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Der demokratische Staat bevorteilt kleine Interessengruppen. Deshalb sollten gerade diejenigen, denen die Armen am Herzen liegen, eine größere Staatsskepsis an den Tag legen.
Es ist ein schmaler Grat zwischen gesunder Staatsskepsis und abgedrehtem Außenseitertum. „Steuern sind Diebstahl!“ zitieren radikale Libertäre gern den Vordenker der anarchokapitalistischen Bewegung Murray Rothbard. Doch wie weit bringt sie die häufig überheblich vorgetragene Abwertung aller Staatlichkeit? Im Wettbewerb der Ideen erzeugen „Ancaps“ im besten Fall nachsichtiges Achselzucken. Dabei wäre eine maßvolle Staatsskepsis gerade das Gebot der Stunde. Und sie sollte endlich einmal nicht von den üblichen Verdächtigen vorgetragen werden. Viel mehr als der Feind des Porschefahrers ist der Staat nämlich ein Verräter an den Armen einer Gesellschaft. Sie lässt der Staat links liegen und gibt sich dabei noch den Anschein der sozialen Gerechtigkeit. Gerade die Linke, die sich traditionell als Vertreterin der Benachteiligten sieht, sollte deshalb aufhören, mit dem Staat zu kuscheln, und zurückkehren zu ihren anarchischen Wurzeln. Getreu dem Arbeiterkampflied „Die Internationale“ von 1871: „Es rettet uns kein höh’res Wesen, kein Gott, kein Kaiser noch Tribun“.
Nicht Robin Hood, nicht Stationary Bandit …
Linke glauben gerne, der moderne Staat wäre eine Art Robin Hood. Eine gerechte Umverteilungsmaschinerie, die den Reichen nimmt, um den Armen zu geben. Ein von Gutmeinenden in die rechte Richtung gesteuerter sanfter Leviathan. Es ist vermutlich der klügste Schachzug von Konservativen seit Bismarck, sie in diesem Glauben zu bestärken. Um den wahren Charakter des Staates zu erkunden, lohnt ein Blick in das umfangreiche Werk des Amerikanischen Ökonomen und Sozialwissenschaftlers Mancur Olson.
Auf der Suche nach einer schematischen Begründung für die Entstehung von Staaten, beschreib Olson die Phänomene von „roving and stationary bandits“, also umherziehenden und sesshaften Räubern. In einer anarchischen Welt, in der das Recht des Stärkeren gilt, zögen roving bandits durchs Land , um aus der wehrlosen Bevölkerung so viel wie möglich an Gütern zu extrahieren. Dieser Naturzustand halte so lange an, bis ein roving bandit sesshaft und zu einem stationary bandit werde. Als solcher, hätte er nicht nur ein egoistisches Motiv, „seine“ Bevölkerung am Leben zu lassen und vor anderen roving bandits zu schützen. Er stelle gar elementare öffentliche Güter bereit, um die Produktivität und damit das Steueraufkommen seiner Bevölkerung zu steigern. Auf diese Weise werde der Weg in die Zivilisation geebnet.
Alles Räuber? Also sind Steuern doch Diebstahl?
In von Autokraten und Despoten, sprich stationary bandits, regierten Ländern ist Diebstahl an der Bevölkerung tatsächlich eine treffende Beschreibung der Staatsordnung. Man führe sich nur den aberwitzigen Reichtum der Putins und Kim Jong Uns dieser Welt vor Augen. Doch glücklicherweise leben wir in einer gefestigten und von den Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung geleiteten Demokratie. Eine Staatsordnung, die, wenn sie nicht nur zum Schein besteht, Eigentumsrechte effektiv schützt und Bereicherung im Amt nahezu ausschließt. Olson sieht deshalb den demokratischen Staat nicht nur aufgrund seiner bürgerrechtlichen Vorteile jedem autokratischen System gegenüber überlegen, sondern auch aus wirtschaftlicher Sicht. Diese Fragen wurden auch nach seinem frühen Ableben im Jahr 1998 weiter akademisch diskutiert, zum Beispiel in den eindrucksvollen Forschungen des Ökonomen Daron Acemoglu.
… sondern Spielball kleiner Interessengruppen
Wie lässt sich dann also gesunde Staatsskepsis begründen – oder gar als Gebot der Stunde fordern? Werfen wir einen Blick in Olsons Hauptwerk: In „Die Logik des kollektiven Handelns“ zeigt er, warum kleine Interessengruppen größeren an Wirkungsmacht deutlich überlegen sind. Je größer die Interessengruppe, desto größer ist auch der Anreiz zum Trittbrettfahren, will heißen, dass das Individuum nichts beiträgt, aber gleichzeitig mit abkassiert. Zudem sind Trittbrettfahrer in großen Gruppen weitaus weniger sichtbar, größere Gruppen haben höhere Organisationskosten als kleine und erzeugen für den einzelnen weniger Mehrwert. Olson stellt deshalb fest, dass in einer Demokratie nicht die Tyrannei der Mehrheit die große Gefahr sei, sondern diejenige der gut organisierten Partikularinteressen.
Und das kann Anlass geben für eine gesunde Staatsskepsis in Deutschland. Nicht weil der Staat etwa von Natur aus böse sei oder seine Bürger ausraube. Nein: das Problem ist, dass das stetig größer werdende demokratische Staatswessen kleinsten Interessengruppen überbordende Macht gibt.
Der Staat ist nicht der Freund Armen, sondern der Wunderlichen
„Die Armen“ sind deshalb in einer besonders schlechten Position in einem ausufernden demokratischen Staatswesen. Wenn Deutschland auch ein reiches Land ist, gibt es trotzdem ein erhebliches Maß an Menschen in prekären Situationen. Ganz zu schweigen von den fehlenden Ressourcen ist das Trittbrettfahrer- und das Organisationsproblem gigantisch. Ganz anders bei den Kleinen und Wunderlichen. Da ist beispielsweise der Bauernverband, der bisher erfolgreich das Freihandelsabkommen zwischen der EU und Lateinamerika ausbremst und damit den Import von günstigerem Fleisch verhindert. Oder der Apothekerverband, der mit Zähnen und Klauen die Preisbindung für verschreibungspflichtige Medikamente verteidigt, und damit den Verbraucher vor „ruinösem Wettbewerb“ schützt. Der „Verband klassischer Homöopathen Deutschlands“ hat es sogar zuwege gebracht, dass komplett wirkunglsose kleine Zuckerkügelchen von den Krankenkassen als Arzneimittel bezahlt werden – auf Kosten der Sozialversicherungszahler. Diese Liste lässt sich beliebig weiterführen: Der Aufstand der Taxis gegen den günstigen Fahrdienstleister Uber, die als „Industriepolitik“ getarnte Milliardensubventionierung großer Konzerne, die schleichende Enteignung der Kleinsparer durch die Inflations- und Schuldenpolitik … Fast immer schützen effektive Kleingruppen ihre Interessen auf Kosten derer, die es sich am wenigsten leisten können.
Das einzige wirkungsvolle Mittel gegen die Tyrannei der Wunderlichen ist es, Staatshandeln substantiell einzuschränken. Es braucht das Bewusstsein, dass jede Regulierung auch einen Profiteur hat und dass dieser, anders als öffentlich dargestellt, in der Regel nicht „der Verbraucher“ oder „Otto Normalbürger“ ist. Der Staat und sein Handeln verdienen unsere Skepsis. Nicht weil wir ihn ablehnen, sondern weil er einigen wenigen zu viel Macht gibt.