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Immobilienblasen, Kreditflut, Überhitzung und ein paar externe Schocks. Der „Gründerkrach“ 1873 führte zu einer längeren Phase der Stagnation. Viel dramatischer als die wirtschaftlichen waren aber die politischen Folgen. Die Parallelen zu heute sind fast gespenstisch.
Morgen ließ nicht mehr hoffen
Am „Schwarzen Freitag“, dem 9. Mai 1873 kam die gewaltige Wiener Börse ins Rutschen: 120 von 141 österreichischen Banken gingen an diesem Tag Pleite. Die Schockwellen überquerten den Atlantik, wo Ende September die New Yorker Börse für über eine Woche schließen musste. Und als im Oktober 1873, also ziemlich genau vor 150 Jahren, die Quistorp’sche Vereinsbank in Berlin Insolvenz anmelden musste, wurde es auch für deutsche Anleger und Unternehmen sehr ungemütlich. Das gigantische Wirtschaftswachstum wurde massiv ausgebremst, das durch die Gründung des Norddeutschen Bundes 1867 und des Deutschen Reiches 1871 in Gang gebracht worden war; durch eine liberale Zollpolitik und laissez-faire-Kapitalismus; durch eine globale Boomphase – und auch durch den Zustrom der gigantischen französischen „Reparationen“ von 1.450 Tonnen Feingold.
Auf den Gründerkrach folgten Jahre der Stagnation. Nicht nur wirtschaftlich, sondern auch mental. Wie der Historiker Lothar Gall in seinem Buch „Bismarck. Der weiße Revolutionär“ beschreibt, „begannen jene, die etwas zu verlieren hatten, am Bestehenden, an dem festzuhalten, was vielen gestern noch als eine bloße, rasch zu durchschreitende Durchgangsstation auf dem Weg in eine glänzende Zukunft gegolten hatte.“ Tatsächlich endete eine Epoche freudiger Erregung auf das Morgen. Es endete eine Epoche, in der über mehrere Jahrzehnte hinweg ganz Europa ein wachsendes Freihandelsregime gesehen hatte. Und es endete eine Epoche, in der das freie Spiel der Individuen das bestimmende Paradigma war.
Deutschtümelnde Lobbyisten
Sowohl die maßgeblichen Politiker als auch die Bevölkerung reagierten wie es oft in Krisenzeiten passiert: indem sie sich den sicheren, beherrsch- und überschaubaren Lösungen zuwandten anstatt mutige Reformen in den Blick zu nehmen. So kam es bald zu einer umfassenden Wende in der Handelspolitik. Die heimische Wirtschaft sollte gestärkt werden und unabhängig gemacht von den Einflüssen fremder Akteure wie global tätigen Spekulanten und Börsen. Das führte zwar zu höheren Preisen: so lag etwa der Preis für Getreideprodukte um 1900 bei 130 Prozent des Weltmarktpreises. Doch diese Entwicklung wurde durch die richtigen Narrative bei Weitem überdeckt. Gemeinsam mit der Entdeckung des Deutschtums hielten Bilder von Ähren sammelnden Germanen Einzug in die öffentliche Wahrnehmungsarena. In Dichtung und Lied wurde die Bilderwelt der Romantik aufgewärmt und poliert, und Natur, Heimaterde und gesunde Volkeskraft bestimmten das Selbstverständnis. „Aus Deiner Region“ trug damals nicht Birkenstock, sondern Pickelhaube, erzeugte aber ähnliches Wohlempfinden.
Wie so häufig waren diese Erzählungen die ideale Deckung für knallharten Lobbyismus. Es war ein perfektes Match. Industriemagnaten und ostelbische Junker schwangen sich auf die Antiglobalisierungswellen. Nicht nur die neu eingeführten Schutzzölle kamen ihnen zugute. Vereinigungen wie der Centralverband Deutscher Industrieller lobbyierten für einen bunten Strauß interventionistischer Gefälligkeiten. Ins Gewand der neuen deutschen Größe gehüllt präsentierte man die partikulare Interessenpolitik jetzt als Wohltat für Volk und Vaterland, als Booster nationaler Schlagkraft. Zusammenstehen war jetzt mehr angesagt als Wettbewerb; Kongruenz statt Konkurrenz. So begann die Hochphase von Kartellbildung und Korporatismus im Kaiserreich, die zu einer toxischen Mischung werden sollte, die entsetzlichen Entwicklungen den Boden bereitete.
Die Sündenböcke: Juden, Sozialisten und Liberale
Der schmerzhafte Crash konnte in der Situation selbst nur von wenigen als die erwartbare Konsequenz einer Überhitzung begriffen werden. Frust und oft auch Verzweiflung der unmittelbar Betroffenen suchte sich Sündenböcke. Am härtesten traf es „die Juden“. Antijudaistische Stereotypen vieler Jahrhunderte wurden zunehmend zu antisemitischer Hetze verschärft. „Die Juden sind unser Unglück“ schillerte in den verschiedensten Farben: Spekulanten, heimatlose Globalisten und finstere Gesellen mit undurchschaubaren Absichten. Aber auch die „Sozialisten“ bekamen ihr Fett ab mit der nach ihnen benannten Gesetzgebung. Auch wenn die wohl kaum an der Entstehung von Kreditblasen beteiligt waren, nutzten Bismarck und seine Verbündeten die Gunst der Stunde, dass viele im Land Angst und Wut zum Kanalisieren vorrätig hatten.
Schließlich kam auch der Liberalismus in Deutschland in jenen Jahren so vor die Hunde, dass er sich bis heute noch nicht wieder wirklich erholt hat. In der Zeit nach dem Scheitern der Revolution von 1848 hatte sich nämlich in Deutschland eine intellektuell höchst fruchtbare und lebendige liberale Szene gebildet. Publizisten wie Max Stirner und Julius Faucher trugen bei zur Entstehung des Individualanarchismus und erreichten mit ihren Zeitschriften ein breites Publikum. Unternehmer nutzten den freien Markt nicht nur, sie verstanden und begrüßten ihn. Visionäre Köpfe wie Hermann Schulze-Delitzsch und Franz Duncker machten durch Genossenschaften und freie Gewerkschaften Selbstorganisation zum Standard gesellschaftlicher Problemlösung. Und eine muntere Truppe von glühenden Anhängern des Freihandels mischte sowohl die volkswirtschaftliche als auch die parteipolitische Szene gehörig auf.
Die Leidenschaft für die Freiheit hatte keinen Platz mehr
Die nach dem Gründerkrach um sich greifende gesellschaftliche Panik ebenso wie die Verlockungen der Macht rissen diese liberale Bewegung in viele Stücke auseinander. Manchesterliberalismus wurde zum Kampfbegriff. Liberale Parteien zerstritten sich bitterlich und spalteten sich in regelmäßigen Abständen. Unter Führung von Bismarck wurden Organisationen der eigenständigen und kollaborativen Selbsthilfe, die von liberalen und sozialdemokratischen Aktivisten über lange Zeit aufgebaut worden waren, verstaatlicht. An die Stelle des unternehmerischen Ethos in jeder gesellschaftlichen Schicht trat eine nervöse Überideologisierung, die sich an antisemitischen und anderen Verschwörungstheorien weidete, und Etatismus, Nationalismus und Militarismus in die Köpfe und Herzen einziehen ließ. Das liberale Argument und die Leidenschaft für die Freiheit hatten keinen Platz mehr in diesem Deutschland.
Der Gründerkrach und seine politischen Folgen sind eine bleibende Mahnung an Liberale in Deutschland, ganz besonders in zweierlei Hinsicht: Erstens zeigt diese Episode, wie ungeheuer wichtig es ist, intellektuell vorbereitet zu sein für Krisenzeiten. Man muss in der Lage sein, eine Krise zu erklären und Auswege aufzuzeigen, sonst überlässt man den Verschwörungstheoretikern und den rechten oder linken Ideologen dieses Feld. Und man muss zweitens Kurs halten. Denn die Spaltung der Liberalen und damit ihre Marginalisierung im öffentlichen Raum hatte auch damit zu tun, dass viele dachten, durch Zugeständnisse an die Konservativen und Bismarck etwas von dem retten zu können, was ihnen so lieb war. Womöglich wäre ihnen das eher gelungen, wenn sie für ihre Ideale standfest eingestanden wären. Stattdessen machten sich viele zu Steigbügelhaltern einer zutiefst illiberalen Politik, die katastrophale Folgen zeitigte. Das muss uns eine eindringliche Warnung sein.
Zur vertieften Lektüre empfehlen sich von Fritz Stern „Das Scheitern illiberaler Politik. Studien zur politischen Kultur Deutschlands im 19. und 20. Jahrhundert“, von Lothar Gall „Bismarck. Der weiße Revolutionär“, von Sebastian Haffner „Von Bismarck zu Hitler“ sowie von Ralph Raico „Die Partei der Freiheit. Studien zur Geschichte des deutschen Liberalismus“.