Photo: Frerk Meyer from Flickr (CC BY-SA 2.0)

Der „Economist“ titelte in der letzten Woche „Is Germany once again the sick man of Europe?“ und zeigte dabei ein grünes Ampelmännchen am Tropf. Damit erinnert das britische Wirtschaftsmagazin an die eigene Titelgeschichte aus dem Jahr 1999, als Deutschland schon einmal als „kranker Mann des Euro“ bezeichnet wurde. Rezession, hohe Arbeitslosigkeit und mangelnde Wettbewerbsfähigkeit prägten die damalige Situation. Kanzler Gerhard Schröder (SPD) reagierte darauf mit dem Schröder-Blair-Papier und den späteren Hartz-IV-Reformen. Es wurde eine Zeit des Aufbruchs aus veralteten Strukturen und Verkrustungen insbesondere am Arbeitsmarkt.

Kern der Reformen war die Zulassung von Zeitarbeitsunternehmen, die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zum Arbeitslosengeld II, und die Verkürzung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I. Der Druck zur aktiven Arbeitssuche wurde damit enorm erhöht. Es waren erstaunliche radikale Reformen, die viel Unmut gerade in den Gewerkschaften erzeugte. Die Reformen hatten auch ihren politischen Preis. Die SPD verlor anschließend nicht nur die Wahl, sondern auch einen Teil ihrer Wählerschaft an die Linkspartei, deren neue Gallionsfigur der vormalige SPD-Vorsitzende und Bundesfinanzminister Oskar Lafontaine wurde.

Die Ausgangslage war besorgniserregend. Das Land stand mit dem Rücken zur Wand. Die hohe Arbeitslosigkeit erdrückte die Sozialsysteme. Das Defizit der Bundesanstalt für Arbeit stieg, der Rentenkasse und den Krankenversicherungen fehlten dringend nötige Beitragseinnahmen. In Deutschland gab es im Jahr 2005 in der Spitze 4,8 Millionen Arbeitslose.  Heute liegen wir, bei wieder steigender Tendenz, bei „nur noch“ 2,6 Millionen. Viel deutlicher wurde die Entwicklung jedoch bei der Anzahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse. Diese waren in der Krisenzeit von 1999 bis 2005 um über 1,1 Millionen zurückgegangen. Seit die Hartz IV-Reformen wirken konnten, stiegen die Zahlen jedoch. Heute liegen wir gegenüber 2005 mit 34,5 Millionen über 8,1 Millionen Beschäftigen höher als damals. Von einem Jobwunder zu sprechen, ist daher nicht falsch.

Doch mittlerweile ist wieder ein Krisenmoment erreicht, an dem, um die Floskel zu bedienen, das Erwirtschaften vor dem Verteilen kommen muss. Die jetzige Wachstumsschwäche Deutschlands ist nur zum Teil externen Einflussfaktoren geschuldet. Die Schwäche der chinesischen Wirtschaft gehört zu diesen Faktoren, die die hohe Abhängigkeit Deutschlands vom „Reich der Mitte“ zeigt. Auch der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine gehört dazu. Die lange Zeit einseitige Abhängigkeit von russischem Gas lässt Wirtschaft und Bürger jetzt ökonomisch leiden. Die Umstellung ist daher ein schmerzhafter Anpassungsprozess.

Doch das allein reicht nicht, um die aktuelle Situation zu begründen. Es hat sich in Staat und Gesellschaft eine Saturiertheit breit gemacht, die neben den geopolitischen Ursachen der aktuellen Rezession höher wiegen. Es gibt eine Reformmüdigkeit die mindestens seit den frühen 2010er Jahren wahrnehmbar ist. Man kann dies gut entlang der Zinsausgaben im Bundeshaushalt betrachten. Hans Eichel (SPD), Schröders Finanzminister, musste 2000 noch Zinsausgaben von 39,1 Mrd. Euro finanzieren. Als Wolfgang Schäuble (CDU) 2010 seinen ersten Bundeshaushalt verantwortete, waren es immer noch 33 Mrd. Euro. Am Ende seiner Amtszeit 2017 reichten 3,9 Mrd. Euro, um den Schuldenberg des Bundes zu finanzieren. Nicht nur das: er konnte im Haushalt sogar teilweise Überschüsse produzieren und dennoch weitere Sozialleistungen wie die Mütterrente und das Erziehungsgeld einführen. Es war ein Schlaraffenland. In dieser Zeit konnte alles auf einmal gemacht werden – Schulden abbauen, Sozialleistungen erhöhen und Bürger entlasten.

Grund für diesen Umstand war die Zinspolitik der EZB. Sie hat zwecks der Finanzierung der Schuldenlast der Staaten in Europa die Zinsen manipuliert und teilweise sogar ins Minus gedrückt. Der wachsende Grad der Globalisierung hat die Inflation gedrückt. Spätestens seit der Corona-Pandemie und dem Ukraine-Krieg ist die Zinswende jedoch eingeleitet. Die Zinsen steigen schnell an, auch die des Finanzministers. Christian Lindner rechnet für das kommende Jahr mit Zinsausgaben von rund 40 Mrd. Euro – wie damals Hans Eichel.

Diese Entwicklung kann man jetzt beklagen. Das wäre aber der falsche Schluss. Denn eigentlich ist dies eine Entwicklung zum Guten. Sie zwingt die Politik, die Wirtschaft, uns alle dazu, über Reform nachzudenken. Das „Schlaraffenland“ in der Zeit von Wolfgang Schäuble als Finanzminister war nicht die Normalität, sondern die Übertreibung. Erst jetzt stehen wir am Beginn einer Entwicklung wieder hin zur Normalität. Diese neue Normalität zwingt uns alle wieder stärker abzuwägen, zu priorisieren und Schwerpunkte zu setzen. Letztlich geht es dabei darum, den Wohlstand von morgen zu sichern. Oder anders ausgedrückt: was gestern verfressen wurde, muss heute und morgen nachgehungert werden.