Photo: Devon Wilson from Unsplash (CC 0)

Von Kalle KappnerPromotionsstudent an der Humboldt-Universität zu Berlin, Research Fellow bei IREF, Fackelträger von Prometheus.

Die Politik wünscht Einwanderung in den Arbeitsmarkt und befürchtet gleichzeitig Einwanderung in die Sozialsysteme. Dies lässt sich eher durch Sozial- und Arbeitsmarktreformen erreichen als durch den de facto Ausschluss dieser potentiellen Einwanderer.

Was Arbeitsmarktexperten und Ökonomen seit Jahrzehnten fordern, scheint nun Realität zu werden: Anfang 2020 erhält Deutschland zum ersten Mal ein Einwanderungsgesetz. Das „Fachkräfteeinwanderungsgesetz“ soll den Zuzug qualifizierter Nicht-EU-Ausländer deutlich erleichtern. Zu diesem Zweck kommen zukünftig auch qualifizierte Nicht-Akademiker in den Genuss von Einwanderungsmöglichkeiten, die für Akademiker bereits bestehen. Zudem werden sie gegenüber Inländern und EU-Ausländern nicht mehr rechtlich diskriminiert.

Was der zuständige Minister Seehofer eine „historische Weichenstellung“ nennt, löst bei Experten deutlich weniger Enthusiasmus aus. Angesichts der weiterhin hohen und teils sogar neu errichteten Einwanderungshürden ist fraglich, wie viele der von der Regierung erwarteten 25.000 zusätzlichen Einwanderer pro Jahr tatsächlich kommen werden.

Der zaghafte Reformversuch offenbart die stark ausgeprägte Furcht vor Einwanderung in den Sozialstaat. Diese ist angesichts der Asylmigration der letzten Jahre nicht völlig unbegründet, doch die gezogenen Lehren sind die falschen. Statt Möglichkeiten zur Arbeitsmigration nach Deutschland weiterhin stark zu beschränken, sollten Reformen darauf abzielen, Einwanderern den erfolgreichen Einstieg in den Arbeitsmarkt zu erleichtern.

Erleichterungen für Ausgebildete, verschärfte Deutschanforderungen

Das Fachkräfteeinwanderungsgesetz betrifft fast ausschließlich Nicht-EU-Ausländer, während sich für EU-Ausländer, deren Arbeitsmigration nach Deutschland bereits heute kaum eingeschränkt wird, keine wesentlichen Änderungen ergeben. Für geduldete Flüchtlinge wird im Rahmen des zeitgleich beschlossenen „Geordnete-Rückkehr-Gesetzes“eine langfristige „Beschäftigungsduldung“ ermöglicht, deren Kriterien allerdings nur wenige Menschen erfüllen werden.

Bisher konnten Nicht-EU-Ausländer nur als Akademiker oder Ausgebildete in behördlich ermittelten „Mangelberufen“ (etwa in der Pflege oder im IT-Bereich) ein Visum zum Antritt einer bereits zugesagten Stelle oder zu einer auf sechs Monate befristeten Arbeitsplatzsuche erhalten. Dies ist zukünftig prinzipiell allen Ausländern mit einer in Deutschland anerkannten Berufsausbildung möglich. Außerdem entfällt grundsätzlich die sogenannte „Vorrangprüfung“, die die Einstellung eines Nicht-EU-Ausländers bisher davon abhängig machte, dass kein arbeitssuchender Deutscher oder EU-Ausländer in dieselbe Stelle vermittelt werden konnte.

Hinsichtlich der Anforderungen an die Deutschkenntnisse errichtet das Gesetz allerdings neue Hürden. Zukünftig müssen einwanderungswillige Nicht-EU-Ausländer detaillierte Deutschkenntnisse vorweisen – auch Akademiker und Ausgebildete in „Mangelberufen“, die bisher keine oder geringere Sprachnachweise liefern mussten. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung schätzt, dass für das regelmäßig geforderte B1-Niveau durchschnittlich 800 Lernstunden notwendig sind. Da Deutsch im Nicht-EU-Ausland nur selten als Fremdsprache erlernt wird, stellen die Sprachanforderungen eine bedeutende Hürde dar.

Hohe Hürden bleiben bestehen

Während die Gleichstellung qualifizierter Ausgebildeter und Akademiker eine wünschenswerte Liberalisierung ist, bringt das Fachkräfteeinwanderungsgesetz keine grundlegende Reform der bestehenden Gesetzesarchitektur mit sich. Die Arbeitsmarktmigration wird nur unwesentlich erleichtert.

Erstens, um Anreize zu sozialleistungsmotivierter Einwanderung zu mindern, gilt weiterhin, dass arbeitssuchende Nicht-EU-Ausländer sich während der Jobsuche vollständig selbst finanzieren müssen. Die Ausübung von Berufen, die ihrer formalen Qualifikation nicht entsprechen, ist ihnen dabei allerdings untersagt. Selbst qualifikationsadäquate Teilzeitbeschäftigung ist nur im Rahmen sogenannter „Probearbeiten“ mit maximal zehn Wochenstunden zulässig. Attraktiv ist die Einwanderung daher nur für Menschen, die die Jobsuche finanziell ohne unterstützende Gelegenheitsarbeiten überstehen und darauf setzen können, innerhalb von sechs Monaten eine ihrer Qualifikation entsprechende Beschäftigung zu finden. Der für qualifizierte Inländer und EU-Ausländer übliche Arbeitsmarkteinstieg über Einsteigerjobs oder Praktika bleibt Nicht-EU-Ausländern versagt.

Zweitens, Nicht-EU-Ausländer dürfen nur dann arbeiten, wenn sie einen Ausbildungsabschluss vorlegen, der als gleichwertig mit einem entsprechenden deutschen Abschluss anerkannt ist. Nur für bestimmte Berufe im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologie können fehlende formale Qualifikationen durch berufspraktische Erfahrungen ausgeglichen werden. Von dieser Ausnahme abgesehen, ist eine Beschäftigung auf Basis einer nur teilweise anerkannten Qualifikation grundsätzlich untersagt. Auch die Nachbildung fehlender Qualifikationen ist nur unter besonderen Umständen möglich. Diese strikten Regelungen stellen unter anderem wegen der außerhalb Deutschlands kaum verbreiteten dualen Ausbildung nach Einschätzung des IAB die bedeutendste Einwanderungshürde dar.

Drittens, die durch Aussetzung des nachgelagerten Arbeitsmarktzugangs intendierte Rechts- und Planungssicherheit für Arbeitgeber und Einwanderer wird relativiert durch die Möglichkeit, „Vorrangprüfungen“ zumindest regional für Nicht-EU-Ausländer aus bestimmten Berufsgruppen oder Herkunftsländern wiedereinzuführen.

Kaum zusätzliche Fachkräfteeinwanderung zu erwarten

In Summe stellen fortbestehende und neu eingeführte Voraussetzungen beträchtliche Hürden für einwanderungswillige Nicht-EU-Ausländer dar. Diese wirken umso stärker, als individuelle Stärken und Schwächen anders als bei den im angloamerikanischen Raum verbreiteten Punktesystemen nicht aufgewogen werden: Eine höhere Qualifikation kann geringere Deutschkenntnisse nicht ausgleichen. Wie viele Menschen werden all diese Hürden gleichzeitig überspringen?

Die bisherigen Erfahrungen mit der Einwanderung von Akademikern und qualifizierten Fachkräften in „Mangelberufen“ aus dem Nicht-EU-Ausland geben wenig Anlass zu Hoffnung: 2017 sind rund 60.000 Nicht-EU-Ausländer aus Erwerbszwecken nach Deutschland eingereist, also nur 11 % aller Zuwanderer. Möglichkeiten zur Einreise zwecks Arbeitsplatzsuche werden kaum wahrgenommen. Von den insgesamt 8.655 zu diesem Zweck erteilten Aufenthaltserlaubnissen entfielen über 90 % auf Nicht-EU-Ausländer, die in Deutschland studiert haben.

Laut Wanderungsmonitor wurden von den deutschen Auslandsvertretungen in 2017 nur knapp 2.100 Visa zur Arbeitsplatzsuche erteilt. Wie das IAB in seiner Stellungnahme zum Fachkräfteeinwanderungsgesetz betont, ist es angesichts des starken Zuzugs aus dem EU-Ausland zu Bildungszwecken oder zuletzt im Rahmen der Fluchtmigration unwahrscheinlich, dass die geringe Arbeitsmigration aus dem Nicht-EU-Ausland ein grundsätzliches Desinteresse am Einwanderungsziel Deutschland widerspiegelt.

Ausbleibende Zuwanderungsgewinne: Kollateralschäden der Sozialpolitik

Die zaghaften und von Einschränkungen geprägten Reformen des Einwanderungsrechts illustrieren, dass der zentrale Konflikt der deutschen Migrationspolitik weiterhin ungelöst ist: Die Politik wünscht Einwanderung in den Arbeitsmarkt und befürchtet gleichzeitig Einwanderung in die Sozialsysteme. Da grundsätzliche Reformen des Umfangs und Zugangs zu Sozialleistungen bisher ausbleiben, stehen alle einwanderungspolitischen Bemühungen unter dem Vorbehalt, möglichst nur jenen Einwanderergruppen Zugang zu gewähren, die mit hoher Wahrscheinlichkeit keine Sozialleistungen in Anspruch nehmen werden.

Langfristig attraktiver wäre es, das Risiko einer hohen Fiskallast aufgrund von Sozialleistungsbezug durch weniger qualifizierte Einwanderer nicht durch den de facto Ausschluss dieser potentiellen Einwanderer zu senken, sondern durch Sozial- und Arbeitsmarktreformen. Durch höhere Zuverdienstgrenzen statt des Mindestlohns sowie eine Lockerung des Kündigungsschutzes im Allgemeinen für alle Arbeitnehmer oder im Besonderen für eingewanderte Fachkräfte ließe sich das Risiko einer negativen Fiskalbilanz durch weniger qualifizierte Einwanderer reduzieren, ohne ihnen die Einwanderung zu verwehren.

Erstmals erschienen bei IREF.

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Von Dr. Alexander Fink, Universität Leipzig, Senior Fellow des IREF – Institute for Research in Economic and Fiscal Issues, und Justus LenzLeiter der Bereiche Haushaltspolitik und Digitalisierung beim Verband Die Jungen Unternehmer/Die Familienunternehmer.

Mit seinem Entwurf einer Nationalen Industriestrategie hat Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier im Februar 2019 eine wirtschaftspolitische Debatte um die Vor- und Nachteile staatlicher Wirtschaftseingriffe und -lenkung angestoßen. Angesichts des rasanten Aufstiegs Chinas, der „America First“-Politik Trumps und den Herausforderungen der Digitalisierung ist er damit bei vielen auf offene Ohren gestoßen: Der Staat müsse jetzt auch in Deutschland mehr fördern, lenken und eingreifen, damit die Wirtschaft international bestehen kann. Dabei geht es zwangsläufig immer um einzelne Branchen, ausgewählte, vermeintlich zukunftsweisende Schlüsseltechnologien oder gar um konkrete Unternehmen, die für förderungswürdig erachtet werden. So werden im Entwurf der Nationalen Industriestrategie beispielsweise die Batteriezellenproduktion, Künstliche Intelligenz und Thyssen-Krupp genannt. Obwohl eine stärkere Wirtschaftslenkung durch den Staat aufgrund ihrer Anschaulichkeit attraktiv erscheint, sollte der deutsche Staat nicht mehr Einfluss auf die Entwicklung spezifischer Branchen, Technologien und Unternehmen nehmen.

Die Kraft des Wettbewerbes

Der wettbewerbliche Marktprozess zeichnet sich durch Ergebnisoffenheit aus. Konkurrierende Unternehmen experimentieren fortwährend mit verschiedenen Geschäftsmodellen, Organisationsstrukturen, Produktionsprozessen, Ressourceneinsätzen und Technologien. Unternehmen und Branchen, die besonders erfolgreich um die Kaufkraft ihrer Kunden werben, setzen sich durch und prägen temporär die Marktergebnisse.

Die Nationale Industriestrategie Altmaiers basiert auf Instrumenten, die dem Staat auf einer ad hoc Basis mehr lenkende Einflussnahme gewähren, um die Ergebnisse des Marktprozesses zu beeinflussen. Der wettbewerbliche Marktprozess soll keineswegs eliminiert, sondern stärker als bisher in Bahnen gelenkt werden, die nach eingehender Prüfung durch den Staat gesamtgesellschaftlich für wünschenswert erachtet werden.

In der Vergangenheit hat der in Abwesenheit einer Nationalen Industriepolitik weniger gelenkte Wettbewerb in Deutschland zu Konsequenzen geführt, die auch der Bundeswirtschaftsminister vermutlich für wünschenswert erachtet. Unter dauerhaftem Wettbewerbsdruck sind je nach Schätzung 1.200 bis 1.500 auf dem Weltmarkt erfolgreiche und in ihrem Segment führende Hidden Champions sowie ein großer erfolgreicher Mittelstand entstanden.

Ob eine stärkere Einflussnahme des Staates tatsächlich wünschenswert ist, hängt von seinen Möglichkeiten ab, zum einen förderwürdige Branchen, Technologien und Unternehmen zu identifizieren, und zum anderen die Förderung wie intendiert umzusetzen. Beide Hindernisse können den Versuch der wünschenswerten Lenkung scheitern lassen.

Staatliche Wissensprobleme

Bezüglich der Identifikation und Förderung von zukunftsträchtigen Branchen, Technologien und Unternehmen sehen sich auch ausschließlich am Gesamtwohl der Bevölkerung interessierte und von Partikularinteressen unabhängige Vertreter des Staates dem Problem ausgesetzt, dass ihr Wissen begrenzt ist. Auch Sie wissen nicht, welche Technologien sich in Zukunft durchsetzen werden oder welche Unternehmen im internationalen Wettbewerb besonders erfolgsversprechend sind und sehen sich einer unsicheren Wirksamkeit einzusetzender Förderinstrumente ausgesetzt.

Das Problem lässt sich in Deutschland anhand der Förderung erneuerbarer Energien gut illustrieren, insbesondere am Beispiel der Förderung der Solarenergie. Auch mit dem Ziel, eine heimische Solarindustrie aufzubauen, die Solarzellen und – module produziert, wurde die Einspeisevergütung für Solarenergie eingeführt. Hinzu kamen direkte Subventionen für den Aufbau von Solarzellfabriken – und trotzdem wurden die großen Fabriken längst geschlossen, beispielsweise die von Bosch Solar in Thüringen. Solarzellen werden heute vornehmlich in China produziert. Zu welchem Grade die deutsche Förderung von Solartechnologie über positive externe Effekte zu schnellerem technologischen Fortschritt in China und global beigetragen hat und ob diese Effekte ausreichen, um die Förderung als volkswirtschaftlich wünschenswert zu bewerten, ist fraglich. Eine technologieneutrale Förderung erneuerbarer Energie – also weniger spezifische Lenkung – hätte vermutlich bessere Aussichten gehabt, in der Rückschau als volkswirtschaftlich wünschenswert bewertet zu werden.

Staatliche Anreizprobleme

Sowohl bei der Identifikation förderwürdiger Aktivitäten oder Unternehmen als auch bei der Umsetzung der Förderung kommen außerdem Anreizprobleme zum Tragen. So haben die Vertreter des Staates als Menschen aus Fleisch und Blut nicht ausschließlich das Gesamtwohl der Bevölkerung vor Augen, sondern auch eigene Interessen und Agenden, während Vertreter von Partikularinteressen ebenfalls versuchen, ihre Anliegen durchzuboxen.

So ist es nicht verwunderlich, dass im Entwurf der Industriepolitik von Herrn Altmaier auch die Deutsche Bank genannt wird. Die Deutsche Bank ist zwar Deutschlands größte Bank, aber weder ist sie ein Industrieunternehmen, noch hat sie sich als Vorreiterin der zukunftsträchtigen Digitalisierung hervorgetan. Ganz im Gegenteil: Die Bank ist notorisches IT-Sorgenkind. Aber offensichtlich ist es der Deutschen Bank gelungen, besondere Aufmerksamkeit im Wirtschaftsministerium zu erlangen.
Anders als gestandenen Platzhirschen, wird es Gründern junger und hoffentlich aufstrebender Unternehmen, die zukünftig einmal den Marktprozess prägen könnten, nicht gelingen, derartige Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. So könnte die Sichtbarkeit und die politischen Beziehungen gestandener Branchen und Unternehmen, die tendenziell etablierte Technologien einsetzen, dazu beitragen, dass die Ergebnisse des Marktprozesses nicht wünschenswert gelenkt, sondern unerwünscht eingeschränkt werden.

Digitale Transformation – die Zeit der ganz Großen?

Auch der Verweis auf Amazon, Google, Facebook und Co. lässt die Förderung etablierter Unternehmen nicht attraktiver erscheinen. In der Tat sind diese Unternehmen auf Märkten erfolgreich und groß geworden, auf denen Netzwerkeffekte dominieren und zu Winner-Takes-All-Phänomenen führen. Dennoch lässt sich zum einen der Nachteil, dass der heimische Markt deutscher Unternehmen im Vergleich zu den Konkurrenten aus China oder den USA nicht durch eine nationale Industriepolitik beheben. Zum anderen kommen nicht auf allen Märkten Netzwerkeffekte zum Tragen. Die Diversität der teils kleinteiligen Wirtschaftsstruktur Deutschlands mag angesichts der digitalen Transformation sogar einen Standortvorteil darstellen. Die Vielfalt der deutschen Unternehmenslandschaft ist eine gute Voraussetzung dafür, dass es eine Vielzahl von Unternehmen geben wird, die auch in den kommenden Jahren die richtigen Rezepte für eine erfolgreiche Digitalisierung in ihrer jeweiligen Branche finden.

Kein Grund zur Panik

Die Politik sollte keineswegs die Füße stillhalten. Ohne primär lenkend einzugreifen, kann der Staat im Bereich seiner Kernaufgaben einen Beitrag zum Erfolg von Industrieunternehmen und der Digitalisierung in Deutschland leisten. Von Bildung über Verwaltung und Infrastruktur bis hin zum Rechtsrahmen gibt es genügend Aufgaben für die Politik, die nur sekundär auch wirtschaftslenkende Wirkungen entfalten.

So könnte die Digitalisierung der Verwaltung helfen, die Bürokratiekosten für Unternehmen, Bürger sowie die Verwaltung selbst zu senken und nebenbei zur Verbreitung und Akzeptanz digitaler Lösungen beitragen. Solange der Staat bei der Digitalisierung nicht mit gutem Beispiel vorangeht, fällt es noch schwerer, seinem Urteil bei der Identifikation und Förderung zukunftsträchtiger Branchen, Technologien und Unternehmen zu trauen.

Erstmals erschienen bei IREF.

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Von Dr. Alexander Fink, Universität Leipzig, Senior Fellow des IREF – Institute for Research in Economic and Fiscal Issues, und Kalle Kappner, Promotionsstudent an der Humboldt-Universität zu Berlin, Research Fellow bei IREF, Fackelträger von Prometheus.

Hinsichtlich des globalen Lebensstandards waren die letzten drei Jahrzehnte überaus erfolgreich: Zu keiner Zeit ist es mehr Menschen gelungen, der absoluten Armut zu entkommen, also ein Einkommen über dem Subsistenzniveau zu erwirtschaften. Projektionen der Weltbank gehen davon aus, dass die Anzahl absolut Armer weiter sinken und bis 2030 außerhalb Subsahara-Afrikas auf wenige Millionen schrumpfen wird.

Wenngleich diese Entwicklung optimistisch stimmen sollte, sind viele Menschen davon überzeugt, dass die Armut in den letzten Jahrzehnten weltweit zunahm und weiter zunimmt. Angesichts einer Medien- und Bildungslandschaft, die negative Ereignisse in den Vordergrund rückt, überrascht dieser Befund nicht. Bedauerlich ist er dennoch. Die gravierende Unterschätzung der aus der Ausbreitung marktwirtschaftlicher und demokratischer Institutionen resultierenden Entwicklungserfolge untergräbt die Zustimmung zu eben jenen Institutionen.

Absolute Armut weltweit auf dem Rückzug

Als absolut arm gelten nach der aktuellen Definition der Weltbank Menschen, die täglich kaufkraftbereinigt weniger als 1,90 US-Dollar zur Verfügung haben. Die Armutsquote bezeichnet den Anteil absolut Armer an der Bevölkerung und ist aufgrund der Berücksichtigung von Kaufkraftunterschieden sowohl international als auch über die Zeit hinweg vergleichbar. Zu unterscheiden ist absolute Armut von relativer Armut, die in Bezug zum Durchschnitts- oder Medianeinkommen definiert wird und daher selbst dann zunehmen kann, wenn alle Mitglieder einer Gesellschaft absolut wohlhabender werden.

Spätestens seit Beginn der Industriellen Revolution Mitte des 18. Jahrhunderts ist die absolute Armut global auf dem Rückzug. Lebten 1820 noch rund 80 % der Weltbevölkerung in absoluter Armut, so beträgt die globale Armutsquote heute etwa 8,5 %. In unterschiedlichen Weltregionen fiel der Rückgang absoluter Armut dabei unterschiedlich stark aus. So ist absolute Armut in Europa und Amerika nahezu unbekannt, während die Armutsquote in Subsahara-Afrika bei 40 % liegt.

Weltweit konnte ein besonders starker Rückgang absoluter Armut in den letzten 30 Jahren verzeichnet werden – von rund 35 % Mitte der 1980er auf heute 8,5 %. Die wichtigste Triebfeder dieses Prozesses war die Ausbreitung marktwirtschaftlicher Strukturen, etwa in China und anderen südostasiatischen Ländern. Konventionelle Entwicklungshilfe spielte hingegen keine schwerwiegende Rolle.

Wahrnehmung globaler Armut: Weitverbreiteter Pessimismus

Trotz des deutlichen Armutsrückgangs der letzten Jahrzehnte sind viele Menschen überzeugt, dass die Anzahl der absolut Armen weltweit zunahm – nicht nur in absoluten Zahlen, sondern auch in Relation zur wachsenden Weltbevölkerung. 2016 wurden in einer repräsentativen Befragung 26.000 Menschen in 24 Ländern nach ihrer Einschätzung der Entwicklung absoluter Armut über die letzten 20 Jahre interviewt, wobei die bis 2015 übliche Definition von 1,25 kaufkraftparitätischen US-Dollar zugrunde gelegt wurde. Nur 13 % der Befragten gaben an, die Armutsquote sei gesunken. 1 % kam zur korrekten Einschätzung, dass diese halbiert wurde. 70 % glaubten hingegen, die Armutsquote habe zugenommen.

Besonders stark fiel die Fehlwahrnehmung in Industrieländern aus. In Deutschland etwa gaben nur 8 % an, dass der Anteil absolut Armer an der Weltbevölkerung gesunken sei. In Entwicklungs- und Schwellenländern fiel die Einschätzung weitaus positiver aus, etwa in China, wo 50 % der Befragten äußerten, die Armut habe abgenommen. Eine 2017 durch Ipsos durchgeführte Studie kam zu ähnlichen Ergebnissen. Demnach glaubten in Deutschland 11 % der Befragten, die absolute Armut habe weltweit abgenommen, während in China 49 % eine Abnahme sahen.

Menschen in reicheren Ländern schätzen im Vergleich zu Menschen in Entwicklungs- und Schwellenländern nicht nur die vergangene Entwicklung negativer ein. Auch hinsichtlich der Erwartungen für die Zukunft sind sie deutlich pessimistischer. 2015 gaben in einer YouGov-Umfrage 4 % der befragten Deutschen und 41 % der Chinesen an, dass „die Welt ein besserer Ort wird“. Eine ähnliche Disparität förderte Ipsos mit der Frage nach der Entwicklung des globalen Lebensstandards in den nächsten 15 Jahren zu Tage. Nur 18 % der Deutschen gaben an, dieser würde zunehmen, während es in China 58 % glaubten.

Extremereignisse überschatten langfristige Trends

Konzeptionelle Missverständnisse, etwa aufgrund einer Verwechslung von absoluter und relativer Armut, können die stark von den Fakten abweichenden Einschätzungen globaler Armutstrends nur bedingt erklären. Zumal kommen selbst die nach eigener Aussage Wohlinformierten zu gravierenden Fehleinschätzungen. Derartige Fehleinschätzungen drücken daher nicht schlichtes Desinteresse und Unwissen aus. Woher kommt der tiefverankerte Pessimismus bezüglich globaler Armutstrends?

Der 2017 verstorbene Entwicklungsforscher und Betreiber des „Gapminder“-Projekts Hans Rosling führt den weitverbreiteten Pessimismus auf die Anwendung von Daumenregeln zurück, die unsere Einschätzung globaler Entwicklungen systematisch ins Negative verzerren. Beispielsweise zeigt die Forschung zum Phänomen des „sozialen Pessimismus“, dass viele Menschen dazu tendieren, ihre Einschätzung langfristiger Trends anhand eines Durchschnitts auffälliger Extremereignisse zu prägen – die sogenannte Verfügbarkeitsheuristik. In einem Medien- und Bildungsumfeld, das negativen Extremereignissen weitaus mehr Raum gibt als langfristigen, stetig positiven Trends, führt die Verfügbarkeitsheuristik zur Herausbildung übermäßig pessimistischer Überzeugungen.

Wie stark der Zusammenhang zwischen dem täglichen Nachrichtenkonsum und unseren Überzeugungen ist, verdeutlicht der Ökonom Max Roser anhand eines Gedankenexperiments: Eine Zeitung, die jeden Tag wahrheitsgetreu verkündet, dass seit gestern weitere 137.000 Menschen der absoluten Armut entkommen sind, würde ihre Leser zu einer realistischeren Einschätzung globaler Armutstrends bewegen – und sich vermutlich nur mäßig verkaufen.

Armutsentwicklung: Pessimismus hat negative Konsequenzen

In der arbeits- und wissensteiligen Gesellschaft stellt mangelnde Kenntnis über langfristige Trends und Fakten, die den eigenen Alltag nicht betreffen, oft kein grundsätzliches Problem dar. Wer sich seines eigenen Unwissens bewusst ist, kann Entscheidungen an besser Informierte delegieren oder die Kosten uninformierter Entscheidungen selbst tragen. Doch der in den Industrieländern weitverbreitete Pessimismus hinsichtlich globaler Armutstrends hat in dem Maße weitreichendere negative Konsequenzen, in dem er die Zustimmung zu eben jenen marktwirtschaftlich-demokratischen Institutionen untergräbt, die die Grundlage für weiteres Wachstum bilden.

Sowohl im Rahmen offizieller Entwicklungspolitik, als auch über informelle Kanäle haben die in den Industrieländern vorherrschenden Ansichten hinsichtlich der Auswirkung marktwirtschaftlich-demokratischer Institutionen einen bedeutenden Einfluss auf Reformanstrengungen in Entwicklungsländern. Die Ausbreitung dieser Institutionen ist das Erfolgsrezept des Westens und hat in den letzten Jahrzehnten viele Bewohner südostasiatischer Länder aus der Armut befreit. Jene hilfreichen Institutionen für Armut verantwortlich zu machen, heißt nicht nur, die Fakten zu ignorieren, sondern die Grundlagen für die weitere Verbesserung der Welt zu untergraben.

Photo: Wikimedia Commons (CC BY-SA 3.0)

Von Dr. Alexander Fink, Universität Leipzig, Senior Fellow des IREF – Institute for Research in Economic and Fiscal Issues, Alexander Mengden und Fabian Kurz, Doktorand der Volkswirtschaftslehre.

Dieses Jahr feiern wir den 30. Jahrestag der friedlichen Revolution in der DDR. Eine ganze Generation junger Erwachsener – in Ost und West – kennt den realexistierenden Sozialismus in Deutschland nur noch aus Erzählungen. Das Jubiläum ist für uns Anlass, die Lebenssituation der DDR-Bürger in vielen Bereichen in Erinnerung zu rufen. Hier widmen wir uns dem Wohnen.

Seit Honeckers Amtsantritt im Jahr 1971 hatte der Wohnungsbau für die Sozialpolitik der DDR höchsten Stellenwert. Trotz der hohen Priorität der DDR-Oberen waren die Resultate ernüchternd. Das Auseinanderklaffen zwischen Anspruch und Wirklichkeit veranschaulicht der innerdeutsche Vergleich: Die DDR-Wohnungen waren nicht nur kleiner, schlechter ausgestattet und hoch renovierungsbedürftig, sondern oft auch fehlbelegt. Die gute Nachricht: Seit der Wende hat sich die Wohnsituation für Menschen in den neuen Ländern deutlich verbessert.

DDR: Kleinere Wohnungen

Den Bürgern der Bundesrepublik standen 1987 mit durchschnittlich 36,8 Quadratmetern etwa 10 Quadratmeter, oder 38 Prozent, mehr Wohnfläche pro Einwohner zur Verfügung als den Bürgern der DDR.

Der Abstand bezüglich der Wohnfläche zwischen Ost und West verringerte sich nach der Wiedervereinigung bis zum Jahr 2017 auf nur noch 8,5 Prozent. Während in dieser Zeit auch in den alten Bundesländern die Wohnfläche pro Einwohner stieg, fiel der Anstieg für die neuen Bundesländer deutlich stärker aus.

Miese Qualität

Wohnungen in der DDR waren nicht nur deutlich kleiner als in Westdeutschland, sondern auch schlechter ausgestattet. Im Jahr 1990 waren nur etwa 83 Prozent aller Wohnungen mit einem Badezimmer ausgestattet. In 84 Prozent der Wohnungen war ein WC vorzufinden und bloß die Hälfte der Wohnungen wurde zentral beheizt. Im Westen befand sich in nahezu jeder Wohnung ein Badezimmer und 90 Prozent der Wohnungen waren an eine Zentralheizung angeschlossen.

Daten des Sozioökonomischen Panels (SOEP) offenbaren neben der vergleichsweise dürftigen Ausstattung den schlechten Zustand der Wohnungen. Das SOEP erfasst die Einschätzung des Gebäudezustands durch den Haushaltsvorstand. Im Jahr 1990 bewerteten 28 Prozent der Haushalte in Ostdeutschland ihr Wohngebäude als „ganz renovierungsbedürftig oder abbruchreif“. In Westdeutschland waren es 4 Prozent. Die nach der Wende zunächst deutliche Lücke schloss sich bereits in den 2000er Jahren fast vollständig.

DDR-Bürger mit der eigenen Wohnung weniger zufrieden

Die unterschiedlichen Wohnverhältnisse in Ost und West spiegeln sich auch in der subjektiven Bewertung der Bürger wider. Umfrageergebnisse des Wohlfahrtssurveys offenbaren, dass Bewohner auf dem Gebiet der ehemaligen DDR 1990 ihre Wohnsituation mit 6,6 von 10 möglichen Punkten bewerteten, deutlich schlechter als bereits zwei Jahre zuvor in Westdeutschland mit 8,2. Dass die Zufriedenheit bezüglich der Wohnsituation 1990 noch niedrig war, ist angesichts der damals noch nicht erfolgten Renovierung des alten DDR-Bestandes keine Überraschung.

In den Jahren nach dem Mauerfall erhöhte sich die Zufriedenheit der Menschen mit ihrer Wohnsituation in den neuen Bundesländern. Daten des SOEP zufolge waren die Bewohner der neuen Bundesländer 2008 etwa genauso zufrieden mit ihrer Wohnsituation wie die Bewohner in den alten Bundesländern – im Falle von Mietern etwas zufriedener, im Falle von Selbstnutzern etwas weniger zufrieden.

Platte hui, Altbau pfui

Im Jahr 1990 befanden sich 59 Prozent aller Wohnungen in der DDR in „Volkseigentum“, also in Besitz volkseigener Betriebe oder Genossenschaften. Etwa 24 Prozent der Wohnungen gehörten privaten Personen, die diese selbst nutzten. Weitere 17 Prozent der Wohnungen waren im privaten Besitz und vermietet. Die Rechte der privaten Vermieter waren jedoch stark beschränkt. Weder hatten die Eigentümer einen Einfluss darauf, wer in die Mietwohnungen einzog, noch wie hoch die Miete ausfiel.

Während in der Bundesrepublik der Mietpreisstopp ab 1960 abgebaut und 1971 das in seinen Grundzügen bis zur Einführung der Mietpreisbremse 2015 fortbestehende Regelwerk eingeführt wurde, blieben die Mieten für Bestandsgebäude in der DDR, die vor dem Krieg erbaut worden waren auf dem Preisniveau von 1936 eingefroren. Das betraf rund die Hälfte des DDR-Wohnungsbestands. In Modernisierung und Instandhaltung investierten die privaten Vermieter angesichts der niedrigen Mieten und der schlechten Verfügbarkeit von Baumaterial kaum. Es passt ins Bild, dass bis 1989/90 der Verfall gut eine halbe Million ältere Wohnungen unbewohnbar gemacht hatte.

Wenn man heute die schönen Innenstädte in den ostdeutschen Bundesländern sieht, ist es nur schwer vorstellbar, dass die berühmten „Platten“ der DDR begehrter Wohnraum waren. Obwohl trotz der umfangreichen Subventionen auch die junge Bausubstanz unter der mangelnden Modernisierung und Instandhaltung litt, waren Wohnungen in der Platte attraktiv. Mieter hatten hier für DDR-Verhältnisse Zugang zu relativ hochwertigen Wohnungen zu niedrigen Mieten – Kaltmieten für Neubauten waren bis zur Wiedervereinigung auf durchschnittlich 90 Pfennig pro Quadratmeter festgelegt.

Staatliche Zuteilung von Wohnraum

Anders als in der BRD kam in der DDR nicht der Preismechanismus als Instrument für die Verteilung von Wohnraum zum Einsatz. Die SED-Regierung setzte auf die staatliche Zuweisung von Wohnungen. Entscheidend war somit nicht, ob ein Interessent in der Lage und bereit war, für die seinen Vorstellungen entsprechende Wohnung eine den Vermieter überzeugende Miete zu entrichten.

Stattdessen teilten die kommunalen Wohnungsbehörden den verfügbaren Wohnraum an Interessenten nach den Kriterien von sozialer Dringlichkeit, Arbeitskräftesicherung und „gesellschaftlichen Verdiensten“ zu, deren Auslegung durchaus Freiräume ließ. Nach der sozialen Dringlichkeit wurden vor allem junge Ehepaare und Familien bevorzugt. Mit Priorität im Rahmen der Arbeitskräftesicherung wurden Mitarbeiter zentraler staatlicher Institutionen sowie Facharbeiter und Hochschulabsolventen behandelt. Nach dem Kriterium „gesellschaftlicher Verdienste“ wurden Wohnungen vor allem unter politischen Gesichtspunkten wie Parteimitgliedschaft und Engagement im Sinne der SED-Regierung vergeben.

So hatte nicht jeder das Glück oder die gewünschte politische Gesinnung, um eine für ihn wünschenswerte Wohnung von den Behörden zugeteilt zu bekommen. Für die Zuteilung einer Wohnung mussten DDR-Bürger Ende der 1980er Jahre zudem Wartezeiten von 4 bis 6 Jahren in Kauf nehmen.

Wer einmal eine Wohnung zugeteilt bekommen hatte, versuchte sie zu behalten, vor allem wenn sie komfortabel groß war. So gab es kaum einen finanziellen Anreiz, in eine kleinere Wohnung zu ziehen, wenn die Kinder auszogen, ein Ehepartner die gemeinsame Wohnung verließ oder die Eltern verstarben. Verbreitet war auch, dass Paare nach dem Zusammenzug ihre zweite Wohnung behielten, um im Falle einer Trennung gewappnet zu sein oder sie im Tausch für etwas anderes Erstrebenswertes einsetzen zu können. Ähnlich wie Bestandsmieter in Zeiten schnell steigender Neuvertragsmieten heute, verschärfte dieses Verhalten der „Insider“ die Wohnungsknappheit in der DDR.

Einige Menschen umgingen die unbefriedigende Wohnraumlenkung, indem sie „schwarz“ wohnten. Der Historiker Prof. Udo Grashoff schätzt, dass sich in der gesamten DDR mehr als zehntausend zumeist jüngere Einwohner abseits der staatlichen Wohnraumlenkung in heruntergekommen Altbauten einquartiert hatten.

Grund für Optimismus

Obwohl der Wohnungsbau eine hohe Priorität in der DDR hatte, waren die Ergebnisse ernüchternd. Das 30-jährige Jubiläum des Mauerfalls ist aber auch Anlass zur Erinnerung, wie stark sich die Wohnungssituation auf dem Gebiet der ehemaligen DDR zum Positiven gewandelt hat. So profitieren die Menschen in den neuen Bundesländern heute von geräumigeren und höherwertigen Wohnungen und einer breiteren Palette an Wahlmöglichkeiten.

Das ist insbesondere der Etablierung marktwirtschaftlicher Strukturen in den neuen Bundesländern zu verdanken, die Investitionen in Instandhaltung, Modernisierung und Ausweitung des Wohnraums nicht nur grundsätzlich ermöglichen, sondern auch die finanziellen Anreize zu ihrer Umsetzung bieten.

Erstmals erschienen bei IREF

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Von Dr. Alexander Fink, Universität Leipzig, Senior Fellow des IREF – Institute for Research in Economic and Fiscal Issues und Fabian Kurz, Doktorand der Volkswirtschaftslehre.

Unser Leben wurde über die vergangenen Jahrzehnte deutlich angenehmer. Autos sind heute technisch ausgereifter, Wohnungen komfortabler und Medikamente sicherer. Dem technischen Fortschritt, ermöglicht durch eine marktwirtschaftliche Ordnung, sei Dank. Doch technischer Fortschritt erfolgt nicht linear. Es gibt viele Ideen. Einige setzen sich durch, andere dagegen scheitern technisch oder die Kunden nehmen sie nicht an. Bewähren sich technische Neuerungen, finden sie schnell Einzug in Produkte – ganz ohne Zutun des Staates.

Werden allerdings durch das Betreiben von Partikularinteressen oder motiviert durch überzogene Vorsicht seitens des Gesetzgebers zu hohe Qualitätsstandards eingeführt, kommt es zu unerwünschten Nebenfolgen. Produkte niedrigerer Qualität, die allerdings auch günstiger sind, verschwinden vom Markt. Beim jüngsten Vorstoß der EU-Kommission zur Erhöhung der Fahrzeugsicherheit durch die Verpflichtung zu einer Vielzahl neuer Sicherheits- und Assistenzsysteme in Neuwagen ist dies zu befürchten. Weitere Beispiele aus den Bereichen Wohnen und Medikamentensicherheit illustrieren die Nachteile zu hoher Standards ebenfalls.

Everybody’s darling: Hohe Produktstandards

Hohe Standards versprechen eine hohe Qualität, Langlebigkeit von Produkten und eine bessere Umweltverträglichkeit. Schließlich sollen hohe Standards für Sicherheit sorgen, etwa bei Autos und Medikamenten oder in Hinblick auf den Brandschutz bei Wohnungen. Kurzum: Hohe Standards haben offensichtliche Vorteile und genießen einen guten Ruf. Gegen hohe – auch gesetzliche – Standards lässt sich auf den ersten Blick kaum etwas einwenden, denn ihre Vorteile sind offensichtlich.

Standards: Die Nachteile

Den Vorteilen stehen allerdings auch potentielle Nachteile gegenüber. Werden gesetzliche Standards über dem Niveau minderwertiger aber auch günstiger Produkte gesetzt, können diese nicht mehr angeboten werden. Sollen die Bedürfnisse aller Konsumenten bei der Festlegung von Standards in Betracht gezogen werden, auch derjenigen, die Produkte minderer Qualität zu günstigeren Preisen bevorzugen, ist die zügige Deklaration neuer Mindeststandards problematisch.

Technische Innovationen sind in der Regel zunächst teurer als bisherige Alternativen. Deswegen werden Innovationen meist zunächst nur in höherpreisige Produkte integriert. Dort machen die Zusatzkosten nur einen kleinen Anteil am Gesamtpreis des Produkts aus. Erst wenn die Kosten etwa durch eine Ausweitung und Verbesserung der Produktion gesunken sind und Konsumenten günstiger Produkte die Integration der Innovation nachfragen, werden sie auch in günstigen Produktsegmenten eingeführt.

Erklärt der Staat neue technische Möglichkeiten voreilig zum Standard, werden günstige Produkte mittlerer und geringer Qualität überproportional verteuert und aus dem Markt gedrängt, obwohl es Kunden gibt, die diese bevorzugen. Hohe Standards schaden daher vor allem Konsumenten, die diese zwar qualitativ minderwertigen, aber auch günstigeren Produkte bevorzugen.

Mögliche Gründe für systematisch zu hohe Standards

Für den Gesetzgeber ist es schwierig, das richtige Maß oder Niveau für einen Standard festzulegen, denn es fehlt ihm das notwendige Wissen. Zu hohe Standards können daher Resultat eines Irrtums des Gesetzgebers sein, ebenso wie zu niedrige Standards. Irrtümer des Gesetzgebers, die zu niedrige Standards nach sich ziehen, werden allerdings systematisch durch die Konsumenten korrigiert: Betroffene Produkte können sich nicht am Markt etablieren. Einen entsprechenden Korrekturmechanismus gibt es nicht für zu hohe Standards, die Produkte aus dem Markt drängen. Dies ist relevant, weil drei Anreizprobleme dazu beitragen, dass der Gesetzgeber systematisch zu zu hohen Standards tendiert.

Erstens, gut gemeinter Paternalismus kann zu übertrieben hohen Standards führen, wenn der Gesetzgeber zum Schutz von Konsumenten hohe Standards garantieren will. Die dadurch höheren Produktionskosten, die den Konsum der Güter für einige Konsumenten verhindern, schätzt er möglicherweise als nebensächlich ein oder vernachlässigt sie vollständig.

Zweitens, der Selbstschutz des Gesetzgebers kann zu zu hohen Standards führen. Kommt es zu negativen Erfahrungen von Konsumenten oder gar zu einer Katastrophe, kann der Gesetzgeber darauf verweisen, mit der Einführung hoher Standards im Vorfeld das Möglichste getan zu haben. Setzt der Staat voreilig hohe Standards, muss er sich weniger häufig die Frage stellen lassen, wieso er einen niedrigen Standard nicht verhindert habe.

Drittens, der Gesetzgeber kann zu hohe Standards auch beschließen, weil er dem Druck von Interessengruppen nachgibt, die sich unliebsamer Konkurrenz durch Produkte geringerer Qualität entledigen wollen.

Welcher der drei Anreize für gewisse hohe und möglicherweise zu hohe Standards verantwortlich ist, ist nur schwer zu ermitteln. Beispiele, die den Drang zu hohen Standards illustrieren, gibt es jedoch zahlreiche.

Beispiel Mobilität

Die EU-Kommission möchte, dass ab 2022 neue Autos verpflichtend mit Systemen ausgestattet sind, die die Ablenkung oder Mündigkeit des Fahrers erkennen, beim Rückwärtsfahren assistieren, die Spur halten, in Gefahrensituationen automatisch abbremsen und dauerhafte Geschwindigkeitsübertretungen unterbinden.

Unabhängig von den möglicherweise gut gemeinten Beweggründen sind von der angestrebten Standardsetzung auch Nachteile zu erwarten. Günstige Neuwagen werden qualitativ aufgewertet, aber auch teurer. Vor allem jüngere unerfahrene Fahrer könnten vom Kauf eines günstigen Neuwagens abgehalten werden und auf deutlich ältere Fahrzeuge zurückgreifen, deren Sicherheitssysteme noch unter dem Niveau der Sicherheitssysteme von Neufahrzeugen liegen, die den zusätzlichen Anforderungen der EU bald nicht mehr genügen. Dazu passend zeigt eine Umfrage von Deloitte, dass deutsche Konsumenten in nur relativ geringem Umfang bereit sind, höhere Kosten für neue Sicherheitstechnologien zu tragen. Der Gesamteffekt verpflichtender Sicherheitssysteme für PKW, die höhere Produktionskosten nach sich ziehen, ist daher nicht unbedingt positiv.

Beispiel Wohnen

Bezüglich des Wohnungsbaus gibt es Hinweise darauf, dass die regulatorischen Anforderungen in Deutschland zu hoch sind. So hat der Gesetzgeber beispielsweise bei strengen Auflagen zum Brandschutz möglicherweise ausschließlich den Schutz der Bürger vor Augen. Vielleicht möchte er sich mit sehr hohen Brandschutzanforderungen aber auch selbst schützen, um im gut sichtbaren Katastrophenfall darauf verweisen zu können, alles in seiner Macht Stehende getan zu haben, um die Bürger zu schützen.

Die höheren Kosten, die mit einem hohen Brandschutz einhergehen, offenbaren sich hingegen nicht im Zuge einer gut sichtbaren Katastrophe, sondern werden von Mietern und Eigentümern Jahr für Jahr geschultert.

Beispiel Medikamente

Die Zulassung neuer Medikamente illustriert das Bestreben staatlicher Einrichtungen, sichtbare Katastrophen zu vermeiden. Schädliche zugelassene Medikamente führen zu sichtbaren Opfern und entsprechenden Reaktionen der Öffentlichkeit. Ein Beispiel ist der Wirkstoff Thalidomid und der damit verbundene Contergan-Skandal. Medikamente werden daher sehr ausgiebig in langwierigen Verfahren getestet und im Zweifel nicht zugelassen.

Doch die aufwendigen, staatlich geforderten Tests und Zulassungsverfahren führen dazu, dass Menschen, die von einem getesteten Medikament gesundheitlich profitieren könnten, es erst verspätet oder gar nicht erhalten. Sie tragen die Kosten der hohen Standards.

One-size-fits-all?

Hohe Standards haben offensichtliche Vorteile und oft weniger offensichtliche Nachteile. Die Nachteile gehen dabei regelmäßig über monetäre Kosten in Form höherer Preise hinaus, wenn Produkte vom Markt verschwinden oder nie das Tageslicht erblicken.

Der Staat sollte sich daher bei der schnellen Festlegung von hohen Standards zurückhalten. Gewiss sollte er den Partikularinteressen von Anbietern, die günstige Konkurrenzprodukte eliminieren wollen, nicht nachgeben. Zudem sollte er sich selbst beim Versuch bremsen, mündige Bürger vor sich selbst zu schützen. Zuletzt sollte er Standards nicht einzig mit dem Ziel erhöhen, sich durch die Verhinderung von Katastrophenfällen selbst zu schützen.

Erstmals erschienen bei IREF