Photo: Wikimedia Commons (CC 0)

Über Zombieunternehmen wird seit vielen Jahren geschrieben. Das Phänomen ist also nicht neu, gewinnt aber in Corona-Zeiten, wo alles und jeder gerettet werden soll, an wachsender Bedeutung. Alexander Horn ist es zu verdanken, dass er das Phänomen jetzt intensiver untersucht hat. Sein Buch „Die Zombiewirtschaft – Warum die Politik Innovation behindert und die Unternehmen in Deutschland zu Wohlstandsbremsen geworden sind“ ist eines der besten Wirtschaftsbücher in diesem Jahr.

Als Zombieunternehmen gelten Unternehmen, denen es über einen längeren Zeitraum nicht gelingt, anfallende Schuldzinsen aus ihrem Jahresüberschuss zu bezahlen. Die Anzahl dieser Firmen nimmt seit Jahren zu. 2013 lag der Anteil in Deutschland bei 12 Prozent, 2017 bei 15,4 Prozent und aktuell wird er wahrscheinlich noch höher sein. Horn verweist dabei auf eine Analyse von Creditreform, dass etwa 20 Prozent aller Unternehmen akut gefährdet wären, würden ähnliche wirtschaftliche Rahmenbedingungen wie vor der Finanzkrise 2008 herrschen. Steigende Fremdkapitalzinsen oder eine leichte Rezession mit sinkenden Umsätzen würden sie in die Verlustzone bringen. In der Corona-Krise drohen zwar keine steigenden Fremdkapitalzinsen, das wird die EZB mit Sicherheit verhindern, aber sinkenden Umsätze betreffen weite Teile der Wirtschaft.

Für Horn ist die Null- und Negativzinspolitik der EZB nur eine Nebenbedingung des Niedergangs. Er sieht, und das ist sein Verdienst, im Wesentlichen die sinkende Arbeitsproduktivität und die Investitionsschwäche in Deutschland als Hauptgrund. Da die deutsche Wirtschaft, mit Ausnahme der Automobilindustrie, faktisch keine Produktivitätsfortschritte mehr macht, fallen die Unternehmen im internationalen Vergleich zurück. Der Maschinenbau ist bei der Produktivität pro Arbeitsstunde auf das Niveau der 2000er Jahre zurückgefallen. Der niedrig bewertete Euro und die Null- und Negativzinspolitik der EZB führen zwar zu Handelsbilanzüberschüssen, die aber nur die prekäre Situation verschleiern. Auch die gesunkenen Preise für Rohstoffe und Vorprodukte verdecken das eigentliche Problem.

Eigentlich sieht es viel schlimmer aus, denn die wachsende Anzahl von Zombieunternehmen untergräbt insgesamt das Innovationspotential in der Wirtschaft, weil das notwendige Kapital für Investitionen im Inland nicht bereitgestellt wird. Horn belegt das auch mit vielen Zahlen. Seit Anfang der 2000er Jahre sind die Bruttoanlageinvestitionen der Unternehmen und des Staates von über 30 Prozent des BIP auf nur noch 20 Prozent gefallen. Wer die Infrastruktur an Straßen, Brücken und Breitband in Deutschland betrachtet, hat schon länger das Gefühl, dass an diesem Argument etwas dran ist. Wird die laufende Wertminderung noch berücksichtigt, dann findet faktisch nur ein sehr geringer Zuwachs an Investitionen statt. Schon vor der Corona-Krise war diese Nettoinvestitionsquote auf einem – mit Ausnahme der Weltwirtschaftskrise 1929 – historisch einmalig niedrigem Niveau. Und dies alles trotz ebenfalls historisch niedrigen Finanzierungsbedingungen.

Die Analyse ist daher niederschmetternd: Der gesamtwirtschaftliche Kapitalstock stagniert und in der Industrie sinkt er sogar seit mehr als einem Jahrzehnt. Diese Entwicklung sei seit dem Beginn der Industrialisierung einmalig und nur vergleichbar mit der Zeit vor der Weltwirtschaftskrise 1929 und der wirtschaftlichen Depression, die darauf folgte. Auch damals stagnierte der Kapitalstock über eine längere Phase und ging sogar zeitweise deutlich zurück. Keine gute Aussichten!

Horn argumentiert im Sinne von Joseph Schumpeter, wenn er beklagt, dass die wachsende Anzahl der Zombies den Bereinigungsprozess in einer Wirtschaft verhindert. Die „schöpferische Zerstörung“ dient in einer Wirtschaft dazu, dass auf dem Boden des Alten etwas Neues entstehen kann. Er verweist auf die notwendige Kapitalbereinigung, die vom Staat nicht behindert, sondern vorangetrieben werden muss. Das dies nicht ausreichend geschieht, liegt seiner Meinung nach an „subjektiven und dann auch objektiven Barrieren, die die Unternehmen davon abhalten, ihre Rolle als wohlstandssteigerndes Kraftzentrum wahrzunehmen“. Die Investitionsschwäche der Wirtschaft werde weder von den Regierungsparteien noch von der politischen Opposition zum Thema gemacht. Das stimmt leider. Vielleicht ändert dieses Buch etwas daran. Es wäre zu wünschen.

Erstmals erschienen bei Tichys Einblick.

Photo: Kristine from Flickr (CC BY-NC 2.0)

Es ist wahrscheinlich eine Generationsfrage, ob man „f**** euch alle“ als besonderen Ausdruck der Mündigkeit ansieht. Ulf Poschardt tut das. Auch wenn er selbst, wie der Verfasser dieser Zeilen, zu alt ist, um zur Hipster-Generation zu gehören, fühlt er sich dennoch diesem Milieu verbunden. Das merkt man vielen Stellen seines neuen Buches „Mündig“ an. Das Buch ist gerade sechs Wochen alt und in der aktuellen Corona-Krise eine wichtige Ermutigung. Denn ohne Mündigkeit kann es keine freie Gesellschaft geben. Und die braucht gerade jede Unterstützung!

Poschardt ist ein brillanter Formulierer, der mit Worten gekonnt spielt und seine philosophische Ausbildung nicht verleugnet. Er gilt als einer der letzten liberalen Denker im überwiegend linken Mainstream-Journalismus. Doch er will sich nicht in ein liberales Dogmenkorsett zwängen lassen. Daher scheut er sich auch nicht, Adorno zusammen mit Ayn Rand in einem Atemzug als „wichtige Denker des Mündigen“ zu bezeichnen. Mehr geht nicht!

Adorno zieht sich ohnehin wie ein roter Faden durch das Buch. Einer der prominentesten Köpfe bei Axel Springer hält ihn für einen „der größten Intellektuellen des 20. Jahrhunderts“. Er verteidigt Adorno auch gegen die Vereinnahmung durch die APO der 68er. Adorno habe zumindest in seiner späten Phase bei der APO die gleiche kollektivistische Ideologie verortet, die diese ihrer Elterngeneration so vehement zum Vorwurf gemacht hat:  „Menschen, die blind in Kollektive sich einordnen, machen sich selbst schon zu etwas mit Material, löschen sich als selbstbestimmtes Wesen aus.“ Er glaubt, dass Adorno eigentlich ein Kantianer war, wenn er ihn zitiert mit den Worten: „Soll dabei nicht Unvernunft resultieren, so sind die Fähigkeit und Mut jedes einzelnen, sich seines Verstandes zu bedienen, vorausgesetzt.“ Für Adorno sei Mündigkeit Freiheit vermittels der eigenen Vernunft.

Zuweilen hat man beim Lesen des Buches den Eindruck, dass sich der promovierte Philosoph Poschardt  mit Adorno intensiver beschäftigt hat als mit Denkern wie Ayn Rand, Ludwig von Mises oder Friedrich August von Hayek. Letztere erwähnt er zwar, aber eher zur Abrundung. Gerade da sich das Buch nicht nur an die eigene “Bubble“ richten soll, würde man sich noch etwas mehr Raum für diese Leute wünschen, die ja allesamt auch Außenseiter-Rebellen und mitnichten angepasste Miefköppe waren.

In 16 Kapiteln beschäftigt sich das Buch mit der Mündigkeit – meist aus ungewöhnlicher Perspektive. Hier erfährt der Leser zwischen den Zeilen viel über den Menschen Ulf Poschardt. Über seine Sozialisation, seine Helden und seinen Musikgeschmack. Wenn er über den Autorennsport und die Formel 1 schreibt, dann kommt er fast ins Schwärmen. Da spricht der leidenschaftliche Auto-Nerd.  Wenn seine Helden Ayrton Senna, Alain Prost und Niki Lauda die Grenzen des Möglichen ausgelotet und oft überschritten haben, dann war das auch ein Ausdruck von Mündigkeit, wie sie heute in Zeiten von Fahrassistenten, ABS und Navigationssystemen so kaum mehr möglich ist: „Wer Rennfahrer entmündigt, bekommt Piloten, die mehr an Spieler von Computerspielen erinnern“.

Und wenn er über den Skateboarder philosophiert, der sein Freiheitsbedürfnis rücksichtslos, im Zweifel auch gegen sich selbst, auslebt, dann kann man sich vorstellen, wie der kleine Ulf vor den 1970ern nachmittags mit dem Skateboard auf dem Schulhof durch Versuch und Irrtum sein eigenes Mündigwerden durchlebt. Bei seiner Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Stilrichtungen der Musik ist unschwer zu erkennen, dass er privat weniger Helene Fischer und mehr Rap und Hip-Hop hört. Mündigkeit findet man ja auch weniger im Wohnzimmer als auf der Straße. Er hat viel übrig für jede Art von Rebellentum und schätzt den Willen zu Ausbruch und Wagnis, den man in der Rap-Szene finden kann: „Gegen das verweichlichte Zaudern der Bourgeoisie setzen sie das anarchische Streben der bislang Übergangenen.“

Das wohl beste Kapitel des Buches ist überschrieben: „Der mündige Linke“. Darin wirft er der aktuellen Linken vor, „zwischen Klimapanik und Gleichheitsfetischismus keinerlei Berührungsängste mehr mit der Demagogie der Populisten“ zu haben. „Weite Teile der Linken halten einen sozialistischen Populismus für das richtige Projekt.“ Der Stolz der Arbeiterklasse, das Streben der Mitglieder nach Emanzipation und Aufstieg spiele auch in der kulturellen Praxis der Linken kaum mehr eine Rolle. Er beklagt, dass nicht nur die Linke, sondern alle Parteien, aufgehört hätten, diesen Milieus Aufstiegsszenarien anzubieten. Und hier schließt sich der Kreis, wenn Poschardt über „den mündigen Liberalen“ schreibt und „seine Neigung zum Elitären, Eigenbrötlerischen“ beklagt. Die Liberalen würden „bestenfalls mit älteren, vergeistigten Professoren und Intellektuellen visualisiert“.

Das ist nicht ganz falsch, wird aber doch der Breite der Bewegung nicht ganz gerecht. In der Startup-Szene zum Beispiel wachsen neue liberale Milieus, die etwas wagen und gegen Althergebrachtes ankämpfen, Veränderungen und den Aufstieg wollen. Die Rede von den alten, weißen Männern (die in einer pluralen Gesellschaft ja auch ihren Platz haben!) darf nicht zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung werden. Vielmehr braucht die Sache der Freiheit in Deutschland den vergeistigten Professor wie den Auto-Liebhaber, den freigeistigen Künstler ebenso wie den älteren Unternehmer, der auf seine alten Tage noch mal ein Startup wagt.

Ein Letztes noch: Die Abwesenheit von Zwang als Definition der negativen Freiheit sollte nicht schlecht geredet und durch ein Konzept „positiver“ Freiheit ersetzt werden. Denn damit kann es zu dem kommen, was der leidenschaftliche Verteidiger der Mündigkeit eigentlich vermeiden will: die Unmündigkeit des Einzelnen. Das Konzept der „positiven Freiheit“ ist schon lange das Einfallstor der Regierungen und Politiker, die die Bürger an die Hand nehmen wollen, um sie zu bevormunden. Adorno selbst hat ja mit seinem Konzept der „Negativen Dialektik“ gezeigt, dass die Gefahr gerade im „Positiven“ liegt, weshalb sein bekanntestes Hauptwerk „Minima Moralia“ ja nur aus Negationen besteht. Da dürften sich Liberale und Linke doch eigentlich treffen: in der Kritik von Macht, die – ja! – ein Hauptmerkmal von Mündigkeit ist. Und während die Mächtigen unter dem Vorwand „positiver Freiheit“ ihre Spielräume ausweiten, wissen Liberale und „mündige Linke“, was „negative Freiheit“ vor allem bedeutet: „nicht Gott spielen zu wollen“ (Roland Baader).

Photo: Wikimedia Commons (CC 0)

Viele westliche Demokratien haben in den letzten Jahrzehnten eine zunehmende Stärkung der Rolle der Judikative in politischen Fragen gesehen. Gerichte sprechen nicht mehr nur Recht, sie machen es auch – sie betreiben Juris-Fiktion. Dieser Trend droht, unser politisches System zu destabilisieren.

Die Abwicklung der Aufklärung

Jonathan Sumption ist ein klassischer und sehr sympathischer Vertreter der britischen Oberschicht: Mitglied der Conservative Party, Star-Anwalt, Richter am Obersten Gerichtshof und außerdem Autor eines fünfbändigen Standard-Werkes über den 100jährigen Krieg. Von ihm liegt jetzt ein kleines, höchst lesenswertes Büchlein vor unter dem Titel „Trials of the State – Law and the Decline of Politics“. Der Mann weiß, wovon er spricht. Und sein Urteil fällt nicht besonders milde aus. In Kürze: die derzeitige Entpolitisierung zugunsten einer Verrechtlichung führt dazu, dass wir als Gesellschaften die Fähigkeiten zur diskursiven Problemlösung verlieren. Letztlich ein Rückfall in die Zeiten vor der Aufklärung.

Um es gleich vorweg zu sagen: Das Werk ist ein Essay und hat seine Stärke vor allem darin, dass es Probleme anspricht und Fragen stellt. An manchen Stellen würde man sich wünschen, dass man die Möglichkeit hätte, Sumption in einer Debatte mit Friedrich August von Hayek und Bruno Leoni zu erleben. Insbesondere die für eine liberale Ordnung zentrale Unterscheidung zwischen Recht (bei Hayek „Nomos“) und Gesetzgebung (bei Hayek „Thesis“) kommt etwas zu kurz in den Ausführungen. Doch in vielen anderen Punkten bildet das Buch einen wichtigen Ausgangspunkt bei der Analyse vieler drängender Probleme unserer Zeit von Paternalismus bis Populismus. Besonders anregend ist die Lektüre der ersten drei von insgesamt fünf Kapiteln mit den Überschriften „Die Expansion des Rechts-Imperiums“, „Ein Lob auf die Politik“ und „Menschen-Recht und -Unrecht“. Die letzten beiden Kapitel beziehen sich insbesondere auf den angelsächsischen Raum und haben mithin etwas weniger Relevanz für hiesige Verhältnisse.

Freiheitsrechte oder Recht auf Sicherheit?

Ehe Aufklärung, Demokratie und Liberalismus ihren Siegeszug antraten, wurde Recht, das zu großen Teilen in der Religion wurzelte und sich durch sie legitimierte, dazu genutzt, Konformität in einer Gesellschaft zu ordnen und zu garantieren. Mit dem Auftreten von Locke, Kant, Mill und deren Mitstreitern änderte sich diese Sicht fundamental: Als abwehrendes Prinzip gegenüber der Autorität sollte Recht nun geradezu dazu dienen, Nonkonformität zu ermöglichen. Doch gerade diese fundamentale Eigenschaft sieht Sumption heute gefährdet. Inzwischen scheint Recht wieder weniger daran ausgerichtet, Freiräume zu schaffen, als vielmehr neue ideologische Konformitäten durchzusetzen, denn „wir fürchten uns davor, dass Menschen sich von ihrem eigenen moralischen Urteil leiten lassen, wenn sie dadurch zu Antworten kommen, die uns nicht passen.“

Neben dieser Instrumentalisierung des Rechts zur Erschaffung einer „brave new world“ spielt auch die zunehmende gefühlte Unsicherheit und die wachsende Risiko-Aversion vieler Menschen in westlichen Demokratien eine Rolle bei der Entwicklung hin zu einer immer gewichtigeren Rolle der gestaltenden Rechtsprechung: „Wir halten physische, finanzielle und emotionale Sicherheit nicht mehr bloß für den [erstrebenswerten, aber nicht garantierten] Normalzustand, sondern erheben Anspruch darauf.“ Aus diesem Trend ergibt sich „eine der großen Ironien des modernen Lebens: Wir haben den Umfang individueller Rechte erweitert, während wir zugleich die Reichweite persönlicher Entscheidungsfreiheit drastisch zurückschneiden.“

Richter-Technokraten werden übergriffig

Ein weiterer Grund dafür, warum Rechtsprechung einen immer größeren Platz in der Entscheidungsfindung einnimmt, ist die zunehmende Politikverdrossenheit. Politiker erscheinen als unzuverlässig, abgehoben, weichgespült, machtbesessen, korrupt … Dagegen erstrahlt die Juristen-Klasse in sehr viel besserem Licht: „Richter sind in der Regel intelligente, reflektierte und redegewandte Personen.“ Sie werden wahrgenommen als entrückte und unparteiische Experten, die über dem Alltags-Kleinklein stehen. Brenda Hale, bis vor kurzem Vorsitzende des britischen Obersten Gerichtshofs und in den Brexit-Wirren besonders durch ihre extravaganten Broschen in Erscheinung getreten, formulierte diese Vorstellung mit erstaunlichem Selbstbewusstsein kürzlich im Zusammenhang mit einem Urteil zu Abtreibung: „Ja, in gewisser Weise könnten Gerichte qualifizierter solche Fragen behandeln, weil sie im Stande sind, die Beweise, rechtlichen Grundlagen und Argumente unvoreingenommen gegeneinander aufzuwiegen, ohne dem öffentlichen Druck ausgesetzt zu sein, unter dem die Abgeordneten stehen.“

Der demokratische Prozess ist in der generellen Wahrnehmung zunehmend kontaminiert: Nicht nur wird er als „schmutzig“ wahrgenommen. Durch die zunehmende Polarisierung werden auch seltener Lösungen gefunden. Deshalb entdecken laut Sumption gerade Interessengruppen die Macht der Gerichte zur Durchsetzung ihrer Ziele: Gerichtsurteile sind oft schneller zu haben als Gesetze und sind häufig nicht Kompromisse, sondern klare Entscheidungen. Sumption bringt das mit Clausewitz treffend auf den Punkt: „Rechtsprechung ist inzwischen die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln.“ Zudem werden Entscheidungen in ethisch aufgeladenen und kontroversen Fragen immer häufiger auf Gerichte abgeschoben. Der von kaum einem Briten besonders geschätzte Europäische Gerichtshof für Menschenrechte kommt in seiner Beurteilung auch nicht sehr gut weg, weil er im Namen der (oft sehr weit ausgelegten) Menschenrechte immer mehr Entscheidungen an sich zieht – und damit den legislativen Vertretungen aus der Hand nimmt.

Die Kapitulation vor den Feinden der liberalen Demokratie

Sowohl Juristen selbst als auch solche, die sie anrufen, mögen von hehren Motiven getrieben sein. Sie sehen in der Entscheidungsgewalt der Richter eine Möglichkeit, die liberale Demokratie in Zeiten des Populismus vor den Übergriffen durch Exekutive und Legislative zu schützen. – Polen lässt grüßen, die Türkei erst recht. – Doch im Grund genommen erodieren sie dadurch das System nur zusätzlich. Der Hass, der sich etwa in den Brexit-Wirren des vergangenen Jahres gegenüber der obersten Gerichtsbarkeit des Vereinigten Königreichs entlud, ist dafür symptomatisch. Ebenso wie das tiefe und grundsätzliche Misstrauen, das den Richtern der jeweils anderen politischen Seite beim Supreme Court der USA aus den anderen Lagern entgegenschlägt. Indem man sich aus dem politischen Diskurs herauszieht und viele zentrale Entscheidungen in die Gerichtshöfe verlegt, überlässt man auch den Feinden der liberalen Demokratie das Spielfeld. Es ist eine Kapitulation, die den Verteidigern dieser Werte wahrlich nicht zum Ruhme gereicht.

Aus Sumptions Sicht – da spricht der Brite mit einer jahrhundertelangen Tradition eines lebendigen Parlamentarismus – besteht der Vorteil des politischen, des demokratischen Prozesses darin, dass er unterschiedliche Interessen und Ansichten befriedigen kann, indem man Kompromisse erarbeitet. Dem steht die Tendenz zur Verrechtlichung entgegen: „Gerichtsverfahren können kaum einmal zwischen unterschiedlichen Standpunkten vermitteln. Sie sind Nullsummenspiele. Der Gewinner erringt den Sieg und der Verlierer muss bezahlen. Prozesse sind keine Verfahren der Beratung und Mitwirkung. Das Recht wird angerufen. Und das Recht ist rational. Es ist kohärent. Es ist analytisch, konsistent und rigoros. Doch in öffentlichen Angelegenheiten kommt man mit solchen Eigenschaften nicht immer weiter. Intransparenz, Inkonsistenz und Schummelei sind vielleicht intellektuell unrein, weshalb Anwälte damit nichts anfangen können. Aber sie sind oft untrennbar verbunden mit der Art von Kompromissen, die wir als Gesellschaft schließen müssen, wenn wir in Frieden zusammenleben wollen.“

Die liberale Ordnung lebt vom Vertrauen

Die liberale Ordnung der Aufklärung, des Westens, der offenen Gesellschaften zu erhalten, ist Sumption ein Herzensanliegen. Doch dafür müssen sich die Bürger schon selbst einsetzen – das kann ihnen kein Gericht abnehmen. Es ist vielleicht kein Zufall, dass sich der jüngst erschiene Band des Historikers über den Hundertjährigen Krieg besonders der berühmten Schlacht von Agincourt widmet, bei der die zahlenmäßig deutlich unterlegenen englischen Kräfte die massive französische Übermacht vernichtend schlagen konnten. Die liberale Demokratie befindet sich vielleicht gerade in einer ähnlich bedrohlichen Situation. Und da brauchen ihre Freunde einen Weckruf wie jenen, den Shakespeare in so unnachahmlicher Weise seinem Helden Henry V. in den Mund legte.

Dazu braucht es außerdem auch eine gewisse Portion Vertrauen in die Bürger. Denn das ist ein wesentlicher Aspekt der zunehmenden Verrechtlichung: Sie ist ein Ergebnis des Misstrauens einer elitären Schicht in die Demokratie-Reife und Aufgeklärtheit der Mitbürger. Eine Ursache des Misstrauens der Bürger gegenüber „denen da oben“ ist auch das Misstrauen „derer da oben“ gegenüber den Wählern. Wenn hier ein Umdenken beginnen kann, kann die liberale Demokratie wieder Fuß fassen. Und zwar nachhaltig: denn sie ist dann immer weniger die vorgegebene Ordnung der Eliten, sondern die selbstgewählte aller Bürger: „Man kann an [liberale] Rechte glauben, ohne sie aus der politischen Arena entfernen zu wollen, indem man sie der exklusiven Rechtsprechung einer Priesterkaste von Richtern unterstellt. Man kann glauben, dass die Mitbürger sich für liberale Werte entscheiden sollten, ohne sie ihnen auferlegen zu wollen.“

Jonathan Sumption: Trials of the State: Law and the Decline of Politics, London 2019. Das Buch basiert auf der diesjährigen Reith Lecture beim BBC, die hier nachgehört werden kann.

Photo: Wikimedia Commons (CC 0)

Daniel Stelter ist ein ungewöhnlicher Ökonom. Nach einer erfolgreichen Beraterkarriere zog es ihn nicht in die Wissenschaft oder Politik, sondern er gründete seinen eigenen kleinen Think Tank „beyond the obvious“ und betätigte sich als fleißiger, kundiger und innovativer Vielschreiber in Zeitungen, Zeitschriften und Blogs. Im Hayekschen Sinne geht es ihm um den Kampf der Ideen. Er will mit seinen Argumenten überzeugen. Sein jüngstes Buch „Das Märchen vom reichen Land“ ist ein überzeugendes Beispiel dafür. Der Spiegel-Bestseller ist inzwischen bereits in der 6. Auflage erschienen und räumt mit dem Mythos auf, dass die Deutschen die großen Profiteure in Europa seien.

In 10 Kapiteln unterstreicht er seine These, um dann im 11. Kapitel seine Vorschläge für einen grundlegenden Neustart zu machen. Zwar verdienen die Deutschen im internationalen Vergleich gut, beim Nettovermögen liegen wir jedoch zurück. Nicht nur hinter Spanien und Frankreich, sondern selbst hinter Griechenland. In Deutschland wir zu wenig investiert und zu viel konsumiert. Der Mythos der reichen Deutschen wird vor allem vom Exporterfolg der deutschen Industrie genährt. Doch diese, so weist Stelter schlüssig nach, hat viel mit der Illusion des Euro zu tun. Das billige Geld der EZB und die vergleichsweise niedrige Bewertung des Euro sind ein Subventionsprogramm für die Industrie, insbesondere für die Autokonzerne. Sie werden im außereuropäischen Export billiger, was ihnen, verbunden mit der hohen Qualität deutscher Automobilfertigung, einen enormen Wettbewerbsvorteil beschert. Doch diese Entwicklung basiert wesentlich auf der ökonomischen Entwicklung Chinas, die auf Pump finanziert ist. Bricht das chinesische Wirtschaftsmodell zusammen, dann gehen bei vielen Autokonzernen die Lichter aus.

Die Analyse liegt nicht so weit weg von der meinigen, die ich 2014 in meinem Buch „Nicht mit unserem Geld“ formuliert habe. Die Niedrigzinspolitik der EZB hat erhebliche Kollateralschäden. Auch damit beschäftigt er sich. Werden die Zinsen abgeschafft, dann kann mit Staatsanleihen auch kein Geld mehr verdient werden. Alle diejenigen, die Lebensversicherungen, Bausparverträge und Festgelder bevorzugen, sind die Verlierer. Sie werden kalt enteignet. Der Staat, Immobilien- und Aktienbesitzer profitieren vom billigen Geld.

Der Handelsbilanzüberschuss Deutschland ist für Stelter eher ein Grund zur Sorge. In einer überschuldeten Welt führt dies leicht zum Totalverlust. Besser wäre es, wenn in Deutschland investiert und angelegt würde. Daher ist er, und da unterscheiden wir uns, kein Freund der „schwarzen Null“, in der Haushaltspolitik. Doch die GroKo in Berlin tut eh alles dafür, dass dieser historische Augenblick nur eine kurze Periode war. Anders sieht es aus, wenn er über die Target-Problematik schreibt. Hier erkennt er, dass die wachsenden Salden zu einem Erpressungspotential der Nehmerländer gegenüber den Geberländern führen.

Seine These, dass die „schwarze Null“ in den öffentlichen Haushalten den Kapitalexport fördert, ist zu eindimensional gedacht. Wenn eine Bundesregierung die Bedingungen für Investitionen im Inland verbessern würde, dann müsste nicht geschehen, was er mit seinen Ausführungen zum Kapitalexport richtig beschreibt. Sowohl bei den Unternehmensteuern als auch bei der Abgabenbelastung der Bürger ist Deutschland wieder international auf einem vorderen Negativplatz. Daher sind die Standortbedingungen entscheidend. Kapital ist bekanntlich scheu wie ein Reh, daher darf man sich nicht wundern, wenn anderswo bessere Investitionsbedingungen herrschen. Die letzten großen Reformen liegen mit den Hartz IV-Reformen bereits 15 Jahre zurück. Seitdem ist nicht viel passiert, und die Merkel-Regierung ruht sich auf diesen Erfolgen nach wie vor aus. Deutschland ist reformmüde und daher nicht für die Zukunft gerüstet.

Etliche seiner Vorschläge zur Reform der Eurozone sind unterstützenswert. Vor einem Zerfall der Eurozone warnt er mit Recht. Sie würde zu einer schweren Rezession auch bei uns führen. Er verweist auf den Abwertungsdruck gegenüber dem Dollar von rund 40 Prozent für Spanien, Griechenland, Italien und Portugal und von 10 Prozent für Deutschland. Der Aufwertungsdruck Deutschlands gegenüber den Südländern wäre wahrscheinlich ähnlich hoch. Dies würde insgesamt zwangsläufig zu einer massiven Kapitalflucht aus Europa führen. Was sich über viele Jahre im Euroraum an wirtschaftlichen Ungleichgewichten aufgebaut hat, kann nicht mehr so einfach ohne schwerwiegende ökonomische Verwerfungen bereinigt werden. Da hilft es auch wenig, wenn man sagt, man könne nicht so weitermachen wie bisher. Das stimmt zwar, aber eine 180-Grad-Wende ist dennoch nicht sinnvoll.

Es ist ein wenig wohlfeil, dann auf die Politik einzudreschen. „Unsere Politiker können offensichtlich nicht rechnen“, schreibt er in Kapitel 10. Das gehört so in die Kategorie „alle Volkswirte haben sich geirrt“ oder „alle Journalisten schreiben von einander ab“. Pauschalisierungen werden der Sachlage nicht gerecht. So ist es auch, wenn er vom Versagen der „politischen Eliten“ spricht. Das klingt etwas nach Marx und Engels, die diese Eliten wegfegen wollten. Dennoch sind viele seiner dann folgenden Vorschläge sinnvoll: Bildungsinvestitionen, private Investitionen, Steuerung der Zuwanderung und vieles mehr. Warum er jedoch eine höhere Erbschaftsteuer fordert, wird mir nicht so ganz klar. Es ist doch eine der Erfolgsgeschichten dieses Landes, dass wir viele Hidden Champions im Bereich der Familienunternehmen haben, die in der Fläche über Generationen erfolgreich tätig sind. Auch sein „Szenario drei“ zur Lösung der Eurokrise ist zu statisch. Die Schaffung eines Schuldentilgungsfonds mit Eurobonds unterstellt, dass sich danach die Regelgebundenheit der Schuldenstaaten verbessern würde. Das ist eine Illusion. Es würde zu einer Vergemeinschaftung der Schulden und einer geringeren Verantwortung für die jeweilige Regierungsleistung führen. Ein geordneter Ausstieg derjenigen, die es innerhalb der Eurozone nicht schaffen oder nicht schaffen wollen, wäre da ein weniger invasiver Eingriff.

Daniel Stelter, Das Märchen vom reichen Land. Wie die Politik uns ruiniert. 
FinanzBuch Verlag, 256 Seiten, 22,99 €

Erstmals erschienen bei Tichys Einblick.

Photo: Wikimedia Commons (CC 0)

Wer über Wettbewerb schreibt, scheint irgendwie aus der Zeit gefallen. Wettbewerb klingt so hart und ungerecht. Manche verlieren im Wettbewerb und bleiben auf der Strecke. Wieder andere sind überaus erfolgreich und sammeln Reichtümer ungeahnter Ausmaße an. Deshalb wird dem Wettbewerb oft auch ein Adjektiv vorangestellt. Er dürfe nicht „ruinös“, müsse „gerecht“ und „fair“ sein. Dafür müsse der Staat sorgen, wird vielfach verlangt. Wenn jemand sogar dem politischen Wettbewerb das Wort redet und den zwischenstaatlichen Wettbewerb nicht geißelt, sondern gutheißt, dann ist das bestimmt einer dieser Manchesterliberalen – ein Ewiggestriger. Denn so einer redet bestimmt Steueroasen und Sozialdumping das Wort. Kurzum: die soziale Kälte sprießt so einem aus allen Adern.

Roland Vaubel würde dies wahrscheinlich als Ehrenbeschreibung für sich gelten lassen. Er ist zwar kein Ewiggestriger. Aber sicherlich ein klassischer Liberaler, der seinen gut begründeten Überzeugungen auch dann noch folgt, wenn die allgemeine Stimmung gegen seine Thesen gerichtet ist.

Jetzt hat dieser Roland Vaubel, inzwischen emeritierte Professor für Volkswirtschaft in Mannheim, das Buch „Zwischenstaatlicher politischer Wettbewerb“ vorgelegt, dass das Wettbewerbsprinzip auf vielerlei politische Felder überträgt. In 17 Aufsätzen setzt er sich damit auseinander. Er beschäftigt sich historisch, ideengeschichtlich, theoretisch und anhand konkreter Beispiele mit dem politischen Wettbewerb – insbesondere in Europa. Schon zu Beginn beschreibt er den politischen Wettbewerb als das Erfolgsgeheimnis der Demokratie. Sie eröffnet den Bürgern Wahlmöglichkeiten. Ohne Alternativen gäbe es keine politische Partizipation. Je lebhafter der Wettbewerb zwischen den Politikern, desto stärker sei ihr Anreiz, sich an den Wünschen der Bürger zu orientieren.

Vaubel ist ein Anhänger von Friedrich August von Hayek, der den Wettbewerb als Entdeckungsverfahren bezeichnet hat, und ihn sogar auf das Geldwesen übertragen wollte. Der Währungswettbewerb schütze die Bürger vor hoher Inflation, denn durch Wettbewerb könnten die Geldnutzer in stabilere Währungen abwandern. Historisch ist dies durchaus belegt. Fürsten und Könige wurden im Mittelalter durch den Geldwettbewerb in Europa in ihrer Manipulation des Gold- und Silbergehalts ihrer Münzen gehemmt, da Kaufleute in ganz Europa möglichst gutes Geld vorhalten wollten. Der Systemwettbewerb in Europa zwischen Staat und Kirche hat historisch zu einer Machtbalance geführt, die die Freiheit des Einzelnen gestärkt hat. Vaubel erinnert daran, dass zum Ende des Mittelalters der Orient und China ökonomisch auf Augenhöhe mit Europa waren. Der anschließende Rückfall dieser Regionen begründet er mit dem mangelnden Wettbewerb und dem Zentralismus dieser Regionen. Entscheidungen werden mal richtig und mal falsch getroffen. In einem zentralistisch organisierten Staat treffen falsche Entscheidungen der Politik dann aber viel mehr. Ein permanent Entdeckungsverfahren kann daher nicht stattfinden.

Anschaulich ist Vaubels Beispiel der europäischen Musik als Ausdruck des Wettbewerbs. Wie konnte die europäische Musik des Barock, der Klassik und der Romantik diesen Siegeszug auf der ganzen Welt erreichen? Auch hier bemüht Vaubel das Wettbewerbsprinzip. Im kleinräumigen Europa konnten die Herrscher ihre Untertanen nicht beliebig ausbeuten und unterdrücken. Kaufleute, religiöse Minderheiten und eben auch Musiker und Komponisten konnten sich ihren Staat und ihren Wohnort aussuchen. Je kleiner der Staat, je mehr Staaten es gab, desto geringer waren die Ausweichkosten. Die wichtigsten Förderer in der Zeit des Barock waren die Fürstenhöfe und Kirchen. Sie konkurrierten um die besten Musiker und Komponisten ihrer Zeit. Zu Zeiten des Barock sind gerade in den besonders dezentral organisierten Ländern Italien und Deutschland die größten Komponisten hervorgegangen. Nach dem Dreißigjährigen Krieg existierten in Deutschland 300 eigenständige Fürstenhöfe. Dieser Umstand ermöglichte auch einen Innovationsschub. Die Fürsten des Barock waren für neue Stilentwicklungen offen, sie profilierten sich sogar damit. Der kritische Vergleich und der Entdeckungsmechanismus führten zu einem dynamischen Wettbewerb, und zu einer Verbreitung in die bürgerlichen Kreise hinein. All das hatte auch eine erhebliche ökonomische Bedeutung.

Roland Vaubel ist ein tolles Buch gelungen, das gerade dem liberal gesinnten Nachwuchs wärmstens empfohlen ist. Glauben doch viele, selbst unter Liberalen, dass Kleinstaaterei der Inbegriff des Rückschritts sei. Dies ist jedoch eine polemische Umdeutung des Begriffs. Eigentlich war dies eine entscheidende Grundlage für Rechtsstaat, Marktwirtschaft und Demokratie in unserem Land.