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In früheren Zeiten waren es die Justizminister, also die Verfassungsminister, die sich als Hüter der Grundrechte im Gesetzgebungsverfahren verstanden. Sie leisteten Widerstand, wenn andere Minister allzu großzügig mit der Einschränkung von Verfassungsrechten umgingen. Sie waren also ein Gegengewicht innerhalb einer Regierung. Nicht ohne Grund werden auch deshalb in einer Koalitionsregierung auf Bundesebene der Innenminister und der Justizminister in der Regel von unterschiedlichen Parteien gestellt. Doch in einer großen Koalition verschwimmen diese bewährten Prinzipien. Zwar werden Innen- und Justizminister aktuell von unterschiedlichen Parteien gestellt, aber heute ist es der Justizminister höchstselbst, der die Meinungsfreiheit massiv einschränkt.

Am Freitag sollte eigentlich der Bundestag in erster Lesung über das so genannte Netzwerkdurchsetzungsgesetz der Bundesregierung, das Verfassungsminister Heiko Maas erarbeitet hat, beraten. Jetzt hat die Unionsfraktion den Gesetzentwurf ihrer eigenen Bundesregierung angehalten. Es müsse substantiell nachgebessert werden. Das ist durchaus ein Zwischenerfolg der Kritiker. Es ist eine Art Notbremse, die die CDU/CSU-Fraktion hier zieht. Denn tatsächlich haben alle Unionsminister im Kabinett und auch das Kanzleramt den Gesetzentwurf aus dem Hause Maas durchgewunken. Es ist ein beispielloser Fall. „Reporter ohne Grenzen“ befürchten „einen unverhältnismäßigen Eingriff in die Presse- und Meinungsfreiheit“. Das Gesetz mache Mitarbeiter sozialer Netzwerke zu Richtern über die Meinungsfreiheit, so der Vorwurf des Journalistenverbandes. Maas will gegen Hasskriminalität und andere strafbare Inhalte vorgehen. Soziale Netzwerke wie Facebook oder Twitter werden verpflichtet, offensichtlich rechtswidrige Inhalte innerhalb von 24 Stunden zu löschen und fragliche Inhalte innerhalb von 7 Tagen zu löschen, in deren Zeit der Verfasser Stellung nehmen oder externe Expertise eingeholt werden kann. Facebook wird so in die Rolle der Sittenpolizei und des Hilfssheriffs der Strafverfolgungsbehörden gedrängt. Die Unternehmen müssen ein Beschwerdemanagement aufbauen und regelmäßig Berichte vorlegen. Bei Nichteinhaltung drohen den Unternehmen Strafzahlungen von bis zu 50 Millionen Euro.

Die Regierung will damit Facebook zähmen und an die Kandare nehmen. Sie glaubt nicht, dass die Nutzer selbst in der Lage sind, ihre Schlüsse aus den Fehlentwicklungen zu ziehen. Das ist schon erschreckend, weil es einem Menschenbild folgt, das die Bürger zu einer stumpfsinnigen Schafherde oder zu einem böswilligen Wolfsrudel degeneriert. Diese Oberlehrerattitüden sind erst der Anfang des fortgesetzten Gangs in den Nanny-Staat.

Im Entwurf ihres Wahlprogramms zur Bundestagswahl wollen die Sozialdemokraten Google und Facebook verpflichten, Inhalte von ARD und ZDF zu veröffentlichen. Eine Zwangsquote Rosamunde Pilcher und Musikantenstadl auf der eigenen Timeline? Claus Klebers „heute-journal“ als Pflichtmitteilung bei jeder Google-Suche? Die Zwangsinformation für alle Nachrichtenmuffel? Wenn immer weniger die Öffentlich-Rechtlichen regulär im TV schauen, müssen die Inhalte halt zu den Zwangsbeitragszahlern gebracht werden. Immerhin müssen ja alle dafür bezahlen, also sollen sie es auch alle sehen müssen. Wer nicht hören will, muss fühlen. So weit weg sind daher die Sozialdemokraten nicht vom Leitkulturgedanken der Union. Sie verstehen nur etwas anderes darunter.

Nicht alles ist gut bei Facebook, Twitter und Co. Wie sollte es auch? Aber deren herausragender Beitrag für die Meinungsfreiheit und -vielfalt und überhaupt für die Demokratie ist unverkennbar. Meinungsdiktaturen in autoritären Regimen überall auf dieser Welt sind viel schwerer durchzusetzen. Informationsasymmetrien, die Despoten in die Lage versetzen, durch Falschinformationen Meinung zu lenken, sind viel weniger möglich.

Auch eine deutsche Regierung verfolgt Interessen mit den Millionenetats ihrer Informationspolitik. Sie wollen in gutem Licht stehen. Sie wollen ihre herkömmlichen Kanäle bedienen. Die Atomisierung dieser Kanäle auf ganz viele Plattformen, Nutzer und Anbieter löst Misstrauen bei den Regierenden aus. Der Missbrauch der neuen Plattformen durch einige wenige wird dann schnell zum Anlass genommen, diese Atomisierung kritisch zu hinterfragen. Staatliche Eingriffe und Regulierungen sollen dann nicht nur die wenigen schwarzen Schafe disziplinieren, sondern auch die Masse lenken.

Gegen diese unlauteren Absichten der Regierenden hilft nur der bürgerliche Protest. Die Vielen müssen sich gegen diese Entwicklung stellen. Und dass dies gelingt, sieht man am heutigen Tag. Doch die Schlacht ist noch nicht geschlagen. Es genügt nicht, Fristen zu verlängern oder einen Halbsatz zu ergänzen. Es braucht gar kein Zensurgesetz im Netz, die Rechtslage ist ausreichend. Daher muss es verhindert werden.

Denn das Netzwerkdurchsetzungsgesetz ist nicht ein Gesetzgebungsverfahren wie viele. Es geht nicht nur um Facebook oder Twitter. Es ist auch nicht eine Bagatelle im Wust von wichtigen anderen Problemen. Es ist der Angriff auf die Grundfesten unserer Demokratie – der Presse- und Meinungsfreiheit. Ohne sie ist alles nichts.

Erstmals erschienen auf Tichys Einblick. 

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Mehr als jeder vierte französische Wähler hat bei der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen für rechts- oder linksradikale Politiker gestimmt. Jetzt ist ein gemäßigter Sozialdemokrat die Hoffnung des Landes und des ganzen Kontinents. Dabei hat Frankreich eine bedeutende freiheitliche Tradition.

Republik und Menschenrechte, Marktwirtschaft und Freihandel

Francois Fénelon (1651-1715) war ein wichtiger Vordenker der Menschenrechte und stand im Frankreich des Sonnenkönigs für individuelle Freiheit ein. Montesquieu (1689-1755) war der Begründer der Theorie der modernen Republik und steht mithin an der Wiege aller freiheitlichen Demokratien der jüngeren Geschichte. Nicolas de Condorcet (1743-1794) trat als einer der ersten für die Gleichberechtigung der Frau ein. Jean-Baptiste Say (1767-1832) war ein mächtiger Fürsprecher unternehmerischer Freiheit. Frédéric Bastiat (1801-1850) ist das Kunststück gelungen, die Ideen der Marktwirtschaft und des Liberalismus so anschaulich darzustellen, dass seine Schriften heute noch klassische Einführungstexte sind. Alexis de Tocqueville (1805-1859) formulierte die Theorie der liberalen Zivilgesellschaft. Michel Chevalier (1806-1879) war der kongeniale Partner des großen Freihändlers Richard Cobden auf der französischen Seite. Andere im Sinne der Freiheit wohlklingende Namen sind Richard Cantillon, Turgot, Olympe de Gouges, Lafayette, Charles Comte und Charles Dunoyer.

Im Laufe des 19. Jahrhunderts und vor allem im 20. Jahrhunderts versiegt diese Tradition zunehmend. In den letzten 100 Jahren stechen mit genialen Gedanken und Schriften noch Bertrand de Jouvenel (1903-1987) und vor allem Raymond Aron (1905-1983) hervor. Danach wird es leider immer dünner … Im Aufbäumen gegen den Absolutismus, Zentralismus und Bürokratismus, der das Land schon vom 17. bis ins 19. Jahrhundert durchdrang, formierte sich zunächst manch anregender und sogar global einflussreicher Widerstand. Ein Denker und ein Ereignis führten jedoch dazu, dass die Idee der Liberté gewissermaßen falsch abbog. Jean-Jacques Rousseau ersetzte den Absolutismus des Königs durch den Absolutismus des Volkswillens. Und die Französische Revolution entartete in eine radikale Tyrannei einer kleinen Gruppe, die sich fatal selbst überschätzte und die Freiheit in einem Blutmeer ertränkte.

Einer der geistigen Führer des Liberalismus des 19. Jahrhunderts

Einer der wichtigsten Kritiker dieser Entwicklung des französischen Liberalismus war der Schriftsteller und Politiker Benjamin Constant (1767-1830), den Friedrich August von Hayek als einen „der geistigen Führer des Liberalismus des 19. Jahrhunderts“ bezeichnete. Constant war ein wahrer Europäer: Geboren in der Schweiz als Abkömmling einer französischen Familie wuchs er unter anderem in den Niederlanden, Brüssel und Großbritannien auf. Er studierte in Erlangen und Edinburgh, wo der Siebzehnjährige mit zentralen Persönlichkeiten der liberalen Geistesgeschichte wie Adam Smith, David Hume und Adam Ferguson Umgang pflegte. Er war mit dem größten deutschen Liberalen jener Zeit, seinem Jahrgangsgenossen Wilhelm von Humboldt, befreundet und übersetzte die Werke Kants ins Französische.

Die Radikalisierung der Französischen Revolution betrachtete er mit zunehmender Sorge. Als die Schreckensherrschaft endete, engagierte sich der Endzwanziger publizistisch für den Aufbau einer freiheitlichen Republik. Nach anfänglicher Unterstützung wurde er auch zu einem scharfen Kritiker Napoleons und nach der Wiederherstellung der alten Monarchie 1815 war er einer der intellektuellen und politischen Führungspersönlichkeiten der liberalen Opposition. Zeit seines Lebens warnte er vor den Gefahren absoluter Herrschaft – ob in Form einer Monarchie oder Demokratie. Er war ein glühender Verfechter von Freiheit der Meinung, der Rede und der Presse. Er verteidigte Markt und Unternehmertum und sprach sich für Non-Zentralismus und Föderalismus aus. Nach seinem Tod rühmten ihn die ehemaligen Sklaven in den französischen Kolonien für seinen Einsatz zu ihrer Befreiung. In Wort und Tat, als Publizist und Politiker war er einer der Leuchttürme in der Geschichte des Liberalismus.

Das Prinzip der Freiheit braucht auch heute Verteidiger

Gegen Ende seines Lebens blickt Constant zurück: „Vierzig Jahre lang habe ich dasselbe Prinzip verteidigt: Freiheit in allen Dingen – in der Religion, der Philosophie, der Literatur, der Wirtschaft, der Politik. Und mit Freiheit meine ich den Sieg des Individuums über eine Autorität, die despotisch herrschen will, wie auch über die Massen, die für sich beanspruchen, eine Minderheit der Mehrheit untertan zu machen. Die Mehrheit hat das Recht, die Minderheit darauf zu verpflichten, die öffentliche Ordnung zu respektieren. Doch alles, was die öffentliche Ordnung nicht stört, was rein persönlich ist wie unsere Meinungen, was als Meinungsäußerung anderen keinen Schaden zufügt, alles was im Bereich der Wirtschaft einem Konkurrenten erlaubt, sich frei zu entwickeln – bei all dem handelt es sich um Ausdrucksformen des Individuums. Und es gibt keinen legitimen Grund, dies staatlicher Gewalt zu unterwerfen.“

Nicht nur für Frankreich, sondern für ganz Europa und die westliche Welt muss man hoffen, dass diese Ideen und Ideale wieder an Bedeutung gewinnen. In einer Zeit, in der die Debatten nur noch um Fragen wie die Leitkultur oder noch mehr Umverteilung kreisen, sind die Stimmen der Freiheit besonders dringend gefragt. Frauen und Männer wie Constant und die anderen oben angeführten Persönlichkeiten haben oft unter erheblichen persönlichen Opfern die Sache der Freiheit verteidigt und vorangebracht. Sie sind das geistige Fundament, auf der unsere freiheitliche Demokratie, unser Rechtsstaat, unsere Marktwirtschaft und unsere offene Gesellschaft stehen. Es ist unsere Aufgabe, dieses Fundament zu erweitern und darauf weiterzubauen – in Frankreich und überall. Denn, so Constant, „ohne die Freiheit gibt es für die Menschen keinen Frieden, keine persönliche Würde, kein Glück.“

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Das Verfassungsreferendum in der Türkei ist eine Mahnung an den demokratischen Rechtsstaat. Er ist nicht gefeit vor grundsätzlichen Änderungen. Wer könnte ein Lied davon singen, wenn nicht wir Deutschen? Grundsätzliche Änderungen der Regierungsform, auch wenn sie sich schleichend vollziehen, sind eine ständige Gefahr. Sie werden häufig für einzelne Personen gezimmert. Darin liegt auch das Dilemma der Türkei. Die neue Präsidialverfassung ist auf den aktuellen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan zugeschnitten. Darin liegt schon ihr grundsätzlicher Fehler. Der Putschversuch am 15. und 16. Juli 2016, nach dem anschließend über 40.000 Personen festgenommen und über 80.000 Beschäftigte im Öffentlichen Dienst ihren Job verloren, bot für Erdogan die entscheidende Begründung, die Machtfülle anzustreben, die ihm das Referendum jetzt zugestanden hat.

Das neue „Präsidialsystem“ wird von AKP-Politikern mit der Verfassung der USA verglichen. Das ist sehr vermessen. Nicht nur, weil die Vereinigten Staaten eine lange und große Verfassungstradition haben, die die Türkei nicht hat. Die US-Verfassung unterscheidet sich auch in sehr grundsätzlichen Fragen von der der Türkei. Die Gründerväter der USA um John Adams, Thomas Jefferson und James Madison mussten seinerzeit einen klassischen Konflikt lösen. Zum einen wollten sie das positive, das eine Regierung verspricht, zulassen, und zum anderen Freiheitsbedrohungen durch die Regierung und ihren Präsidenten verhindern. Aus diesem Anspruch folgten für sie zwei wesentliche Grundsätze.

Erstens musste der Spielraum des Präsidenten und der Regierung beschränkt werden. Zwar gilt der amerikanische Präsident als der mächtigste Mann der Welt, dennoch darf auch er nicht alles. Bei allem Unterschied zwischen Theorie und Praxis ist er an die Verfassung gebunden, Gesetze können von ihm nur verhindert, aber nicht durchgesetzt werden. Sein Regierungshandeln wird von Gerichten überprüft. Unabhängige Medien kontrollieren und kritisieren sein Handeln.

Präsidenten Donald Trump kann ein Lied davon singen. Er stößt permanent an Grenzen. Die Rücknahme von Obama-Care scheiterte bereits zu Beginn seiner Amtszeit im Parlament. Der Einreisestopp für Menschen aus Staaten mit überwiegend islamischer Bevölkerung wurde durch Bundesrichter verhindert. Und die wichtigste Zeitung Amerikas, die New York Times, hat seit seiner Wahl im November ihre Abonnentenzahl um 250.000 auf 3 Millionen erhöht. Der Aktienkurs stieg seitdem um 30 Prozent.

Der zweite Grundsatz der Verfassungsväter war die Einflussbeschränkung des Präsidenten und seiner Regierung durch eine vertikale Machtverteilung. Regierungsmacht wurde auf verschiedene Ebenen verteilt. Sie waren überzeugt, dass es besser ist, wenn Regierungsmacht in Städten, Landkreisen und Bundesstaaten ausgeübt wird, anstatt im fernen Washington. Wer sich dieser Regierungsmacht entziehen wollte, konnte von einer Stadt in die andere ziehen, von einem Landkreis in den nächsten und von einem Bundesstaat in einen weiteren. Wer also mit dem Schulsystem, mit der Besteuerung oder mit der sozialen Fürsorge nicht einverstanden war oder ist, konnte weiterziehen und sich der Macht der lokalen oder regionalen Administration entziehen.

Hier setzt der Politikstil der Erdogans an. Er und seine Helfershelfer wollen Macht zentral ausüben. Sie behaupten, dass Regierungshandeln dadurch viel effektiver werden kann und dies auch im Interesse der Öffentlichkeit sei. Doch wie immer gibt es hier zwei Seiten. Effektives Regierungshandeln kann zum Guten, aber auch zum Schlechten führen. Niemand, auch kein Präsident, weiß alles und trifft immer richtige Entscheidungen. Dennoch müssen alle Bürger dafür geradestehen. Sie haben keine Ausweichmöglichkeiten. Es bringt ihnen nichts, von Istanbul nach Ankara oder nach Izmir umzuziehen. Der lange Arm Erdogans reicht in jeden Winkel der Türkei.

Hinzu kommt, dass selbst die Erdogan-Anhänger nicht die Gewähr haben, ob nicht nach Erdogan ein Präsident an die Macht kommt, der noch viel stärker gegen Grundrechte vorgeht. Vielleicht ändern sich dann die Gegner der Regierung. Wer heute meint, die Unterstützung der Regierung zu haben, wird morgen unter einem neuen Präsidenten vielleicht ebenfalls unterdrückt und verfolgt. Denjenigen, die das „Präsidialsystem“ der Türkei unterstützt haben, muss nicht generell eine böse Absicht unterstellt werden. Die Tragödie ist jedoch, dass diese Entwicklungen häufig von Leuten guten Willens angeführt werden, die dann die ersten sind, die das Ganze bereuen. Daher ist ein Gesellschaftssystem der Machtbegrenzung durch eine horizontale und vertikale Verteilung von Regierungsmacht einem zentralistischen System überlegen. Hier wirken sich Fehlentscheidungen einzelner nicht für alle aus, sondern nur für wenige. Es ist letztlich das Gesellschaftssystem „des Westens“. Dieser Non-Zentrismus existiert nicht nur in den Regierungssystemen moderner Demokratien, sondern ist auch der Erfolg in anderen Gesellschaftsbereichen, in der Architektur, der Wissenschaft, der Literatur, der Kunst und selbst der Religion. Die Marktwirtschaft ist die Voraussetzung für diese Freiheit.

Erstmals erschienen bei Tichys Einblick.

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Bei der Abstimmung in der Türkei hat sich einmal wieder eine starke Spaltung innerhalb eines Landes offenbart. Um dieses weltweite Problem in den Griff zu bekommen, müssen zwei Ideen wieder stark gemacht werden: Dezentralisierung und Depolitisierung.

Die Polarisierung eskaliert

Februar 2014. Die Schweiz stimmt mit knapper Mehrheit für eine Initiative „Gegen Masseneinwanderung“. Die Ergebnisse zeigen deutlich, dass es eine tiefe Kluft gibt zwischen der Bevölkerung in den urbanen Gegenden und der Landbevölkerung. In Basel stimmen über 60 Prozent der Wahlberechtigten gegen die Initiative, im Tessin stimmen nahezu 70 Prozent dafür. Ähnlich dramatische Unterschiede zwischen einzelnen Landesteilen – meist aufgeteilt in Stadt und Land – konnte man bei den Präsidentenwahlen 2013 in Tschechien, 2015 in Polen und zuletzt vor wenigen Monaten in Österreich erkennen. Bei der Abstimmung zum Brexit im vergangenen Juni sprachen sich im Großraum London 60 Prozent der Urnengänger dagegen aus, während die Befürworter eines Austritts aus der EU in ländlichen Gegenden zum Teil ebenso deutliche Zustimmung verzeichnen konnten. Bei der Wahl in den USA konnte Clinton in Kalifornien, Hawaii und im Nordosten der USA bis zu 60 Prozent der Wählerstimmen holen während Trump ähnliche und noch bessere Ergebnisse im Landesinneren erzielte. Die Abstimmung über die Verfassungsreform in der Türkei folgte diesem Trend. Und bei der bevorstehenden Wahl in Frankreich dürften auch ähnliche Tendenzen zu beobachten sein.

Dass es einen zum Teil erheblichen Unterschied im Wahlverhalten zwischen Stadt- und Landbevölkerung gibt, hätte keinen besonderen Nachrichtenwert. Die Wähler in ländlicheren Gegenden waren schon immer etwas konservativer als ihre Mitbürger in den Städten. Mit der jüngsten Verschärfung der politischen Auseinandersetzungen radikalisieren sich aber auch die entsprechenden Milieus in zunehmendem Maße. Persönlichkeiten wie Trump oder Erdogan, aber auch der tschechische Präsidentschaftskandidat Karel Schwarzenberg oder der österreichische Bundespräsident Alexander Van der Bellen polarisieren. Und je stärker sich die eine Seite des Spektrums aus Empörung über die andere in ihrem Lager verschanzt, umso mehr sieht sich die Gegenseite zu einer ganz ähnlichen Reaktion gedrängt. Die Gräben vertiefen sich immer mehr und die Fliehkräfte innerhalb der Gesellschaften nehmen an Dynamik zu.

Ursache: Das Wuchern der Politik

Die Unaufgeregtheit oder gar Langeweile der Politik nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und während der rasanten Globalisierung der letzten 25 Jahre ist nicht nur vorbei, sie verkehrt sich zurzeit ins Gegenteil. Am rechten und linken Rand werden die Profite dieser Entwicklung eingesackt. Und manch ein vernünftiger Mensch stellt gar mit zynischem Masochismus fest, es sei doch zu begrüßen, dass nun endlich wieder Bewegung in die Debatten komme. Das Gegenteil ist der Fall: Gerade die Öde der Politik in den vergangenen Jahren war eine Grundlage für ungestörtes Handeln und Wandeln der Bürger und mithin auch des wachsenden Wohlstands. Weil wir diese apolitische Ära aber nicht künstlich wiederherstellen können, müssen wir nun nach anderen Möglichkeiten suchen, die Spirale der gegenseitigen Radikalisierung auszubremsen.

An der Wurzel des Problems sind zwei Phänomene zu finden, die in den vergangenen Jahrzehnten immer wirkmächtiger geworden sind: Die Verlagerung von Kompetenzen auf Zentralregierungen, insbesondere in klassischerweise föderal strukturierten Staaten wie Deutschland und den Vereinigten Staaten. Und zweitens, auch in traditionell zentralistisch regierten Staaten: Die beständige Ausweitung des Tätigkeitsfeldes von Politik durch Regulierungen und Transfers. Je mehr Entscheidungen getroffen werden und je spezifischer sie sind, umso mehr Gelegenheiten bieten sich für die eine oder andere Gruppe, daran Anstoß zu nehmen. Wenn etwa in der Bildungspolitik die linksliberale urbane Elite für ein ganzes Land die verbindlichen Leitlinien vorgibt, verärgert das verständlicherweise traditionsbewusste Familien. Wenn konservative Politiker ein Betreuungsgeld einführen, stoßen sie damit progressive Bevölkerungsgruppen vor den Kopf.

Frieden durch weniger Politik

In der Politik gilt eben nicht nur das Prinzip: Je mehr man regelt und umverteilt, desto mehr Wählergruppen kann man sich erschließen. Sondern auch: … desto mehr Menschen kann man erzürnen. So entstehen die Gefühle, nicht ausreichend beachtet zu werden, ungerecht behandelt zu werden, marginalisiert oder gar aktiv bekämpft zu werden. Jede politische Entscheidung, die spezifische Vorgaben macht und konkret wird, erhöht irgendwo in der Bevölkerung das Wut-Potential. Und diese Wut richtet sich natürlich gegen die Gruppe, die vermeintlich oder tatsächlich von dieser Entscheidung profitiert. Anstatt nach friedlichem Konsens zu suchen, wird das wichtigste Ziel von Politik nun die Hegemonie, also das Gewinnen von Mehrheiten, um die Gesellschaft im eigenen Sinne fundamental umzugestalten.

Um die Spaltung zu überwinden, müssen wir vor allem an den zwei oben beschriebenen Phänomenen ansetzen: Eine Dezentralisierung, also die Rückverlagerung von Entscheidungskompetenzen auf niedrigere Ebenen kann mehr Pluralismus ermöglichen. Wer mit der politischen Großrichtung in seinem Bundesland, seiner Stadt oder seinem Kanton nicht zufrieden ist, hat bei kleinen Einheiten eine wesentlich einfachere Möglichkeit, dorthin zu wechseln, wo sie oder er sich wohler fühlt. Ebenso wichtig ist eine Depolitisierung. Indem weniger detailliert geregelt wird und weniger umverteilt wird, reduziert man die Gelegenheiten zu Konfrontation. Eine freiheitliche Demokratie ist nicht dann gut, wenn die Leute sich streiten wie die Kesselflicker. Sie ist vielmehr umso besser, je weniger Anlässe es zum Streiten gibt. Denn dort, wo Politik sich einmischt und dem Bürger nicht die eigene Entscheidung überlässt, drohen meist Ungerechtigkeiten, Wut, Spaltung und niemals endende Kämpfe.

Am 20. März ist in der „Edition Prometheus“ beim FinanzBuch Verlag München das Buch „Wie wir wurden, was wir sind. Einführung in den Klassischen Liberalismus“ von Eamonn Butler erschienen.

Die Übersetzung des Buches „Classical Liberalism“ von Eamonn Butler erscheint unter dem deutschen Titel „Wie wir wurden, was wir sind“ und zur rechten Zeit. Denn der Klassische Liberalismus in Deutschland kann eine Selbstvergewisserung gut gebrauchen, ist er doch eine der Quellen dessen, wer wir sind. Eamonn Butler ist Gründer und Leiter des Londoner Adam Smith Institute, Englands führender Denkfabrik für Marktfreiheit und Klassischen Liberalismus. Sein Buch ist aus allgemeiner, doch angelsächsisch gefärbter Sicht verfasst, und das ist kein Nachteil.

Die Ursprünge des Klassischen Liberalismus liegen nämlich im Schottland des 18. Jahrhunderts. Die schottische Aufklärung brachte Persönlichkeiten wie Adam Smith, David Hume und Adam Ferguson hervor, deren Strahlkraft bis heute reicht. Ihre Schriften erreichten im 18. und 19. Jahrhundert auch Kontinentaleuropa und die deutschen Länder. Zur damaligen Zeit galten die klassisch Liberalen als politisch links, weil sie sich gegen die etablierten Autoritäten auflehnten. Sie kämpften für die Herrschaft des Rechts und gegen die Willkür der Obrigkeit.

Ihr entschiedenes Eintreten für den Freihandel sollte nicht den Reichen und Vermögenden zugutekommen, sondern Armut bekämpfen und Frieden stiften. Die Liberalen waren allesamt Marktwirtschaftler und kämpften für die Meinungsfreiheit. Der deutsche Sprachraum wurde ein Hort des Klassischen Liberalismus: Im 18. Jahrhundert waren seine bekanntesten Vertreter Immanuel Kant und Wilhelm von Humboldt, im 19. Jahrhundert John Prince-Smith, Eugen Richter und Hermann Schulze-Delitzsch. Jeder von ihnen stand für etwas, das heute noch Grundlage für eine liberale Gesellschaft ist.

John Prince-Smith machte die Freihandelsidee in Preußen populär. Er gründete Freihandelsvereine und saß im Preußischen Abgeordnetenhaus, später auch im Reichstag. Eugen Richter war der kompromisslose Kämpfer für die klassisch liberale Deutsche Fortschrittspartei im Kaiserreich. Als politischer Gegenspieler des Reichskanzlers Otto von Bismarck, ging er gleichzeitig mit den aufkommenden Sozialdemokraten hart ins Gericht. Er wandte sich vehement gegen die Sozialistengesetze Bismarcks auf der einen Seite, aber auch gegen die Einführung der gesetzlichen Sozialversicherung auf der anderen Seite. Hermann Schulze-Delitzsch war der entscheidende Begründer und Antreiber des Genossenschaftswesens in Deutschland – Hilfe zur Selbsthilfe für Gewerbetreibende, Handwerker und Landwirte, die keinen Zugang zu Krediten hatten. Dieser Grundgedanke des Genossenschaftswesens ist bis heute im Bankwesen, im Gesundheitswesen und im Einzelhandel verankert.

Der Klassische Liberalismus damals wie heute hatte und hat viele Gegner. Sie kommen aus der konservativen wie auch aus der sozialistischen Ecke – die beide dazu neigen, das Althergebrachte zu konservieren und im Neuen nicht die Chance, sondern die Gefahr zu vermuten. Selbstverständlich gilt das nicht überall und im gleichen Maße. Die Konservativen sind häufig ökonomisch aufgeschlossener als die Sozialdemokraten, aber gesellschaftlich rückwärtsgewandt. Die Sozialdemokraten sind oft gesellschaftlich offener für Veränderungen als die Konservativen, aber ökonomisch wollen sie die alte Welt möglichst lange behalten. Letztlich vereint sie aber derselbe Irrtum: Sie trauen dem Einzelnen wenig zu. Sie glauben, dass der Staat die Dinge regeln muss, weil der Einzelne ökonomisch, geistig oder körperlich dazu nicht in der Lage ist.

Wie sieht also die Situation des Klassischen Liberalismus heute in Deutschland aus? Haben die Marktwirtschaft, der Freihandel, der Rechtsstaat und das Individuum noch eine Lobby? Aber ja! Ähnlich wie schon einmal im 19. Jahrhundert weht seit einiger Zeit, inspiriert aus dem angelsächsischen Raum, ein neuer klassisch-liberaler Wind nach Deutschland hinein. Diese Szene ist bunt, jung – und sie wächst. Dem Netzwerk „Students for Liberty“ etwa, 2008 in den USA gegründet, gehören derzeit weltweit über 2000 und in Deutschland über 20 Studentengruppen an, die dem Liberalismus verpflichtet sind.

Sogar Ludwig von Mises’ „Nationalökonomie“ und Friedrich August von Hayeks „Verfassung der Freiheit“ werden wieder neu aufgelegt und von jungen Lesern entdeckt. Die Kenntnisse dieser Klassiker tun gut; denn der deutsche Liberalismus ist in seiner Geschichte bisher niemals an seiner Prinzipientreue und Standfestigkeit gescheitert, sondern immer an seiner Beliebigkeit. Deshalb ist ein festes theoretisches Fundament so notwendig. Und als ein verlässlicher und informativer Stein in diesem Fundament dient das Buch von Eamonn Butler.

Erstmals erschienen in Der Hauptstadtbrief.