Photo: Wikimedia Commons (CC 0)
Viele westliche Demokratien haben in den letzten Jahrzehnten eine zunehmende Stärkung der Rolle der Judikative in politischen Fragen gesehen. Gerichte sprechen nicht mehr nur Recht, sie machen es auch – sie betreiben Juris-Fiktion. Dieser Trend droht, unser politisches System zu destabilisieren.
Die Abwicklung der Aufklärung
Jonathan Sumption ist ein klassischer und sehr sympathischer Vertreter der britischen Oberschicht: Mitglied der Conservative Party, Star-Anwalt, Richter am Obersten Gerichtshof und außerdem Autor eines fünfbändigen Standard-Werkes über den 100jährigen Krieg. Von ihm liegt jetzt ein kleines, höchst lesenswertes Büchlein vor unter dem Titel „Trials of the State – Law and the Decline of Politics“. Der Mann weiß, wovon er spricht. Und sein Urteil fällt nicht besonders milde aus. In Kürze: die derzeitige Entpolitisierung zugunsten einer Verrechtlichung führt dazu, dass wir als Gesellschaften die Fähigkeiten zur diskursiven Problemlösung verlieren. Letztlich ein Rückfall in die Zeiten vor der Aufklärung.
Um es gleich vorweg zu sagen: Das Werk ist ein Essay und hat seine Stärke vor allem darin, dass es Probleme anspricht und Fragen stellt. An manchen Stellen würde man sich wünschen, dass man die Möglichkeit hätte, Sumption in einer Debatte mit Friedrich August von Hayek und Bruno Leoni zu erleben. Insbesondere die für eine liberale Ordnung zentrale Unterscheidung zwischen Recht (bei Hayek „Nomos“) und Gesetzgebung (bei Hayek „Thesis“) kommt etwas zu kurz in den Ausführungen. Doch in vielen anderen Punkten bildet das Buch einen wichtigen Ausgangspunkt bei der Analyse vieler drängender Probleme unserer Zeit von Paternalismus bis Populismus. Besonders anregend ist die Lektüre der ersten drei von insgesamt fünf Kapiteln mit den Überschriften „Die Expansion des Rechts-Imperiums“, „Ein Lob auf die Politik“ und „Menschen-Recht und -Unrecht“. Die letzten beiden Kapitel beziehen sich insbesondere auf den angelsächsischen Raum und haben mithin etwas weniger Relevanz für hiesige Verhältnisse.
Freiheitsrechte oder Recht auf Sicherheit?
Ehe Aufklärung, Demokratie und Liberalismus ihren Siegeszug antraten, wurde Recht, das zu großen Teilen in der Religion wurzelte und sich durch sie legitimierte, dazu genutzt, Konformität in einer Gesellschaft zu ordnen und zu garantieren. Mit dem Auftreten von Locke, Kant, Mill und deren Mitstreitern änderte sich diese Sicht fundamental: Als abwehrendes Prinzip gegenüber der Autorität sollte Recht nun geradezu dazu dienen, Nonkonformität zu ermöglichen. Doch gerade diese fundamentale Eigenschaft sieht Sumption heute gefährdet. Inzwischen scheint Recht wieder weniger daran ausgerichtet, Freiräume zu schaffen, als vielmehr neue ideologische Konformitäten durchzusetzen, denn „wir fürchten uns davor, dass Menschen sich von ihrem eigenen moralischen Urteil leiten lassen, wenn sie dadurch zu Antworten kommen, die uns nicht passen.“
Neben dieser Instrumentalisierung des Rechts zur Erschaffung einer „brave new world“ spielt auch die zunehmende gefühlte Unsicherheit und die wachsende Risiko-Aversion vieler Menschen in westlichen Demokratien eine Rolle bei der Entwicklung hin zu einer immer gewichtigeren Rolle der gestaltenden Rechtsprechung: „Wir halten physische, finanzielle und emotionale Sicherheit nicht mehr bloß für den [erstrebenswerten, aber nicht garantierten] Normalzustand, sondern erheben Anspruch darauf.“ Aus diesem Trend ergibt sich „eine der großen Ironien des modernen Lebens: Wir haben den Umfang individueller Rechte erweitert, während wir zugleich die Reichweite persönlicher Entscheidungsfreiheit drastisch zurückschneiden.“
Richter-Technokraten werden übergriffig
Ein weiterer Grund dafür, warum Rechtsprechung einen immer größeren Platz in der Entscheidungsfindung einnimmt, ist die zunehmende Politikverdrossenheit. Politiker erscheinen als unzuverlässig, abgehoben, weichgespült, machtbesessen, korrupt … Dagegen erstrahlt die Juristen-Klasse in sehr viel besserem Licht: „Richter sind in der Regel intelligente, reflektierte und redegewandte Personen.“ Sie werden wahrgenommen als entrückte und unparteiische Experten, die über dem Alltags-Kleinklein stehen. Brenda Hale, bis vor kurzem Vorsitzende des britischen Obersten Gerichtshofs und in den Brexit-Wirren besonders durch ihre extravaganten Broschen in Erscheinung getreten, formulierte diese Vorstellung mit erstaunlichem Selbstbewusstsein kürzlich im Zusammenhang mit einem Urteil zu Abtreibung: „Ja, in gewisser Weise könnten Gerichte qualifizierter solche Fragen behandeln, weil sie im Stande sind, die Beweise, rechtlichen Grundlagen und Argumente unvoreingenommen gegeneinander aufzuwiegen, ohne dem öffentlichen Druck ausgesetzt zu sein, unter dem die Abgeordneten stehen.“
Der demokratische Prozess ist in der generellen Wahrnehmung zunehmend kontaminiert: Nicht nur wird er als „schmutzig“ wahrgenommen. Durch die zunehmende Polarisierung werden auch seltener Lösungen gefunden. Deshalb entdecken laut Sumption gerade Interessengruppen die Macht der Gerichte zur Durchsetzung ihrer Ziele: Gerichtsurteile sind oft schneller zu haben als Gesetze und sind häufig nicht Kompromisse, sondern klare Entscheidungen. Sumption bringt das mit Clausewitz treffend auf den Punkt: „Rechtsprechung ist inzwischen die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln.“ Zudem werden Entscheidungen in ethisch aufgeladenen und kontroversen Fragen immer häufiger auf Gerichte abgeschoben. Der von kaum einem Briten besonders geschätzte Europäische Gerichtshof für Menschenrechte kommt in seiner Beurteilung auch nicht sehr gut weg, weil er im Namen der (oft sehr weit ausgelegten) Menschenrechte immer mehr Entscheidungen an sich zieht – und damit den legislativen Vertretungen aus der Hand nimmt.
Die Kapitulation vor den Feinden der liberalen Demokratie
Sowohl Juristen selbst als auch solche, die sie anrufen, mögen von hehren Motiven getrieben sein. Sie sehen in der Entscheidungsgewalt der Richter eine Möglichkeit, die liberale Demokratie in Zeiten des Populismus vor den Übergriffen durch Exekutive und Legislative zu schützen. – Polen lässt grüßen, die Türkei erst recht. – Doch im Grund genommen erodieren sie dadurch das System nur zusätzlich. Der Hass, der sich etwa in den Brexit-Wirren des vergangenen Jahres gegenüber der obersten Gerichtsbarkeit des Vereinigten Königreichs entlud, ist dafür symptomatisch. Ebenso wie das tiefe und grundsätzliche Misstrauen, das den Richtern der jeweils anderen politischen Seite beim Supreme Court der USA aus den anderen Lagern entgegenschlägt. Indem man sich aus dem politischen Diskurs herauszieht und viele zentrale Entscheidungen in die Gerichtshöfe verlegt, überlässt man auch den Feinden der liberalen Demokratie das Spielfeld. Es ist eine Kapitulation, die den Verteidigern dieser Werte wahrlich nicht zum Ruhme gereicht.
Aus Sumptions Sicht – da spricht der Brite mit einer jahrhundertelangen Tradition eines lebendigen Parlamentarismus – besteht der Vorteil des politischen, des demokratischen Prozesses darin, dass er unterschiedliche Interessen und Ansichten befriedigen kann, indem man Kompromisse erarbeitet. Dem steht die Tendenz zur Verrechtlichung entgegen: „Gerichtsverfahren können kaum einmal zwischen unterschiedlichen Standpunkten vermitteln. Sie sind Nullsummenspiele. Der Gewinner erringt den Sieg und der Verlierer muss bezahlen. Prozesse sind keine Verfahren der Beratung und Mitwirkung. Das Recht wird angerufen. Und das Recht ist rational. Es ist kohärent. Es ist analytisch, konsistent und rigoros. Doch in öffentlichen Angelegenheiten kommt man mit solchen Eigenschaften nicht immer weiter. Intransparenz, Inkonsistenz und Schummelei sind vielleicht intellektuell unrein, weshalb Anwälte damit nichts anfangen können. Aber sie sind oft untrennbar verbunden mit der Art von Kompromissen, die wir als Gesellschaft schließen müssen, wenn wir in Frieden zusammenleben wollen.“
Die liberale Ordnung lebt vom Vertrauen
Die liberale Ordnung der Aufklärung, des Westens, der offenen Gesellschaften zu erhalten, ist Sumption ein Herzensanliegen. Doch dafür müssen sich die Bürger schon selbst einsetzen – das kann ihnen kein Gericht abnehmen. Es ist vielleicht kein Zufall, dass sich der jüngst erschiene Band des Historikers über den Hundertjährigen Krieg besonders der berühmten Schlacht von Agincourt widmet, bei der die zahlenmäßig deutlich unterlegenen englischen Kräfte die massive französische Übermacht vernichtend schlagen konnten. Die liberale Demokratie befindet sich vielleicht gerade in einer ähnlich bedrohlichen Situation. Und da brauchen ihre Freunde einen Weckruf wie jenen, den Shakespeare in so unnachahmlicher Weise seinem Helden Henry V. in den Mund legte.
Dazu braucht es außerdem auch eine gewisse Portion Vertrauen in die Bürger. Denn das ist ein wesentlicher Aspekt der zunehmenden Verrechtlichung: Sie ist ein Ergebnis des Misstrauens einer elitären Schicht in die Demokratie-Reife und Aufgeklärtheit der Mitbürger. Eine Ursache des Misstrauens der Bürger gegenüber „denen da oben“ ist auch das Misstrauen „derer da oben“ gegenüber den Wählern. Wenn hier ein Umdenken beginnen kann, kann die liberale Demokratie wieder Fuß fassen. Und zwar nachhaltig: denn sie ist dann immer weniger die vorgegebene Ordnung der Eliten, sondern die selbstgewählte aller Bürger: „Man kann an [liberale] Rechte glauben, ohne sie aus der politischen Arena entfernen zu wollen, indem man sie der exklusiven Rechtsprechung einer Priesterkaste von Richtern unterstellt. Man kann glauben, dass die Mitbürger sich für liberale Werte entscheiden sollten, ohne sie ihnen auferlegen zu wollen.“
Jonathan Sumption: Trials of the State: Law and the Decline of Politics, London 2019. Das Buch basiert auf der diesjährigen Reith Lecture beim BBC, die hier nachgehört werden kann.