Photo: Kristine from Flickr (CC BY-NC 2.0)

Es ist wahrscheinlich eine Generationsfrage, ob man „f**** euch alle“ als besonderen Ausdruck der Mündigkeit ansieht. Ulf Poschardt tut das. Auch wenn er selbst, wie der Verfasser dieser Zeilen, zu alt ist, um zur Hipster-Generation zu gehören, fühlt er sich dennoch diesem Milieu verbunden. Das merkt man vielen Stellen seines neuen Buches „Mündig“ an. Das Buch ist gerade sechs Wochen alt und in der aktuellen Corona-Krise eine wichtige Ermutigung. Denn ohne Mündigkeit kann es keine freie Gesellschaft geben. Und die braucht gerade jede Unterstützung!

Poschardt ist ein brillanter Formulierer, der mit Worten gekonnt spielt und seine philosophische Ausbildung nicht verleugnet. Er gilt als einer der letzten liberalen Denker im überwiegend linken Mainstream-Journalismus. Doch er will sich nicht in ein liberales Dogmenkorsett zwängen lassen. Daher scheut er sich auch nicht, Adorno zusammen mit Ayn Rand in einem Atemzug als „wichtige Denker des Mündigen“ zu bezeichnen. Mehr geht nicht!

Adorno zieht sich ohnehin wie ein roter Faden durch das Buch. Einer der prominentesten Köpfe bei Axel Springer hält ihn für einen „der größten Intellektuellen des 20. Jahrhunderts“. Er verteidigt Adorno auch gegen die Vereinnahmung durch die APO der 68er. Adorno habe zumindest in seiner späten Phase bei der APO die gleiche kollektivistische Ideologie verortet, die diese ihrer Elterngeneration so vehement zum Vorwurf gemacht hat:  „Menschen, die blind in Kollektive sich einordnen, machen sich selbst schon zu etwas mit Material, löschen sich als selbstbestimmtes Wesen aus.“ Er glaubt, dass Adorno eigentlich ein Kantianer war, wenn er ihn zitiert mit den Worten: „Soll dabei nicht Unvernunft resultieren, so sind die Fähigkeit und Mut jedes einzelnen, sich seines Verstandes zu bedienen, vorausgesetzt.“ Für Adorno sei Mündigkeit Freiheit vermittels der eigenen Vernunft.

Zuweilen hat man beim Lesen des Buches den Eindruck, dass sich der promovierte Philosoph Poschardt  mit Adorno intensiver beschäftigt hat als mit Denkern wie Ayn Rand, Ludwig von Mises oder Friedrich August von Hayek. Letztere erwähnt er zwar, aber eher zur Abrundung. Gerade da sich das Buch nicht nur an die eigene “Bubble“ richten soll, würde man sich noch etwas mehr Raum für diese Leute wünschen, die ja allesamt auch Außenseiter-Rebellen und mitnichten angepasste Miefköppe waren.

In 16 Kapiteln beschäftigt sich das Buch mit der Mündigkeit – meist aus ungewöhnlicher Perspektive. Hier erfährt der Leser zwischen den Zeilen viel über den Menschen Ulf Poschardt. Über seine Sozialisation, seine Helden und seinen Musikgeschmack. Wenn er über den Autorennsport und die Formel 1 schreibt, dann kommt er fast ins Schwärmen. Da spricht der leidenschaftliche Auto-Nerd.  Wenn seine Helden Ayrton Senna, Alain Prost und Niki Lauda die Grenzen des Möglichen ausgelotet und oft überschritten haben, dann war das auch ein Ausdruck von Mündigkeit, wie sie heute in Zeiten von Fahrassistenten, ABS und Navigationssystemen so kaum mehr möglich ist: „Wer Rennfahrer entmündigt, bekommt Piloten, die mehr an Spieler von Computerspielen erinnern“.

Und wenn er über den Skateboarder philosophiert, der sein Freiheitsbedürfnis rücksichtslos, im Zweifel auch gegen sich selbst, auslebt, dann kann man sich vorstellen, wie der kleine Ulf vor den 1970ern nachmittags mit dem Skateboard auf dem Schulhof durch Versuch und Irrtum sein eigenes Mündigwerden durchlebt. Bei seiner Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Stilrichtungen der Musik ist unschwer zu erkennen, dass er privat weniger Helene Fischer und mehr Rap und Hip-Hop hört. Mündigkeit findet man ja auch weniger im Wohnzimmer als auf der Straße. Er hat viel übrig für jede Art von Rebellentum und schätzt den Willen zu Ausbruch und Wagnis, den man in der Rap-Szene finden kann: „Gegen das verweichlichte Zaudern der Bourgeoisie setzen sie das anarchische Streben der bislang Übergangenen.“

Das wohl beste Kapitel des Buches ist überschrieben: „Der mündige Linke“. Darin wirft er der aktuellen Linken vor, „zwischen Klimapanik und Gleichheitsfetischismus keinerlei Berührungsängste mehr mit der Demagogie der Populisten“ zu haben. „Weite Teile der Linken halten einen sozialistischen Populismus für das richtige Projekt.“ Der Stolz der Arbeiterklasse, das Streben der Mitglieder nach Emanzipation und Aufstieg spiele auch in der kulturellen Praxis der Linken kaum mehr eine Rolle. Er beklagt, dass nicht nur die Linke, sondern alle Parteien, aufgehört hätten, diesen Milieus Aufstiegsszenarien anzubieten. Und hier schließt sich der Kreis, wenn Poschardt über „den mündigen Liberalen“ schreibt und „seine Neigung zum Elitären, Eigenbrötlerischen“ beklagt. Die Liberalen würden „bestenfalls mit älteren, vergeistigten Professoren und Intellektuellen visualisiert“.

Das ist nicht ganz falsch, wird aber doch der Breite der Bewegung nicht ganz gerecht. In der Startup-Szene zum Beispiel wachsen neue liberale Milieus, die etwas wagen und gegen Althergebrachtes ankämpfen, Veränderungen und den Aufstieg wollen. Die Rede von den alten, weißen Männern (die in einer pluralen Gesellschaft ja auch ihren Platz haben!) darf nicht zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung werden. Vielmehr braucht die Sache der Freiheit in Deutschland den vergeistigten Professor wie den Auto-Liebhaber, den freigeistigen Künstler ebenso wie den älteren Unternehmer, der auf seine alten Tage noch mal ein Startup wagt.

Ein Letztes noch: Die Abwesenheit von Zwang als Definition der negativen Freiheit sollte nicht schlecht geredet und durch ein Konzept „positiver“ Freiheit ersetzt werden. Denn damit kann es zu dem kommen, was der leidenschaftliche Verteidiger der Mündigkeit eigentlich vermeiden will: die Unmündigkeit des Einzelnen. Das Konzept der „positiven Freiheit“ ist schon lange das Einfallstor der Regierungen und Politiker, die die Bürger an die Hand nehmen wollen, um sie zu bevormunden. Adorno selbst hat ja mit seinem Konzept der „Negativen Dialektik“ gezeigt, dass die Gefahr gerade im „Positiven“ liegt, weshalb sein bekanntestes Hauptwerk „Minima Moralia“ ja nur aus Negationen besteht. Da dürften sich Liberale und Linke doch eigentlich treffen: in der Kritik von Macht, die – ja! – ein Hauptmerkmal von Mündigkeit ist. Und während die Mächtigen unter dem Vorwand „positiver Freiheit“ ihre Spielräume ausweiten, wissen Liberale und „mündige Linke“, was „negative Freiheit“ vor allem bedeutet: „nicht Gott spielen zu wollen“ (Roland Baader).

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