Photo: Mondo79 from Flickr (CC BY 2.0)

Es liegt mal wieder Streikstimmung in der Luft. Sehr viele Menschen in unserem Land können aber nicht einfach mal streiken: Von der Polizistin über den selbständigen Installateur bis zur Betreuerin im Heim für minderjährige Geflüchtete. Ausbaden müssen sie die Streiks aber häufig schon.

Gewerkschaftsfürsten bei der Landshuter Fürstenhochzeit

Das Instrument des Streiks ist altehrwürdig. Jahrzehnte lang war es ein Mittel, um die strategische Schwäche von Arbeitnehmern gegenüber ihren Arbeitgebern von Zeit zu Zeit auszugleichen. Seitdem hat sich das Machtgewicht natürlich erheblich verschoben. Das Arbeitsschutzregime in westlichen Ländern zielt ja gerade darauf ab, da Augenhöhe herzustellen. Und doch wird der „Arbeitskampf“ gerne regelmäßig ausgerufen, um Löhne zu erhöhen, Arbeitszeiten zu reduzieren und andere Vorteile für die Arbeiter herauszuschlagen. Unter Aufwendung des vollen Arsenals frühkapitalistischer Klassenkampfrhetorik laufen Gewerkschaftsfürsten Sturm gegen die Ungerechtigkeiten der reichen Bonzen und Shareholder. Manchmal fühlt man sich geradezu erinnert an die aufwendigen Nachstellungen historischer Schlachten. Dabei geht es oft nicht darum, unhaltbare prekäre Zustände zu beenden, sondern um ganz normale Verhandlungen über Arbeitsbedingungen.

Als kürzlich die Eisenbahnergewerkschaft EVG einen Großstreik ankündigte, waren Gehaltsanpassungen für alle Gehaltsgruppen auf dem Tisch. Dass Mindestlohnbezieher in Zeiten einer munter trabenden Inflation wahrlich guten Grund haben, möglichst bald ihr Einkommen zu erhöhen, steht absolut außer Zweifel. Ob aber die Not für alle Mitarbeiter so drängend ist, dass ein Streik unausweichlich ist? Das deutsche Medianentgelt lag zuletzt bei etwas über 42.000 Euro brutto. Lokführer verdienen zwischen 44.000 und 52.500, Zugbegleiter zwischen 37.000 und 50.000. Womöglich ließen sich in solchen Lohngefilden auch zivilisiertere Formen der Verhandlung finden als Tage lang das Land lahmzulegen. Aber dann entgeht den Gewerkschaftsfürsten natürlich eine bedeutsame Gelegenheit zur Profilierung.

Streik ist Gewalt – oft gegenüber Unbeteiligten

Es ist schon überraschend, wie die Gewaltanwendung, die ein Streik notwendigerweise beinhaltet, in der Regel achselzuckend hingenommen wird. Denn unter dem Streik leiden nicht die „Schurken“ in den Vorstandsetagen, die keine faire Entlohnung rausrücken wollen. Und die Shareholder der Bahn? Nun ja, sie ist in Bundesbesitz, insofern könnte man natürlich schon sagen, dass die Shareholder betroffen sind … Nein, der Streik verhagelt nicht einem schmerbäuchigen Industriellen seine Geschäfte, wie das im Jahr 1873 war. Der Streik belastet Menschen, die ihre kranke Großmutter besuchen wollen; die ein Bewerbungsgespräch haben oder ihr frisch entwickeltes Projekt erstmals Investoren vorstellen wollen. Er belastet Menschen, die aus ökonomischen oder auch aus ökologischen Gründen auf ein Auto verzichten. Er belastet die Lieferketten von Medikamenten und Hilfsgütern für die Ukraine.

Es ist schon überraschend, wie als selbstverständlich hingenommen wird, dass Gewerkschaften immer wieder zu dem extremen Mittel des Streiks greifen, wenn man bedenkt, wie viele Menschen in unserem Land sehr viel mehr Kreativität an den Tag legen müssen, um ihr Einkommen oder ihre Arbeitsumstände zu verbessen. Da sind zunächst einmal viele Beamte, die aus gutem Grund kein Streikrecht haben, aber aus eigenem Arbeitsethos auch nicht das Gefühl haben, das anderen zumuten zu können, weil das Gemeinwesen auf sie angewiesen ist. Dann sind da Menschen, die zwar streiken könnten, aber die ihnen anvertrauten Aufgaben und vor allem Menschen nicht im Stich lassen wollen, weil sie im Altenheim arbeiten oder in der ambulanten psychologischen Beratung in Problembezirken.

Respekt bitte!

Und schließlich sind da noch die vielen Selbständigen im Land: Gartenbauer; Musiklehrerinnen; Kioskbesitzer; Leute, die einen Second-Hand-Laden betreiben; Hausärztinnen; Kinderbuchautoren; Landwirte; Gastwirte; Dachdecker; und der Betreiber des Dönerladens, wo man morgens nach dem Feiern noch einkehren kann. Die können nirgendwo ein höheres Einkommen erzwingen. Die können nicht streiken, um ihr Portemonnaie zu füllen. Ganz im Gegenteil: sie müssen dafür noch mehr arbeiten! Und nicht zuletzt sie werden besonders in Mitleidenschaft gezogen, wenn gestreikt wird. Sie müssen nicht nur die Last tragen, das eigene Einkommen zu steigern, um ihre Familie zu versorgen und mit der Inflation mitzuhalten. Sie werden auch noch gezwungen, die Last der anderen mit zu stemmen.

In den vielerlei Gerechtigkeitsdebatten, die in deutschen Feuilletons und Talk Shows geführt werden, kommen solche Aspekte eigenartigerweise nie vor. Ganz zu schweigen davon, dass die unglaubliche Leistung gewürdigt würde, die solche Menschen für unsere Gesellschaft erbringen: Indem sie Vielfalt ermöglichen, Leben bereichern und verbessern und uns mitunter den Allerwertesten retten, wenn der Keller unter Wasser steht. Unser Land braucht dringend mehr Wertschätzung für die Menschen, die nicht einfach die Arbeit niederlegen können oder wollen. Oder in den Worten des Kanzlers: Respekt. Denken Sie beim nächsten Mal doch daran, wenn Sie die Klavierstunden für Ihre Tochter vereinbaren, den Handwerksnotdienst rufen oder im Blumenladen nebenan noch ein paar Tulpen kaufen.