Photo: SpaceShoe from Flickr (CC BY-NC-ND 2.0)

Von Dr. Dagmar Schulze Heuling, Politikwissenschaftlerin an der Freien Universität Berlin, Mitarbeiterin im Forschungsverbund SED-Staat.

Was treibt die griechische Regierung? Beide Lesarten dieser Frage beschäftigen derzeit viele Menschen. Die Antwortversuche zeigen vor allem, dass sich niemand auf ihre Motive und Ziele einen rechten Reim zu machen vermag. Sind Tsipras und Co. einfach nur verrückt, wie Elmar Brok meint? Oder ist das nur der ganz normale Wahnsinn, den wir am griechischen Beispiel so viel leichter erkennen als vor unserer eigenen Haustür?

Seit dem 27. Januar 2015 amtiert die aktuelle griechische Regierung. Noch in der Nacht nach den Wahlen vom 25. Januar hatte sich eine Koalition aus der linken Syriza, dem 2012 zu einer Partei umgewandelten ehemaligen Wahlbündnis, und Anel, einer ebenfalls noch jungen rechtspopulistischen Abspaltung von der Nea Dimokratia, geformt. Mit 36,3% der Stimmen und 149 von 300 Parlamentssitzen hatte Syriza die absolute Mehrheit denkbar knapp verpasst. Doch die nur 13 Sitze, die Anel liefert, reichen für die Mehrheitsbeschaffung aus. Im Gegenzug gab es für Anel den Posten des Verteidigungsministers im ansonsten von Syriza-Mitgliedern oder parteilosen, aber Syriza-nahen Ministern gebildeten Kabinett unter dem Ministerpräsidenten und Syriza-Vorsitzenden Tsipras. Minister ist hier übrigens eine akkurate und keine generische Bezeichnung, denn diese Regierung ist so progressiv, dass sie auf eine Alibifrau im Kabinett verzichten kann.

Im restlichen Europa hat vor allem der Erfolg von Syriza, die sich als Verkörperung des Reformunwillens darstellt, große Bedenken hervorgerufen. Darunter mischt sich etwas Verwunderung über das ungewöhnliche Bündnis zwischen Linken und Rechtspopulisten. Diese Koalition, die gewohnte politische Kategorien sprengt, erschwert eine Einordnung der aktuellen griechischen Regierung. Deren Charakterisierungen gehen dementsprechend weit auseinander.

Mal ist von einem Links-Rechts-Bündnis die Rede, bisweilen fällt die Beteiligung von Anel ganz unter den Tisch und es heißt nur „unter der Führung des linken Ministerpräsidenten Alexis Tsipras“. Der gilt manchen als Revolutionär, anderen als Populist, dritten als Steinzeitkommunist. Das Regierungshandeln ist entweder dilettantisch oder genial, je nachdem, ob man es als von Wunschdenken oder Sachzwängen getriebenes planloses Durchwursteln oder als einen nach allen Regeln der spieltheoretischen Kunst durchkomponierten kalkulierten Regelbruch betrachtet. Dazwischen changiert die Stilisierung der griechischen Regierung als aufrechter Vertreterin ihres Volkes, die Opfer europäischer Hardliner wird.

Darüber hinaus tragen die verwirrenden, einander widersprechenden Verlautbarungen einzelner Regierungsmitglieder ebenfalls nicht zu einem klareren Bild bei. Das Funktionieren, oder besser: das (noch) Nichtauseinanderbrechen der Regierung ist dementsprechend schwierig zu erklären. Realistische Ansätze verweisen dazu auf den individuellen Machtwillen, romantischere Menschen auf die guten Intentionen der Protagonisten. Die überwiegend herangezogene Erklärung lässt sich auf den Nenner bringen „gemeinsamer Feind eint“. Und der Feind, jedenfalls der wichtigste, daran lassen weder Syriza noch Anel Zweifel aufkommen, ist die EU mit „ihrem“ Sparkurs.

Diese Interpretation übersieht jedoch eine zentrale Gemeinsamkeit der beiden Koalitionspartner:

Beide Parteien sind in besonderem Maße Pro-Privilegien-Parteien. Die politische Weltsicht beider Parteien postuliert Privilegien für bestimmte Gruppen. Beide wurden dafür gewählt, um die ihren Anhängerinnen und Anhängern versprochenen Privilegien zu realisieren. Kurzfristig ist das nur auf Kosten der restlichen Eurozone zu realisieren. Damit liegt aber auch auf der Hand, warum die restliche Eurozone nur bis zu einem gewissen Punkt Entgegenkommen zeigen kann. Denn die jeweilige heimische Wählerschaft goutiert zwar durchaus Privilegien für sich selbst, aber nicht so sehr für andere.

Dass Politik nach dem Prinzip der Privilegierung der einen zulasten der anderen funktioniert, ist zugleich der entscheidende Grund, warum die restliche Eurozone sich so schwer tut, eine konsequente, vermutlich unbequeme Lösung der griechischen Wirtschafts- und Finanzprobleme zu entwickeln und zu forcieren. Sicher, auch andere Motive spielen eine Rolle. Bekanntlich ist es die Hoffnung, die zuletzt stirbt und einen Schritt ins Ungewisse, wie der Grexit ihn darstellt, leichtfertig zu unternehmen, wäre sogar verantwortungslos. Solchen und ähnlichen Begründungen für das Nachtanzen einer vorgegebenen Politchoreographie lassen sich immerhin rationale Argumente entgegensetzen. Nur ist das in diesem Fall nicht der springende Punkt. Denn das Hauptproblem besteht darin, dass eine konsequente vernünftige Lösung im Weltbild der Berufspolitik keinen Platz hat. Und dem ist mit Argumenten deshalb nicht beizukommen, weil sich diese in einem Bezugssystem bewegen, das mit der Logik eines berufspolitischen Lebens nicht kompatibel ist.

In der Politik wird man in der Regel nicht für das Respektieren, sondern für das Überschreiten von Grenzen belohnt. Und die Belohnungen, oft eine Grenzüberschreitung für sich, sind nicht ohne. Beispielsweise öffnen sich für Politikerinnen und Politiker Türen, die Normalsterblichen verschlossen bleiben. Allenfalls mit Geld kann man manchmal dorthin kommen, wo sonst die vermeintlich vom Volk Auserwählten unter sich sind. Doch viele der Ausnahmen, die für Politikerinnen und Politiker gemacht werden, sind selbst mit viel Geld nicht zu kaufen. Und dieser Mechanismus gilt keinesfalls nur für das national oder sogar international bekannte Spitzenpersonal, sondern fängt bereits auf der Ebene der Kommunalpolitik an.

Wer also die griechische Regierung verstehen will, sollte das Zusammenspiel der Interessen der sie tragenden Individuen betrachten. Natürlich spielt der Faktor Ideologie dabei eine Rolle, denn gegen langgehegte Überzeugungen zu verstoßen, ist mindestens mit psychischen Kosten verbunden. Es gilt aber auch, dass wer es in ideologischer Hinsicht mit der Konsequenz übertreibt, sich mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit bald durch ein anders Individuum ersetzt finden wird, dessen individuell-rationale Kalkulation den zu erlangenden Privilegien ein größeres Gewicht beimisst als den entstehenden Kosten.

Selbstredend befähigt auch diese Betrachtungsweise nicht zur Hellseherei und erlaubt daher keine Vorhersage der griechischen Politik. Sie lehrt aber etwas viel Wichtigeres:

Die Beschränkung politischer Macht ist nicht nur ein probates Mittel, das Ausmaß politisch induzierter Katastrophen zu begrenzen, sondern ist zugleich auch die einzige Möglichkeit, ihren Nutzen im Spiel des Gebens und Nehmens von Privilegien zu verringern. Das ist zugleich der Grund, warum der Kampf für Machtbeschränkung eine Sisyphusarbeit ist und von keiner Regierung besonders geschätzt wird. Diese Eigenschaft ist wiederum die große Gemeinsamkeit, welche die griechische Regierung und (nicht nur) die restlichen Eurozonenregierungen haben. Die einzige Hoffnung für die arbeitende und steuerzahlende Bevölkerung ist, dass die Differenzen in Sachen Griechenlandrettung so groß werden, dass sie diese Gemeinsamkeit überlagern. Dann bestünde tatsächlich die Chance auf eine gute Lösung des Griechenland-Problems – auch wenn diese der Logik der Politik widerspricht.

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