Photo: Musée Fesch from Wikimedia Commons (CC 0)
Von Dr. Benedikt Koehler, Schriftsteller, bis zu seinem Ruhestand im Bankenbereich tätig.
Der zweihundertste Todestag Napoleons am 5. Mai 2021 bietet Anlass, darüber nachzudenken, was aus seinem Anspruch wurde, Europa in einem Imperium zu vereinen. 1804 krönte sich Napoleon Bonaparte zum Kaiser, 1806 löste er das Heilige Römische Reich auf, 1810 heiratete er die Tochter des österreichischen Kaisers, um das alte Reich in sein neues zu integrieren. Er starb 1821, aber seine Träume vom Imperium lebten weiter. In den letzten 200 Jahren hat Europa viele weitere Kaiser kommen und gehen sehen, und erst 1945 wurden die Träume von Imperien in Europa endgültig diskreditiert.
Unabsehbares Leid hätte vermieden werden können, wenn die Europäer die Vorschläge beherzigt hätten, die der dänische Schriftsteller Konrad von Schmidt-Phiseldeck (1770-1832) im Todesjahr Napoleons veröffentlichte. Sein Buch „Der europäische Bund“ liest sich wie eine Blaupause für die Europäische Union.
Schmidt-Phiseldecks vorheriges Buch „Europa und Amerika“ wies darauf hin, dass die Amerikanische Revolution bessere Ergebnisse gezeitigt hatte als die Französische Revolution. Amerika war „mächtig durch die Fülle seiner Freiheiten, dennoch vereint unter einem gemeinsamen Band“, und die amerikanische Gesellschaft hatte ein „mehr materielles Gefühl und ausschließliche Aufmerksamkeit auf den Erwerb von weltlichem Reichtum, was einen unruhigen und unsteten Lebenslauf bewirkt“. Die Amerikaner würden die Vorherrschaft über Europa erlangen, weil „Europa, wenn es in seiner jetzigen Form weiterbesteht, nicht ohne Amerika auskommen kann, während Amerika andererseits keinen Bedarf nach Europa hat“. In Europa verschwendeten Kriege Ressourcen. In Amerika schuf die Expansion Wohlstand.
In dem Buch „Der europäische Bund“ forderte er seine kontinentalen Leser auf, sich ihrer Verehrung für Napoleon zu entledigen und sich an Adam Smith zu orientieren. Das Erbe von zwei Jahrzehnten napoleonischer Kriege war ein Kontinent, der in wachstumsschwachen Volkswirtschaften gefangen war. Folglich sollten die Europäer es so einfach machen, innerhalb Europas Arbeit zu finden, wie es für Amerikaner innerhalb der Vereinigten Staaten war. Mit anderen Worten: Europa sollte ein gemeinsamer Markt werden. Die Werke von Adam Smith boten die richtigen Rezepte: Staatsverschuldung begrenzen, Zölle verbieten und Freizügigkeit ermöglichen. Um all dies zu verwirklichen, war ein institutioneller Rahmen erforderlich. Zu diesen Institutionen gehörten eine europäische Versammlung, ein europäischer Gerichtshof und eine gemeinsame Staatsbürgerschaft. Aber Schmidt-Phiseldecks Ratschläge waren seiner Zeit zu weit voraus, um von den Eliten beachtet zu werden, die eher dem Zauber Napoleons folgten als Adam Smith zuzuhören.
Die postnapoleonische Staatskunst in Europa konzentrierte sich darauf, eine weitere Französische Revolution zu verhindern, und hätte im Idealfall gerne die Uhren zurück in die Welt des ancien régime gedreht. Doch das Zeitalter der Dynastien war vorbei, das Zeitalter der Nationen war gekommen – die Träume vom Imperium lebten jedoch weiter. Frankreich rief 1851 Napoleon III. als Kaiser des Zweiten Reiche aus, Deutschland 1871 Wilhelm I. als Kaiser des Deutschen Reiches, Großbritannien 1876 Königin Victoria als Kaiserin von Indien und Oberhaupt des British Empire. Der Werdegang dieser Reiche ähnelte dem von Napoleon. Sie blühten auf, wurden kriegerisch, bis sie schließlich durch Krieg untergingen: Der Deutsch-Französische Krieg von 1871 beendete das Zweite Reich, der Erste Weltkrieg das Deutsche Reich, der Zweite Weltkrieg das Britische Empire.
Der Zweite Weltkrieg verwandelte die Träume von Imperien in Europa in einen Albtraum. Schmidt-Phiseldecks Vorhersage, dass Imperien in Kriegen endeten, die Siegern und Besiegten gleichermaßen ungeheure Verluste zufügten, war eingetreten. Nach 1945 gaben die Europäer endlich die Vorstellung von einer europäischen „Ordnung“ auf, die an die Grenzen dessen ging, was die einzelnen Nationen ertragen konnten, und 1956 machten die Römischen Verträge den Weg frei für den Aufbau der Europäischen Union. Im Jahr 2021 ist vieles von der Vision Schmidt-Phiseldecks Wirklichkeit geworden: ein gemeinsamer Markt, ein gemeinsamer Gerichtshof und eine gemeinsame Staatsbürgerschaft. Frieden und Wohlstand kamen nach Europa, indem wir von der Amerikanischen statt von der Französischen Revolution lernten, einen gemeinsamen Markt statt eines gemeinsamen Imperiums aufbauten und Adam Smith statt Napoleon folgten.
Mit dem Wiener Kongress war das Zeitalter der Dynastien in Europa noch lange nicht vorbei. Sie dominierten noch bis 1918. Der Gedanke, dass man sich viel mehr mit der Amerikanischen Revolution als mit der Französischen hätte befassen müssen, wie es geschichtsmächtig nur Tocqueville getan hat, erscheint aber sehr beachtenswert. Hätte, hätte. Schmidt-Phiseldecks Ratschläge sind keine “ Blaupause „, aber sie sind eine sehr wervolle Anregung. Die nationalen Identitäten in Europa, die sich erst in der 2. Hälfte des 19.Jhdts. verfestigt haben, können damit nicht übermalen werden. Eine “ gemeinsame Gerichtsbarkeit würde eine gemeinsame Staatlichkeit und eine Rechtsgemeinschaft voraussetzen, die im Europa von heute niemand ernsthaft will und die in 23 Sprachen auch nicht realisierbar wäre. Der Weg zu einem gemeinsamen Europa ginge nur über Harmonisierung der nationalen Gesetzgebungen unter Aufrechterhaltung der nationalen Souveränitäten, nicht über eine post-demokratische, föderale Exekutivdiktatur. Die USA sind keine Blaupause für USE.
Der Autor behauptet, nach dem Französisch-deutschen Krieg endete das 2. Reich 1871. Das ist falsch: 1871 wurde es gegründet/ausgerufen, es endete 1918.
Das „Zweite Reich“ bezieht der Verfasser auf Frankreich – gemeint ist also das „Second Empire“ unter Napoléon III.
Das deutsche Kaiserreich wurde eigentlich erst im Zuge des sogenannten „Dritten Reiches“ als „zweites Reich“ bezeichnet.