns wie engagieren wollen. Es gab da ja schon die großen Debatten um den Klimawandel. Also: Wie weit schränken wir uns ein? Was tragen wir dazu bei, dass global nicht alles aus den Fugen gerät? Mit der sehr nah rückenden Bedrohung durch eine brutale Diktatur kam da noch eine andere Dimension dazu – vielleicht auch eine neue Ernsthaftigkeit. Fridays for Future hatte doch oft noch den Charakter eines Happenings; das war wie ein Festival mit dem bonus feature, dass man es für eine gute Sache tat. Aber die neuen Klassenkameraden, deren Väter an der Front gefallen waren, haben uns etwas sehr viel Tieferes verstehen lassen: Der Einsatz für eine bessere Welt, also für eine sauberere Umwelt wie für friedlichere und freiere Gesellschaften, erfordert ganz schön viel Einsatz. Da ist es nicht getan mit dem Verzicht auf die Salami beim Frühstück oder einer Unterschrift bei der Greenpeace-Petition. Da muss man Zeit, Energie, Geld und Blut, Schweiß und Tränen investieren. Ich glaube, wir haben damals angefangen, den Wert und den Preis der Freiheit besser zu verstehen. Und das war die Grundlage dafür, dass viele von uns diese Errungenschaften heute nicht mehr nur ‚konsumieren‘, sondern auch ‚produzieren‘.“
Lena: „In der Rückschau bin ich immer wieder überrascht, wie schnell die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts verblasst waren. Eine der zentralen Lehren des Zweiten Weltkriegs wie des Kalten Kriegs war doch, dass die freie Welt zusammenstehen muss. Wenn ich mir dann ansehe, wie man sich zerstritten hatte zum damaligen Zeitpunkt – das ist schon irre. Da gab es mehr böses Blut zwischen der EU und Großbritannien nach dem Brexit als mit China im Blick auf deren hyperprotektionistische Wirtschaftspolitik. Da hat man die Warnungen unserer osteuropäischen Partner vor Russland in den Wind geschlagen, während man sich im eigenen Land die Köpfe eingeschlagen hat über das Thema gendergerechte Sprache. Ich bin froh, dass es uns gelungen ist, da die Prioritäten wieder zurecht zu rücken. Dass der Westen für uns wieder ein positives Identifikationssymbol geworden ist. Dass unser beherztes und begeistertes Eintreten für Rechtsstaat, Pluralismus, Demokratie, Marktwirtschaft, offene Gesellschaft uns auch wieder Anziehungs- und Strahlkraft gegeben hat. Wie unglaublich wichtig das ist, merke ich auch, wenn ich mit meinen Freunden aus Venezuela, Nigeria und Vietnam spreche.“
Elias: „Für mich ist immer noch schier unglaublich, welchen Durchhaltewillen die Ukrainerinnen und Ukrainer gezeigt haben. Wie sie zusammengehalten haben, wie sie sich motiviert haben. Dieser Optimismus und diese Überzeugungsstärke sind für ganz viele in meiner Generation ein riesiges, vielleicht das wichtigste Vorbild geworden. Da haben Leute anschaulich gemacht, wie wichtig ihnen Freiheit ist, und das war wirklich ansteckend. Ich bekomme heute noch Gänsehaut, wenn ich an die Berichte, Interviews und Videos zurückdenke. In einem Bericht über einen der Verteidiger von Mariupol stand: ‚Helden werden in besonderen Zeiten geboren. Dianow will, wie die meisten seiner Mitbürger, so schnell wie möglich wieder in die Normalität zurückkehren. Der 42-Jährige hat friedliche Zukunftspläne. Er möchte Kleinunternehmer werden, sagte er, er träume davon, in seiner Heimatstadt Ternopil eine Kunstschmiede zu eröffnen, einen Bootsverleih und ein Ferienlager am großen See. Und wie früher Bassgitarre in einer Band spielen zu können wäre auch nicht schlecht.‘ Dass man die Sehnsucht nach einem friedlichen, unaufgeregten Leben, das einen selbst und andere ein bisschen glücklicher macht, mit so viel unerschütterlichem Willen verteidigen kann – das ist eine der größten Lehren aus dem Krieg gegen die Ukraine. Das Heroische im Unspektakulären. Der Sieg der Kleinunternehmerinnen, Musiker, Mathelehrerinnen und Sozialarbeiter über den Militär, Nation und Religion beschwörenden Diktator im Kreml. Wie gesagt: Gänsehaut.“