Photo: Sasha Maksymenko from Wikimedia Commons (CC BY 2.0)
Von Iryna Kovalenko, Research Fellow bei Prometheus Februar bis März 2022. Iryna ist in der Ukraine geboren und hat von 2015 bis 2019 in Kyjiw Germanistik und Anglistik studiert. Nach einem Masterstudium an der Viadrina Universität (Frankfurt/Oder) promoviert sie momentan in Frankfurt zu „Schauplätzen der Intervention: Der Euromaidan und die postsozialistischen Protestbewegungen“. Zuletzt erschien von ihr ein Gastbeitrag in der NZZ. Ihre geförderte Master-Arbeit beschäftigt sich mit dem Maidan als kulturellem und politischem Raum.
Die Agora liegt am Ursprung westeuropäischer Kultur. In der Antike war sie ein Platz der Volksversammlung in den Stadtstaaten Griechenlands, ein Zentrum des öffentlichen Lebens und der Ort, an dem sich Bürger versammelten, wenn es zu alarmierenden und gefährliche Situationen für die Gemeinschaft kam. Eine ähnliche Tradition gibt es in der ukrainischen Geschichte – aus der Zeit der Saporogen Sič, der ukrainischen Kosaken: Für die Kosaken erfüllte der Maidan eine ähnliche soziale und politische Funktion wie die Agora. Der Maidan war Ort von Wahlen, Diskussionen und Streitigkeiten, an denen jeder freie Kosak teilnahm. Und er ist er Ort, an dem der Krieg um die Ukraine begann. Nicht am 24. Februar 2022, sondern bereits im November 2014.
Der Maidan war insbesondere im 21. Jahrhundert Mittelpunkt des Protests, wann immer sich die Bürger der Ukraine angegriffen fühlten. Während der Granitrevolution von 1990 grenzten sich die Bürger Kyivs von den sowjetischen Machthabern ab. In der Orangenen Revolution 2004 wurde gegen die Täuschung und Fälschung der Präsidentschaftswahlergebnisse demonstriert. Und 2013 brach sich auf dem Euromaidan ein Protest Bahn, als der damalige ukrainische Präsident Janukowytsch und seine Regierung sich weigerten, das Assoziierungsabkommen zwischen der Ukraine und der Europäischen Union zu unterzeichnen. Statt sich in Richtung Europa und freier Westen zu orientieren, wollten Janukowitsch und seine Regierung wieder Gespräche mit Russland aufnehmen. Der Protest fand am 30. November 2013 seinen Höhepunkt, als Regierungsschergen begannen, auf friedliche Demonstranten einzuprügeln. Von der Zeit der Kosaken über das Ausscheiden aus der Sowjetunion bis zum heutigen Krieg gegen den russischen Aggressor steht der Maidan für den Freiheitskampf des ukrainischen Volkes.
Insbesondere die letztgenannte „Revolution der Würde“ 2013 zeigt die Werte des Maidan auf. Sie zeigt, dass der sogenannte „Russische Frieden“ mit seinen ihm eigenen Attributen keinen Platz hat: Zerstörung der Individualität, Dominanz physischer Gewalt, Aggression gegen das Fremde und Personenkult. Im Gegensatz dazu stehen die Werte, die nach der Invasion Russlands 2022 noch stärker hervorstechen: Leben, Freiheit und Würde. Der ukrainische Intellektuelle Mychailo Wynnyckyj widmet sich in seinem Werk Ukraine’s Maidan, Russia’s War: A Chronicle and Analysis of the Revolution of Dignity ganz besonders diesem Würdebegriff. Es ist dieser Begriff, unter dem man die Entwicklungen auf dem Maidan und darüber hinaus verstehen muss: Würde muss als die Achtung des Individuums durch einen zurückhaltenden Staates verstanden werden, und ist die zentrale Forderung des Maidans. Erst die Würde des Individuums erlaubt den Übergang vom feudalen Banditentum der KGB-Beziehungen des 20. Jahrhunderts zur unabhängigen, demokratischen und freien Ukraine in der Gegenwart.
Seit 2013 verteidigt das ukrainische Volk die Werte der Würde aktiv gegen russische Interessen. Seit der Revolution der Würde brauchen diese Werte Schutz in Form von Barrikaden, Molotow-Cocktails und einer Menge Glück, nicht von der Kugel eines Scharfschützen getroffen zu werden: Der Maidan 2013-2014 war der erste ukrainische Protest des 21. Jahrhunderts, bei dem Demonstranten getötet wurden. Die Auftraggeber und Organisatoren dieser Morde sind offiziell noch unbekannt. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich jedoch, dass der Maidan 2013-2014 der erste Schritt zur Bildung einer unabhängigen Ukraine war, die weder kulturell, moralisch noch politisch zum russisch-sowjetischen Reich gehört. Der Maidan war der erste Sieg der Ukraine im Krieg gegen die gewaltsame Rückorientierung gen Russland.
Ein Sieg, den Russland der Ukraine nicht verzeihen kann: Kurz nach den Protesten auf dem Maidan begann im März 2014 die russische Invasion ukrainischer Länder –die Besetzung der Krim und die getarnten, russischen Militärs in den Gebieten Donetsk und Luhansk. Bis heute vergessen die meisten Kommentatoren, dass Russlands Krieg gegen die Ukraine lange vor dem 24. Februar 2022 begann. Spätestens seit 2014 führt Russland einen Krieg gegen die ukrainische Identität, Unabhängigkeit und Freiheit. Es soll keine Ukraine mehr geben: weder auf den Landkarten noch in der Kunst oder im Bewusstsein der Menschen. Der Ignoranz des Westens gegenüber dem jahrelangen Krieg in der Ukraine darf jetzt keine Ignoranz darüber folgen, wie die Ukraine diesen Krieg gewinnen kann: Nach mehr als acht Jahren Krieg verdient die Ukraine jede Unterstützung, die wir ihr geben können.