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Seine Partei sei stets bemüht gewesen, „dem Aberglauben von der Macht des Staates entgegenzuwirken“. Diesen Satz schrieb 1898 der liberale Politiker Eugen Richter und beschrieb damit ein Fundament für liberales Politikverständnis. Regieren lässt es sich in der Tat nicht so leicht, wenn man dem Ideal der Minimierung staatlicher Gewalt anhängt.

Eugen Richter wäre am 30. Juli 185 Jahre alt geworden und wir können das zum Anlass nehmen, wieder einmal seinen unermüdlichen Einsatz für die Freiheit zu dankbar ins Gedächtnis zu rufen. Für deren Verteidigung war er an allen Fronten unterwegs und ließ keine Gelegenheit aus, sich in die Bresche zu werfen. Der Abgeordnete mit Herzblut vertrat zur Zeit des Deutschen Kaiserreichs die Werte des Manchesterliberalismus im Parlament und wurde so für viele zum wandelnden Widerspruch: Er war gegen Sozialisten, aber auch gegen ein Gesetz, das die Arbeit von Sozialisten verbietet. Er wandte sich gegen Antisemitismus, lehnte den Kulturkampf gegen die katholische Kirche ab und sprach sich gegen die Ausweisung von zehntausenden polnischen Bürgern aus Preußen aus. Er nutzte eine Feierstunde für Bismarck, um seinen größten Gegner schonungslos zu kritisieren und machte sich nie die Mühe, für seine Reden zum Rednerpult zu gehen. Sein Stil war einfach und wirkungsvoll: Er stand an seinem Platz auf, sagte was er dachte und wurde bekannt als einer der besten Rhetoriker seiner Zeit.

Staatliche Eingriffe in die Wirtschaft und die Ausweitung der Besteuerung konnten vor Richters kritischem Blick kaum bestehen.

Diese zutiefst liberalen Positionen wurden aufgrund von Eugen Richters Überzeugungsstärke im politischen Alltag nie mit Kompromissen abgeschwächt: „Die Fortschrittspartei“, schrieb er 1898, „ist stets bestrebt gewesen, dem Aberglauben von der Macht des Staates entgegenzuwirken, den Einzelnen auf sich selbst und die eigene Kraft zu verweisen und die Verantwortlichkeit des Staates für das Wohl des Einzelnen zurückzuweisen.“ Aufgrund seines Verständnisses von Liberalismus als einer Idee, die den Menschen befähigt, war für Richter klar, dass die Politik gar nicht allzu viel ‚wirken‘ sollte.

Die Liberalen um Richter horchten alarmiert auf, wenn jemand vorschlug, mit Gesetzen Dinge zu regeln, und jemanden einzuschränken, egal ob Fabrikbesitzer oder Sozialist. Es war ihr Ziel, die wachsende staatliche Macht unter Bismarck zu begrenzen. Mit diesem Ziel vor Augen ergab es bei vielen Entscheidungen keinen Sinn, Kompromisse einzugehen, da jeder „Kompromiss“ unweigerlich zu mehr Staatseingriff geführt hätte. Auch heute noch versucht der politische Liberalismus im Allgemeinen, mehr Gesetze abzubauen als neue zu schaffen und noch heute widerstrebt uns die Kontrolle anderer Menschen, selbst über eine legitimierte Herrschaftsform, im Kern. Doch der Konflikt zwischen Liberalismus und dem Politikgeschäft sitzt noch viel tiefer.

Das Interesse an Machterhalt existiert in unserer parlamentarischen Demokratie genau wie in jedem anderen politischen System. Politiker erhalten Geld, gewisse Privilegien und die Möglichkeit, nach ihren Vorstellungen Einfluss auf das Leben anderer Menschen zu nehmen. Es ist somit logisch, dass Politiker an dem Erhalt ihres Mandats und der Ausweitung ihrer Wählerschaft interessiert sind. Dieser angestrebte Machterhalt kann durch verschiedene Methoden erreicht werden.

Die wohl nachhaltigste Methode, um Macht zu erhalten, erschließt sich, wenn man Politik analog zu Unternehmen betrachtet. Das Produkt sind die Inhalte einer Partei oder die Positionen eines einzelnen Politikers, die Abnehmer sind die Wähler. Besonders gut verkaufen sich Produkte, die eine direkte Lösung für ein Bedürfnis der Käufer bieten. Um das passgenaue Produkt für ein Bedürfnis zu haben, werden aber häufig Bedürfnisse kreiert. So haben die Hersteller von Rasierern beispielsweise ihre Umsätze deutlich gesteigert, nachdem sich das Schönheitsideal für Frauen geändert hatte, und plötzlich die Rasur nicht mehr nur von Männern erwartet wurde.

Nun war Richter vollbärtig. Wo kommen also die Rasierer ins Spiel? Schon in seinem 1865 erschienenen Büchlein „Die Geschichte der Sozialdemokratischen Partei in Deutschland seit dem Tode Ferdinand Lassalles“ prangerte Richter eine Politikmasche an, die sich eine Nachfrage selbst erschafft.

Seine zentrale These in dem Buch lautet, dass Bismarck mit seinem prinzipienlosen Opportunismus maßgeblich für das Heranwachsen der sozialistischen Bewegung mitverantwortlich war. Im Glauben einen innenpolitischen Gegner entstehen zu lassen, der gleichzeitig bezwingbar und öffentlichkeitswirksam sei, habe Bismarck die Bewegung gewähren lassen und in bestimmten Momenten sogar angefeuert. „Die Mehrheit des Reichstages ist ein Angstprodukt der Wähler.“, brachte es Richter 1887 auf den Punkt.

Ängste schüren, um sich dann als Retter in Not zu präsentieren und so Wählerstimmen zu erhalten, ist kein innovativer Ansatz. In jeder Form des Populismus wird er genutzt und wirkt leider zu häufig. Das Schüren von Ängsten widerspricht jedoch dem optimistischen Menschenbild von Liberalen. Dass Richter diese Logik gnadenlos durchschaute und anprangerte, machte ihn zum idealen Oppositionellen.

Es ist nicht im Interesse der Liberalen, neue Probleme zu schaffen. Und wenn Probleme aufkommen, ist es erst recht nicht in ihrem Interesse, die Menschen daran zu hindern, diese Probleme selbst zu lösen. Darum ist ihnen nicht nur die Macht, die andere ausüben ein Graus – sie fremdeln oft selber damit. Aber vielleicht sind sie auch am besseren Ort, wenn sie der Macht gegenüberstehen, als wenn sie sie ausüben. Eugen Richter blieb jedenfalls Zeitlebens ein Oppositioneller und leuchtet mit seiner Überzeugungskraft noch in unsere Zeit hinein.