Klassenkampf

Photo: Ant Rozetsky from Unsplash (CC 0)

Nicht nur Manager sind gierig und rücksichtlos. Ausbeuten ist nicht etwas, das nur Unternehmer beherrschen. Jüngste Vorkommnisse wie der Bahnstreik geben Anlass, darüber nachzudenken, welche Narrative unsere Debatten prägen und wie zutreffend die eigentlich sind.

Selbstbedienungsmentalität können auch Gewerkschaftler

Die Menschen drängeln sich. Dicht an dicht stehen und sitzen sie für Stunden auf engstem Raum zusammen. Die hochansteckende Delta-Variante des Coronavirus findet paradiesische Zustände vor. Bis vor kurzem wäre jede Kultur- oder Gastroeinrichtung, die so etwas zulässt, sofort geschlossen und mit hohen Bußgeldern belegt worden. Neun Tage lang wurden jetzt Millionen Menschen immer wieder in eine solche Lage gebracht – und das in einer Zeit steigender Virus-Inzidenzen und stagnierender Impfbereitschaft. Erinnern Sie sich noch an die Zeit, als man für das Tragen einer OP- anstatt einer FFP2-Maske Blicke erntete, als ob man unmittelbar an der Tötung mehrerer älterer Mitbürgerinnen beteiligt sei? Als junge Menschen, die nach über einem Jahr des Weggesperrt-Seins einen lauen Frühlingsabend im Park genießen wollten, von aufgeregten Journalisten zu Superspreadern stilisiert wurden? Sprechen wir doch mal darüber, welches Ausmaß an Rücksichtslosigkeit die Entscheidung der GDL offenbart, in der derzeitigen Ausnahmesituation einen erheblichen Teil des Bahnverkehrs lahmzulegen.

Aber ging es denn nicht darum, eine gerechtere Behandlung der Bahnangestellten zu erreichen? Zumindest ein Inflationsausgleich wäre doch gerade derzeit durchaus angemessen. Zu den Forderungen, die für die neue Tarifrunde im Oktober vergangenen Jahres erhoben wurden, gehörte aber unter anderem auch eine einmalige Sonderzahlung aufgrund der Pandemie in Höhe von 1.300 Euro. Die ist zwar inzwischen auf 600 Euro hinunter verhandelt worden. Aber auch bei dieser Summe stellt sich noch die Frage, wie eine solche Zahlung berechtigt sein kann für Berufsgruppen, deren Mehrbelastung hauptsächlich darin besteht, im Dienst eine Maske tragen zu müssen (tragen Lokführer Masken?). Während Hunderttausende Selbständige Sorge um ihre Existenz und die Zukunft ihrer Mitarbeiter haben. Während Millionen Menschen in Kurzarbeit sind. Wie nennt man so eine Forderung in Klassenkampf-Sprech? Selbstbedienungsmentalität? Manche Forderungen in den Tarifverhandlungen sind gewiss sehr nachvollziehbar. Doch die Form und Diktion, in der das Gesamtpaket in einer solchen Ausnahmezeit vorgetragen wird, ist nicht anders als dreist.

Benachteiligte sind nicht immer die besseren Menschen

Die Stereotypen sitzen tief und sind in unser kulturelles Gedächtnis eingebrannt: Kaufleute werfen für den Profit ohne Zögern ihr Gewissen über Bord und anschließend Menschen hinterher. Arme sind hingegen schon in den Texten der Bibel meist die Guten und auch in Hollywood-Blockbustern unserer Tage tritt in Charles Dickens-Manier die arme Frau als moralische Heldin auf. Wir haben es hier mit einer Art ästhetischem Klassenkampf zu tun. Es geht gar nicht mehr darum, dass die eine Klasse sich dessen bemächtigen will, was ihr die andere Klasse weggenommen hat. Es geht um eine Abgrenzung von der anderen Klasse, um dadurch Besitzansprüche geltend zu machen. Der GDL-Chef ist kein prekär lebender Arbeiterführer, und die Lokführer, für die er sich einsetzt, verdienen etwa so viel wie der durchschnittliche Deutsche (einschließlich einer Job-Sicherheit, von der Selbständige noch nicht einmal zu träumen wagen). Aber sie nutzen Vokabular und Bilder des Frühkapitalismus, um ihren Anspruch moralisch zu überhöhen. Die Klassen, die hier aufeinander prallen, sind nicht durch Machtunterschiede voneinander zu unterscheiden, sondern fast nur noch durch Narrative.

Ein nicht unwesentlicher Haken in all diesen Narrativen liegt gerade im Anspruch, auf der moralisch wertvolleren, guten Seite zu stehen. Generell sind wir Menschen Lebewesen, die an einem möglichst glänzend polierten äußeren Erscheinungsbild interessiert sind, und die gleichzeitig möglichst wenig Aufwand dafür betreiben wollen. Also eine Art Mischung aus Pfau und Panda. Und wir scheinen umso heller, je dunkler die anderen erscheinen. Der Aufwand ist überschaubar, den man betreiben muss, um den anderen als finsteren Gesellen zu zeichnen, der uns an den Kragen will, das Angst-Schüren und Feindbild-Errichten. Dagegen: Argumente sortieren und stärken; Kompromisse aushandeln; auch mal nachgeben; zuhören, um das große Ganze besser zu verstehen – das sind alles Unterfangen, die unserem gemütlichen inneren Panda viel zu schwer erscheinen. Und darum ist der ästhetische Klassenkampf so ein praktisches Mittel. Man kann sich auf bereits voreingestellte Rollenverteilungen verlassen und muss die Klaviatur-Tasten nur ganz kurz anschlagen. Dabei gerät dann freilich nicht nur die Darstellung der anderen Seite gehörig in Schieflage, sondern auch das Selbstbild, das man zeichnet und womöglich sogar für zutreffend hält.

Die ehrbaren Kaufleute entstauben

Gier, Rücksichtslosigkeit, Heimtücke, Protzen und sogar Ausbeutung sind Unarten, die sich nicht nur bei Managern und Unternehmerinnen finden, sondern auch bei gefühlt oder tatsächlich armen und benachteiligten Menschen. Und natürlich werden nicht wenige Menschen in vorteilhaften Positionen gelandet sein, weil sie ihre Ellenbogen ungehemmt zum Einsatz bringen. Nicht wenige „da oben“ werden durch Macht und Wohlstand auch korrumpiert worden sein. Doch selbst wenn ein Großteil der Reichen und Mächtigen, der Wirtschaftsbosse und Unternehmerinnen von zweifelhafter moralischer Qualität wären, würde das nicht zugleich den Wert der anderen Menschen heben. Tugend ist nicht eine begrenzte Ressource, die dem einen fehlt, wenn der andere sie hat. Anstand ist kein Nullsummenspiel.

Die Versuchung ist da, den Spieß einmal umzudrehen. „Gierige Gewerkschaftsbosse“ – das ist nicht ganz ohne Komik. Aber so würde man am Ende nur die Spirale weiterdrehen aus gruppenbezogener Diskriminierung. Denn, ja, genau das betreiben Menschen wie der GDL-Chef. Es ist bemerkenswert, mit welcher Ruhe und Freundlichkeit die zuständigen Bahn-Mitarbeiter auf die Hetztiraden aus jener Ecke ohnehin schon reagieren. Man kann ihnen gewiss nicht nachsagen, dass sie es eskalieren ließen. Was lässt sich also noch tun? Sprechen wir mehr über Menschen, die Verantwortung übernehmen – ob in der Selbständigkeit oder als Angestellte in Führungspositionen. Hören wir einander aufmerksamer zu und versuchen zu verstehen, was diese Menschen bewegt, wo sie ihren Platz in der Gesellschaft sehen, welche Sorgen sie umtreiben und welche Hoffnungen sie haben. Statt weiter Hass und Spaltung in eine Gesellschaft zu tragen, die sich ohnehin schon als zerrissen empfindet, sollten wir uns zu freundlicher Neugier und Offenheit erziehen. Und diejenigen, denen Gier und Rücksichtslosigkeit unterstellt werden, sollten sich auch trauen, offensiv ihre Motive und Werte zu kommunizieren. Das Bild von den ehrbaren Kaufleuten muss entstaubt werden und zum erneuerten Selbstanspruch werden, der auch nach außen kommuniziert wird. Nehmen wir den ästhetischen Klassenkämpfern den Wind aus den Segeln!

5 Kommentare
  1. Dr. Alexander Dill
    Dr. Alexander Dill sagte:

    Dass der Klassenkampf noch immer existiert, ist Ausdruck eines weit verbreiteten und völlig gerechtfertigten Gefühls der sozialen Ungerechtigkeit. Bahn-Vorstände erhalten Millionengehälter. Die GDL sollte durch ein gemeines Gesetz der Großen Koalition vernichtet werden. Es drohen Niedrigrenten, da Höherverdienende von der gesetzlichen Rentenversicherung ausgenommen werden.
    Ein Lokführer hat 40% Steuern und Sozialabgaben, landet dann bei 2000 netto. Versuchen Sie doch mal, damit eine Familie zu ernähren und eine 4-Zimmer-Wohnung zu mieten!
    Als Unternehmer – und ich bin Vorstand einer AG – kann ich sozialer Ungerechtigkeit keinen wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Vorteil abgewinnen.
    Deshalb: Vive le GDL et le Klassenkampf! Je vote la Gauche! Ehrbare Kaufleute sind Klassenkämpfer – nicht für ihre eigene, sondern für alle Klassen.

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  2. Alexander Stadler
    Alexander Stadler sagte:

    So lange das Geldsystem marode ist, sind alle diese Siege nur temporärer Natur, ein vielleicht eingebildeter Klassenkampf in Wirklichkeit eine Sisyphusarbeit. Unter Applaus werden alle 2 Jahre 3% mehr Lohn erstritten, währenddessen gehen die Assetpreise 30% nach oben. Wobei die Gewerkschaften für die Gehälter aktuell nicht einmal den Inflationsausgleich erstreiten konnten, der neuerliche Abschluss der angeblich so starken IG Metall etwa war beispiellos schlecht und ein Hohn für alle Mitglieder.

    Ohne ein solides, gerechtes Geldsystem leben die Menschen nur in ständiger Illusion des Vorankommens, doch in Wirklichkeit ist es ein ständiges Abrutschen. Man kann zwar für sich selbst aussteigen, in dem man sein Vermögen zum Beispiel in Bitcoin parkt, jedoch ist das Problem der Zentralbanken damit noch nicht gelöst, die das frisch gedruckte Geld direkt an ihre Freunde der Regierung und des Großkapitals verteilt. Es ist planwirtschaftliche Geldpolitik zu Lasten des kleinen Mannes, bis die Hyperinflation diesem Quatsch ein Ende setzt.

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  3. Alexander Schärling
    Alexander Schärling sagte:

    Danke Herr Dr. Dill für diesen Kommentar. Stimme ich uneingeschränkt zu.
    Wo sind eigentlich die, welche nicht nur diese Artikel schreiben – hiervon sind die die Medien „voll“ – sondern die, welche die angeprangerten Missstände ändern ? Vielleicht schreiben div. Autoren auch einmal wie denn sich „selbst bedienende“ Führungskräfte (aber in großem Umfang auch Politiker (!!!) „überzeugt“ werden wollen doch bitte auch mal an die Menschen zu denken…Des Weiteren die Unfähigkeit in weiten Teilen der Politikerkaste. (Man sollte einmal die berufliche Historie einiger Bahnvorstände „beleuchten“…)
    Danke H. Wesselsky für diese Hartnäckigkeit !
    Ach so – ich konnte 2 Besuche nicht durchführen, da die Bahn nicht fuhr. Ich habe diese verschoben und
    mich damit „getröstet“, dass es notwendig ist, zu verzichten, vielleicht auch „etwas leiden“ zu müssen um letztlich eine Veränderung der genannten Missstände zum Positiven zu beeinflussen.
    Etwas noch zur „Enge“ in Zügen und Bahnen : Dies ist nicht nur das Produkt eines Streiks, sondern ebenfalls ein Missstand, welche alle Parteien und Politiker zu verantworten haben: Den „Rückbau“ des Schienennetzes bzw. Abbau der Bahnkapazitäten.

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  4. Ralf Becker
    Ralf Becker sagte:

    Besonders gut auf den Punkt bringt es folgendes Zitat:
    „Der Kapitalismus basiert auf der merkwürdigen Überzeugung, dass widerwärtige Menschen aus widerwärtigen Motiven irgendwie für das allgemeine Wohl sorgen werden.“
    ―John Maynard Keynes

    Beim Kapitalismus besitzen wenige reiche Menschen immer schneller immer mehr Geld und alle anderen Personen haben immer mehr Schulden, die sie nie wieder zurückzahlen können.
    Dumm gelaufen, dass Politiker/-innen sich nicht so richtig mit der Frage beschäftigen, was Geld als solches eigentlich ist.
    Wenn man es dann bedenkt, wie absurd unser Geldsystem ist, dann gibt es doch in Deutschland nicht gerade wenig Steuerberater. Ob dies aber wirklich der geeignete gesellschaftliche Aufstieg ist?

    vgl. TrendsDerZukunft: 18. März 2020
    Belief sich die Zahl im Jahr 2010 noch auf 78110, so sind in der Bundessteuerberaterkammer (BStBK), dem maßgebenden Verband, mittlerweile 87486 Steuerberater registriert.

    Dann gab es in 2016 etwa 37.000 Finanzanlagenvermittler.

    Auch bei der kurz bevorstehenden Bundestagswahl habe ich den Eindruck, dass hier kein Inhaltswahlkampf geführt wird. Die Kandidaten /-innen und deren Inhalte stehen längst fest. Etwa die SPD ist als Medienkonzern eine besonders reiche Partei und sie wirbt mit Großplakaten für eine Politik, deren genaue Funktionsweise die meisten Menschen nicht im Detail kennen und allenfalls nur erahnen.

    Aber nicht nur die SPD setzt auf Medienbesitz. Etwa der Investor KKR beteiligt sich etwa an Axel Springer. Dann hatte der Trump- und Netanjahu-Gönner Sheldon Adelson Teile von Israels Presse gekauft.
    (vgl. Focus, 08.12.2020, Ex-General behauptet: USA und Israel stehen in Kontakt zu Aliens – Trump weiß Bescheid)

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