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Von Prof. Roland Vaubel, emeritierter Professor für Volkswirtschaftslehre und Politische Ökonomie an der Universität Mannheim

Italien steht vor einem doppelten Problem. Zum einen ist die Wirtschaft nicht mehr wettbewerbsfähig. Zum anderen ist der Staat überschuldet und zahlt am Kapitalmarkt eine hohe Risikoprämie – zeitweise über zwei Prozent. So war es auch 2009 in Griechenland. Die italienische Wirtschaftskrise ist sogar noch schwerer als die griechische damals.

Die Arbeitslosenquote beträgt 10,9 Prozent – in Griechenland waren es 9,6 Prozent. Das Pro-Kopf-Einkommen der Italiener ist heute nicht höher als 1999, während es zum Beispiel in Deutschland um 26 Prozent gestiegen ist. Die Hauptursache dürfte der exorbitante Anstieg der Lohnstückkosten sein: in Italien 2,6 Prozent pro Jahr (der zweithöchste Anstieg in der Eurozone), in Deutschland 1,1 Prozent pro Jahr (der zweitniedrigste). (Der Vergleich bezieht sich auf die in Euro gemessenen Lohnstückkosten in den Jahren 2001 und 2017. Damit wird berücksichtigt, dass die Tariflöhne nur mit Verzögerung auf den Beginn der Währungsunion reagieren konnten.)

Auch die Verschuldung des Staates ist heute in Italien größer als damals in Griechenland. Die Schuldenquote (Staatsschuld/Bruttoinlandsprodukt) belief sich 2017 auf 132 Prozent – in Griechenland betrug sie 2009 “nur” 127 Prozent. Der Umfang der ausstehenden italienischen Staatsanleihen ist größer als der deutsche. Das Haushaltdefizit des italienischen Staates hat das 3 Prozent-Limit des Europäischen Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes neunmal überschritten.

Soll Italien den Weg Griechenlands gehen und eine “interne Abwertung” – die Absenkung aller Löhne, Preise, Renten etc. versuchen? Das Ergebnis war katastrophal: das griechische Bruttoinlandsprodukt ist von 2010 bis 2016 – dem bisherigen Tiefpunkt – real um 23 Prozent gesunken. Zum Vergleich: während der Weltwirtschaftskrise schrumpfte das deutsche Nettosozialprodukt real um 16 Prozent (1928-32). Die griechische Krise war also weit schwerer als die deutsche damals. Auch die deutsche Regierung unter Reichskanzler Heinrich Brüning hatte auf die interne Abwertung gesetzt, anstatt zusammen mit Großbritannien und den skandinavischen Ländern im August 1931 die Währung abzuwerten. Die politischen Konsequenzen sind bekannt.

Die italienische Regierung steht – wie die griechische damals – vor der Frage, ob sie den Euro verlassen, eine neue Währung einführen und diese abwerten soll. Im Frühjahr 2010 war es vor allem Paris, das diese Lösung rigoros ablehnte – wäre sie doch ein Präzedenzfall für weitere Austritte gewesen. Zum Beispiel hätten auch die Deutschen irgendwann auf die Idee kommen können, dem Euro den Rücken zu kehren. Dann wäre der ganze französische Verhandlungscoup von 1989-92, als Mitterand seine Zustimmung zur Wiedervereinigung vom deutschen Verzicht auf die DMark abhängig machte, mit einem Schlag dahin gewesen. Der griechische Ministerpräsident wusste um die französische Interessenlage und verlangte als Preis für den Verbleib in der Währungsunion umfassende Hilfe bei der Bewältigung des anderen griechischen Problems – der Überschuldung. Der gewünsche Bail-out wurde trotz aller rechtlichen und ökonomischen Bedenken auf zweierlei Weise gewährt: die Europäische Zentralbank (EZB) erklärte sich bereit, in großem Umfang griechische Staatsanleihen zu kaufen, und der griechische Staat erhielt über mehrere neu errichtete Fonds subventionierte Kredite, für deren Rückzahlung die Steuerzahler der Eurozone haften. Beide Möglichkeiten des Bail-out sind auch heute für Italien von Interesse.

Italien hat bisher keine Fonds-Kredite erhalten, aber die EZB hat schon in ihrem Securities Markets Programme (SMP) ab 2011 italienische Staatsanleihen mit einem Nennwert von 102,8 Mrd. Euro gekauft. Das war mehr als für jedes andere Land und fast die Hälfte aller ihrer SMP-Käufe. Die Käufe italienischer und spanischer Staatsanleihen veranlassten Jürgen Stark 2011, seinen Rücktritt aus dem Direktorium der EZB zu erklären. In einer dramatischen Nachtsitzung, über die ich in meinem Buch “Das Ende der Euromantik – Neustart jetzt” (2017) im einzelnen berichte, begrüßte der Europäische Rat im Juni 2012 auf Drängen des italienischen Ministerpräsidenten Mario Monti die Zusage des ebenfalls anwesenden Mario Draghi, die Anleihekäufe wieder aufzunehmen – was tatsächlich im August 2012 geschah. Anders als Griechenland, Irland, Portugal und später Zypern brauchte Italien kein Programm mit dem ESM abzuschließen und daher keine wirtschaftspolitischen Auflagen zu akzeptieren.

Auch im Rahmen des sogenannten Quantitative Easing (ab 2015) kauft die EZB italienische Staatsanleihen. Eigentlich war angekündigt worden, dass der Anteil der erworbenen Anleihen dem Anteil des betreffenden Landes am EZB-Kapital entsprechen würde. Tatsächlich ist er, wie Friedrich Heinemann vorgerechnet hat, im Fall Italiens um etwa zehn Prozentpunkte höher.

Ganz abgesehen von den Anleihekäufen trägt die EZB durch ihre Niedrigzinspolitik zur Entschärfung des italienischen Schuldenproblems bei. Die niedrigen Zinsen bewirken eine massive Umverteilung zugunsten der am höchsten verschuldeten Staaten – also vor allem Griechenland und Italien. Ebenfalls im Rahmen des Eurosystems (ESZB) stehen den TARGET-Forderungen der Deutschen Bundesbank von fast einer Billion Euro TARGET-Verbindlichkeiten der Banca d’Italia von etwa 500 Mrd. Euro gegenüber.

Währungsabwertung

Um die Schulden des Staates aus eigener Kraft abbauen zu können, müsste die italienische Wirtschaft wieder wachsen. Aber dazu müsste sie ihre Wettbewerbsfähigkeit wiedergewinnen. Wenn Italien den Weg Griechenlands geht und sich für die interne Abwertung entscheidet, droht ein Einbruch der Wirtschaftstätigkeit um mehr als zwanzig Prozent. Wenn Italien dagegen wieder eine eigene Währung – die Neue Lira – einführt und diese abwertet, kann es mit einem Federstrich wieder wettbewerbsfähig werden. Wenn die Wirtschaft wieder wächst und die Steuereinnahmen sprudeln, kann der Staat auch seine Schulden abbauen. Deshalb trägt die Währungsabwertung zur Lösung beider italienischen Probleme bei. Da die Lohnstückkosten von 2001 bis 2017 in Italien um 50 Prozent, in Deutschland aber nur um 19 Prozent gestiegen sind, würde eine Abwertung um etwa 20 Prozent ausreichen, damit Italien seine alte Wettbewerbsfähigkeit gegenüber Deutschland wiedererlangt (1 – 1,19/1,50 = 0,21).

Aber es gibt Einwände. Der erste betrifft die auf Euro lautenden italienischen Nettoauslandsschulden. Ihr Umfang ist nicht bekannt. Wenn alle Löhne, Preise und sonstigen nach italienischem Recht geschlossenen Verträge auf die Neue Lira umgestellt werden, hat die Währungsabwertung zur Folge, dass die italienischen Löhne und die staatlichen Lohnsteuereinnahmen relativ zu den Euro-Auslandsschulden an Wert verlieren. Das macht es schwieriger, die Auslandsschulden zu bedienen. Der Realwert der auf Euro lautenden italienischen Nettoauslandsschulden ändert sich durch die Abwertung der Neuen Lira jedoch nicht. Die Anpassung der Löhne erhöht die Gewinne und die Investitionen. Nur durch die Abwertung erhält Italien wieder die Möglichkeit kräftig zu wachsen und seinen Schuldendienst zu leisten. Soweit die auf Euro lautenden Auslandsschulden nach italienischem Recht eingegangen wurden, könnten übrigens auch sie auf die Neue Lira umgestellt und abgewertet werden. Dann wäre die Abwertung zugleich ein Schuldenschnitt. Auch Griechenland wurde ja 2011 ein Schuldenschnitt zugestanden.

Gegen eine Währungsabwertung wird zweitens eingewandt, dass es zu einer heftigen, wenn auch schnell vorübergehenden Spekulationskrise käme. Wenn – wie von der Fünf-Sterne-Partei vorgeschlagen – zunächst eine Volksabstimmung über den Euro-Austritt angesetzt würde, wäre dieser Einwand von Gewicht. Aber es geht ja auch anders. Zu Zeiten des Bretton Woods Systems war es nicht üblich, Währungsabwertungen im Voraus anzukündigen. Selbst die Zustimmung des Internationalen Währungsfonds, die eigentlich erforderlich war, wurde nicht immer eingeholt. Die Abwertungsabsicht wurde bis zur letzten Minute geheim gehalten und, wenn notwendig, dementiert. Deshalb bedeuten die derzeitigen Dementis der italienischen Regierungsparteien überhaupt nichts. Was geschieht, wenn Mario Draghi am 31.10.19 abtritt, die Anleihekäufe und die Niedrigzinspolitik der EZB aufhören und Italien seinen Fürsprecher und Beschützer verliert?

Parallelwährung

Wenn Italien die Euro-Beträge auf Neue Lira umstellt, so sind die Euro-Noten und -Münzen der Italiener zwangsläufig davon ausgenommen, denn sie können jederzeit außerhalb Italiens verwendet werden. Sie könnten in Italien als Parallelwährung umlaufen. Für alle neuen Verträge könnte der Euro neben der Neuen Lira als Wertmaßstab und Zahlungsmittel vereinbart werden. Da die Euro-Parallelwährung stabiler als die abgewertete Neue Lira wäre, könnte sie helfen, einer optimalen realen Geldnachfrage näher zu kommen. Die Lösung des Lohnproblems erfordert nicht eine Beschränkung der Währungswahl. Es ist möglich, die Löhne durch die Abwertung der Neuen Lira anzupassen, ohne zukünftige Dispositionen und Transaktionen zu behindern. Die Fehler der Vergangenheit sollten behoben werden, ohne die Zukunft zu belasten. Italien würde seine Währung abwerten, ohne den Euro zu verlassen.

Wenn es weiterhin nicht gelingt, die italienischen Tarifparteien und den italienischen Fiskus zur Räson zu bringen, kann sich die Fehlentwicklung der letzten beiden Jahrzehnte bald wiederholen. Die Währungsabwertung verschafft nur einmalige Abhilfe. Aber dasselbe gilt für die Alternative, die interne Abwertung – insbesondere wenn diese wie in Griechenland von den ausländischen Gläubigern erzwungen wurde. Der entscheidende Unterschied zwischen den beiden Alternativen ist, dass die Währungsabwertung Italien eine wirtschaftliche Katastrophe, wie sie Griechenland erlebt hat, ersparen würde.

Silvio Berlusconi und die Lega Nord haben sich 2017 ebenfalls für eine Parallelwährungslösung ausgesprochen, und die Fünf-Sterne-Partei scheint nicht abgeneigt. Nach diesen italienischen Vorstellungen soll der Staat jedoch nicht Euro-Beträge auf Neue Lira umstellen und abwerten, sondern zusätzlich zum Euro auf Neue Lira lautende Schuldscheine als Zahlungsmittel in Umlauf bringen. Die Neue Lira soll also nicht die Wettbewerbsfähigkeit wiederherstellen, sondern das Schuldenmachen erleichtern – durch monetäre Staatsfinanzierung. Davon ist dringend abzuraten.

Der letzte Einwand, auf den ich eingehen möchte, betrifft die rechtliche Zulässigkeit der von mir empfohlenen Lösung.
Die Umstellung der Euro-Beträge auf Neue Lira widerspricht nicht Art. 128 AEUV. Die Euro-Banknoten können gesetzliches Zahlungsmittel bleiben, nur die EZB ist zu ihrer Ausgabe berechtigt, und die Ausgabe der Euro-Münzen ist ohnehin Sache der teilnehmenden Staaten.
Art. 49 der EZB-Satzung konstatiert die “unwiderrufliche Festlegung der Wechselkurse”. Aber für eine neue Währung wie die Neue Lira ist nie ein Wechselkurs festgelegt worden, kann es also auch keine unwiderrufliche Festlegung des Wechselkurses gegeben haben.
Relevant ist dagegen Art. 3, Abs. 1 AEUV: “Die Union hat ausschließliche Zuständigkeit in folgenden Bereichen: … c) Währungspolitik für die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist”. Danach ist die Einführung und Abwertung der Neuen Lira nur zulässig, wenn sie von der EU gebilligt wird. Aber sie ist erlaubt. Dieser Auffassung sind auch Wolfgang Schäuble und die meisten Finanzminister der Eurozone. Schäuble hat berichtet, dass im Juni 2015, als es um das dritte Griechenland-Paket ging, 14 der 18 Euro-Fnanzminister für eine Währungsabwertung Griechenlands votierten. Wenige Tage später – für Schäuble sicher nicht überraschend – lehnten die Staats- und Regierungschefs seine Scheininitiative ab.

Aber ist die Zustimmung der EU wirklich unerlässlich? Gilt nicht weiterhin der Luxemburger Kompromiss (1966), wonach kein Mitgliedstaat in einer Frage vitalen Interesses überstimmt werden kann? Martin Seidel, Jura-Professor in Bonn, schreibt dazu: “Der freiwillige Austritt aus der Währungsunion, der inzwischen allgemein als ungeschriebenes Recht der EU für zulässig erachtet wird, ist nicht von der Zustimmung der anderen Mitgliedstaaten abhängig. … Ein Mitgliedstaat der Währungszone, dessen wirtschaftliches Leben nur außerhalb der Währungszone möglich ist, hat nach dem Unionsrecht einen Anspruch darauf, dass der Europäische Rat sein Land von dem territorialen Geltungsbereich der Geldpolitik ausnimmt. Er kann verlangen, dass die anderen Mitgliedstaaten ihn bei der Durchsetzung seines Austrittsbegehrens nicht behindern, die erforderlichen Rechtsakte nicht verweigern. Erforderlichenfalls kann er die Währungsunion sogar ohne diese Rechtsakte verlassen und den damit verbundenen Verstoß gegen vorrangiges Unionsrecht als durch die Notsituation legitimiert betrachten” (Die Zukunft der Europäischen Währungsunion: Kommentar, Zentrum für Europäisches Wirtschaftsrecht der Universität Bonn, Band 200, 2013, S. 43, 45f.).
Schließlich: Wie würden die Märkte reagieren, wenn Italien bei der EU einen formellen Antrag auf Genehmigung der Währungsumstellung einreichen und Kommission, Rat und Parlament darüber beraten würden?

Erstmals erschienen Ökonomenstimme.

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