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Vor ein paar Tagen durfte ich zum ersten Mal der zweijährigen Tochter eines Freundes begegnen. Sie ist ein sehr aufgewecktes Kind, immer am Brabbeln und Herumrennen, und geht normalerweise recht offen auf neue Menschen zu. Als sich das Treffen dem Ende neigte, fragte ihr Vater sie, ob sie mir zum Abschied ein High-Five geben wolle. Sie zauderte; solange bis ihre Mutter ihr lächelnd zuflüsterte: „Du musst nicht.“ Ich bekam kein Abschieds-High-Five. Und trotzdem verließ ich das Treffen beglückt – in dem Wissen, dass die Kleine einmal liberale Werte teilen wird.
Ein zentraler Wert des Liberalismus ist die Eigenverantwortung. Sein Leben selbst in die Hand zu nehmen, und somit über sein Schicksal entscheiden zu können, das ist der große Antrieb, den Liberale auch im Alltag spüren. Er impliziert, dass man nicht darauf warten, soll und noch mehr: nicht darauf warten muss, dass jemand anderes die eigenen Probleme löst, Chancen ermöglicht, die wichtigen Entscheidungen trifft.
Doch Werte existieren nicht in einem Vakuum, sie existieren nicht losgelöst vom Menschen. Werte können uns leiten oder verwirren, in tiefe Verzweiflung stürzen, sich verändern oder unser Fels in der Brandung sein. Wie auch immer wir als Individuen zu verschiedenen Werten stehen, Werte sind fundamentaler Bestandteil unserer Existenz. Gleichzeitig können sie nicht ohne die Fähigkeit des Menschen, abstrakt zu denken und intensiv zu fühlen, bestehen. Daher muss ihr Ursprung in der Natur des Menschen selbst liegen.
Der Wert der Eigenverantwortung lässt sich auf ein bekanntes psychologisches Konstrukt zurückführen: Die Selbstwirksamkeitserwartung. „Unter Selbstwirksamkeit wird die Überzeugung einer Person verstanden, auch schwierige Situationen und Herausforderungen aus eigener Kraft erfolgreich bewältigen zu können“, so der kanadische Psychologe Albert Bandura.
Selbstwirksamkeitserwartungen können generalisiert oder handlungsspezifisch sein und sich in jeder Phase des menschlichen Lebens ändern. Besonders wichtig für die Entwicklung von hoher Selbstwirksamkeitserwartung ist jedoch die Entwicklungsphase, in der sich Kleinkinder befinden. In dieser Phase lernen Kinder Autonomie oder auch Selbstbestimmung. Kleinkinder leben Selbstbestimmung natürlich nicht auf die gleiche Art und nicht in dem gleichen Ausmaß wie Erwachsene aus, aber es gibt einige relevante Entscheidungen, die Kinder in diesem Alter ohne äußeren Zwang treffen können sollten, um sich gesund zu entwickeln.
Im Falle der Zweijährigen war diese relevante Entscheidung, ob sie mir ein High-Five geben will. Was für Erwachsene wie eine Nebensächlichkeit wirken kann, ist für ein kleines Kind oft ein großer Schritt. Einem großen, fremden Menschen ein High-Five zu geben, also mit einer Form von Körperkontakt dieser Person Vertrauen entgegenzubringen, sollte nie als Selbstverständlichkeit eingefordert werden. Die Mutter des kleinen Mädchens hat also alles richtig gemacht, als sie ihr sagte, sie müsse das nicht tun. Dass die Kleine sich am Ende dagegen entschieden hat, also sich getraut hat, selbstbestimmt Nein zu sagen, ist ein großer Erziehungserfolg.
In einigen Jahren wird sich niemand mehr an die Situation erinnern, das kleine Mädchen erinnert sich vermutlich jetzt schon nicht mehr daran. Doch was ihr bleiben wird, ist die Gewissheit, dass sie jederzeit autonom handeln kann und dass ihr Handeln den Ausgang von Situationen beeinflusst. Ich bin sicher, sie wird hohe Selbstwirksamkeitserwartungen haben und somit wird auch der zutiefst liberale Wert der Eigenverantwortung für sie einen hohen Stellenwert einnehmen.
Interessanterweise sind verschiedenste positive Effekte von hoher Selbstwirksamkeitserwartung nachgewiesen, so zum Beispiel eine größere Ausdauer bei der Bewältigung von Aufgaben, mehr Anerkennung in Ausbildung und Berufsleben und eine niedrigere Anfälligkeit für Angststörungen und Depressionen. Liberal sein ist also gesund?
Liberal sein ist auf jeden Fall sehr menschlich. Der Drang dazu, selbstbestimmt und in Freiheit leben zu können, sitzt in unserer DNA. Wenn Liberale also mehr Eigenverantwortung und weniger staatliche Vorgaben für die Bürger eines Landes fordern, wollen sie niemandem schaden. Sie wollen streng genommen lediglich das Kind in den Erwachsenen wiedererwecken. Denn jedes Kind ist ein Freiheitskämpfer – bis man ihm diese großartige Qualität aberzieht.