Als ich gestern Abend das Haus verließ, wühlte ein Schwarzer in einer Mülltonne vor meinem Haus. Da ging ein junges Paar mit beherzten Schritten auf ihn zu. Ich erkannte die Tüte, die sie mit sich trugen, weil ich mir selbst ab und zu bei dem Italiener um die Ecke Nudeln hole. Als wäre es das Selbstverständlichste in der Welt boten sie dem Mann die Nudeln an.

Das ist Deutschland. Nicht die lärmenden Pegida-Demonstranten in Dresden. Die Berichterstattung der Medien könnte bisweilen einen ziemlich anderen Eindruck entstehen lassen. Dem muss man entgegentreten.

Die meisten sind hilfsbereit, nicht ängstlich

Zehntausende von Menschen haben in den letzten Wochen Zeit, Geld und viel Herz aufgewendet, um den Flüchtlingen zu helfen, die in unser Land kommen. Aber nicht diese viel größere Menge schafft es auf die Titelblätter der Zeitungen und in die Nachrichtensendungen.

Sowohl die vielgeschmähte „Lügenpresse“ als auch die verhasste „Politikerkaste“ verhilft einer lärmenden Minderheit zu einer völlig überproportionalen Präsenz im öffentlichen Diskurs. Dabei übersteigt allein schon bei den Demonstrationen jenseits von Dresden die Zahl der Gegner die der Anhänger von Pegida oft um ein Vielfaches.

Und da sind noch nicht einmal diejenigen berücksichtigt, die nicht auf die Straße gehen, sondern Hand anlegen: Die Flüchtlingen bei Behördengängen unterstützen, die bei der Kinderbetreuung helfen, die Kleidersammlungen organisieren oder für eine Grundausstattung in Flüchtlingsheimen sorgen. Das Land ist voll von hilfsbereiten Menschen – im Kleinen wie im Großen. Und doch richtet sich viel mehr Aufmerksamkeit auf eine lärmende Minderheit. Das verzerrt unsere Wahrnehmung.

Weder Pegida noch Islamisten sind repräsentativ

Verzerrte Wahrnehmung ist aber auch das Problem, das viele Menschen überhaupt erst zu den Pegida-Demonstrationen treibt. Jedes Kind weiß inzwischen, dass gerade in Sachsen der Ausländeranteil mit unter 3 Prozent signifikant niedrig ist – und auch nur eine Minderheit dieser Ausländer Muslime sind. Dass der Anteil der muslimischen Bevölkerung im eigenen Land notorisch überschätzt wird, ist aber durchaus ein Phänomen, das in der gesamten westlichen Welt zu beobachten ist.

Eine große Rolle spielen bei dieser verzerrten Wahrnehmung Ereignisse wie der furchtbare Anschlag auf „Charlie Hebdo“ am Mittwoch in Paris. Unter dem Banner des Islams werden immer wieder Anschläge geplant und leider auch verübt. Dabei sind diese Terroristen im Vergleich zur muslimischen Gesamtbevölkerung wiederum eine verschwindend kleine Minderheit.

Eine überwältigende Mehrheit der Muslime in westlichen Ländern sind ebenso friedliche und auch hilfsbereite Menschen wie die überwältigende Mehrheit ihrer atheistischen oder christlichen Mitbürger. Allerdings sind die Terroristen eben auch eine lärmende Minderheit – viel kleiner noch als die Pegida-Demonstranten, aber im Gegensatz zu diesen brutal, grausam und barbarisch.

Richten wir unsere Aufmerksamkeit mehr auf Liebe als auf Hass!

Pegida und Islamisten sind nicht repräsentativ für Deutsche und Muslime. Aber sie tragen dazu bei, dass eine Spirale der Aggression entsteht. Es liegen Welten zwischen dem verängstigten Rentner aus Dresden und dem hasszerfressenen Attentäter von Paris.

Dennoch geht von beiden eine Bedrohung unserer freien und offenen Gesellschaft aus, auf die wir reagieren müssen. Beide stellen die Idee einer weltoffenen und toleranten Gemeinschaft in Frage – die einen aufgewühlt von Angst, die anderen besessen von Hass. Zum Glück ist diese offene Gesellschaft trotz aller Gefährdung Realität. Sie ist eine Realität, die in Worten und Taten von unzähligen Menschen geschaffen und verteidigt wird.

Es wäre eine vornehme Aufgabe derjenigen, die den öffentlichen Diskurs maßgeblich bestimmen – also der Medien, der Intellektuellen, der Politiker -, dieser Mehrheit in unserem Land eine lautere Stimme zu geben, die unaufgeregt und still unsere Werte lebt und damit verteidigt.

Sprechen wir mehr über die Menschen, die Flüchtlingen helfen. Sprechen wir mehr über die Muslime in unserem Land, die als unsere Nachbarn und Freunde, als unsere Zahnärztin, unser Straßenkehrer oder unsere Kioskbetreiberin unser Leben bereichern. Überlassen wir nicht denjenigen das Feld, die am lautesten schreien.

Natürlich muss man die Gefahren ernst nehmen, die von den Feinden der offenen Gesellschaft ausgehen. Dennoch: die helfende Hand, die Bereitschaft des einzelnen zu Toleranz und Frieden sind wohl ungleich wirksamere Mittel gegen diese Feinde als alle öffentlichen Beteuerungen, Verurteilungen oder Distanzierungen.

Im November 2011 titelte „Charlie Hebdo“ mit dem Bild eines Muslims und eines Karikaturisten bei einem leidenschaftlichen Zungenkuss. Darüber steht: „Die Liebe ist stärker als der Hass“. Diese Botschaft ist das Erfolgsrezept unserer offenen Gesellschaft. Treten wir mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln dafür ein!

Photo: ID Number THX 1139 from Flickr

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