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Ein genereller Bürokratieabbau ist auch deshalb ein schwieriges Thema, weil Regulierungen oft das Ergebnis von Sicherheitsversprechen sind. Doch gäbe es nicht Möglichkeiten für einen individuellen Bürokratieabbau für Menschen, die mehr Bereitschaft zum Risiko haben?
Bürokratismus ist der Preis der Sicherheit
Alle sind genervt von Vorschriften, Nachweispflichten und dem schieren Zeitaufwand, den Behördengänge kosten. Aber dabei wird oft übersehen, dass viele dieser Lasten nur die Konsequenz aus politischen Versprechungen sind, die von vielen Bürgern willkommen geheißen werden. Auch wenn Bürokratie oft genug ein Eigenleben annimmt, das der Souverän selbst in Gestalt des Parlaments kaum noch zu zwingen vermag, ist doch ein großer Teil des Regelwerkes von ebendiesem Souverän erwünscht und erdacht. Zauberlehrling Vibes. Die zur Wahl Stehenden versprechen Schutz. Und Schutz begehrt der Bürger: Schutz vor Ausbeutung durch gierige Unternehmer; Schutz vor den Auswirkungen der vielen Ungleichheiten der modernen Welt; und Schutz überhaupt vor all dem, was Zufall, Schicksal und der Rat der Götter so in petto haben.
Vermutlich war das Leben in unseren Gefilden niemals in der Geschichte der Menschheit so sicher wie heutzutage. Das liegt natürlich auch am Fortschritt von Wissenschaft und Technik ebenso wie an der Wohlstandsexplosion der letzten zwei Jahrhunderte. Es liegt aber auch daran, dass sich die grundsätzliche Einschätzung von Risiko ändert und mithin die Nachfrage steigt nach einer gütig ordnenden Hand, die uns durch die Fährnisse dieser Welt sicher geleitet, bis wir uns erschöpft in die heimische Couch sinken lassen können. Darüber kann man natürlich ausführlich lamentieren. Denn wenn der Weg von Evolution und Zivilisation von Risikofreude geebnet wurde, ist der jetzige Status wohl ein Rückschritt. Aber statt nur Frust zu schieben, kann man auch nach Schlupflöchern Ausschau halten für diejenigen von uns, die nicht auf der Couch festwachsen wollen.
Freigang aus dem Goldenen Käfig
Dem Gros der Bevölkerung unseres Landes sei (vorerst) ihre Lage gegönnt. Aber die Avantgarde sollte vielleicht die Möglichkeit haben, Freigang zu bekommen aus dem goldenen Käfig. Die Vorstellung, dass man auf eine bestimmte Vorgabe bewusst verzichtet, die einen schützen soll, ist nicht vollkommen abwegig. So sind beispielsweise Kliniken notorisch überlastet, unter anderem weil ärztliches Personal fehlt. Seitdem der EuGH entschieden hat, dass Bereitschaftsdienste zur regulären Arbeitszeit zählen, sind die Verantwortlichen in eine noch stärkere Bedrängnis geraten. Der Ausweg waren individuelle „Opt-Out-Erklärungen“, mit denen Ärztinnen auf die Beschränkung ihrer maximalen Tages- und Wochenarbeitszeiten verzichten. Für die heiß begehrten Fachleute kann sich das auch finanziell lohnen. Und gerade diejenigen, die frisch anfangen oder die jetzt alle Kinder aus dem Haus haben, werden womöglich auch aus Solidarität mit Kollegen oder Patientinnen an einer pragmatischen Lösung mitwirken wollen.
Es gibt hinlänglich Vorschriften, bei denen der Gesetzgeber nach dem Vorbild solcher Opt-Out-Erklärungen standardisiert einen Verzicht auf seine vorgeblich schützende Pranke anbieten könnte. Ein besonders aktuelles Beispiel wäre das Arbeitszeitgesetz, ein veritables Monster, das in den Schränken vieler Büros und Home Offices lauert, um im verstaubt klassenkämpferischen Geiste einem modernen gleichberechtigten Miteinander im Arbeitsumfeld den Garaus zu machen. Viele Arbeitnehmerinnen im Land würden wohl ohne mit der Wimper zu zucken auf das „Recht“ verzichten, sich wieder einer Stechuhr zu unterwerfen – in guten wie in schlechten Zeiten.
Bürokratieabbau durch gutes Beispiel
Ein weiteres Instrument aus den Kreativwerkstätten der Sicherheitsanbieter sind Regulierungen für Anleger. Seit Inkrafttreten der „Richtlinie 2014/65/EU über Märkte für Finanzinstrumente“, kurz MiFID II, vor fünf Jahren müssen sich selbst Anleger mit jahrzehntelanger Erfahrung oder frisch promovierte Finanzmarktexpertinnen bei kleinsten Investitionen mit ihren Bankberatern durch Unmengen an Dokumentationen quälen. Wünschenswert wäre da die Möglichkeit, mit einer Unterschrift zu dokumentieren: „Jo, ich kenn mich aus. Schon ok.“ Um der Vielfalt willen noch ein dritter Bereich, in dem das Leben leichter würde, wenn man einfach kurz auschecken könnte aus dem staatlichen Hochsicherheitstrakt: die Meisterpflicht. Vom Haareschneiden übers Tapezieren bis zum Anbringen des neuen Sonnenschutzrollos: überall wird die Preisgestaltung durch Markteintrittsbarrieren zu Lasten des Kunden nach oben gehen. Warum nicht auch hier, zumindest einmal in all den Bereichen, in denen andere nicht gefährdet werden, die Option geben, den „riskanteren“ Weg zu gehen?
Das ultimative Opt-Out ist die Auswanderung. Zu diesem drastischen Schritt entscheiden sich Menschen aus vielerlei Beweggründen: Dazu zählen Pull-Faktoren wie Arbeitsumstände oder Klima. Aber auch Push-Faktoren wie Steuerlast und politischer Frust. Ein System, das an einigen Stellen wieder Raum zum Atmen ermöglicht – zumindest für diejenigen, die sich gerne auch mal Risiken und Herausforderungen aussetzen –, könnte auch auf diesem Feld den Druck etwas erleichtern. Deutschland sollte nicht nur ein Zuhause für die Rundumversorgten sein, sondern auch für die Abenteuerlustigen. Und vielleicht steckt deren Beispiel ja auch an, so dass die Schlupflöcher sich weiten. Und dann wird irgendwann auch der große Trend im Land wieder stärker von denen geprägt, die sich selbst und ihren Mitmenschen etwas zutrauen.