Photo: Dorotheum from Wikimedia Commons (CC 0)
Von Prof. Roland Vaubel, emeritierter Professor für Volkswirtschaftslehre und Politische Ökonomie an der Universität Mannheim.
Weshalb ging die Reformation von Deutschland aus, und weshalb erfasste sie als nächstes die Schweiz und die Niederlande? Weshalb gelang die Reformation nicht schon vorher in Großstaaten wie Frankreich oder England, obwohl es dafür durchaus Ansätze gab? Die Katharer in Frankreich wurden regelrecht ausgerottet, und John Wycliffe in England wurde von der englischen Kirche zum Ketzer erklärt. Der deutsche Sprach- und Kulturraum war für die Reformation “prädestiniert”, weil er nicht in einem Großstaat vereint, sondern politisch fragmentiert war. Reformatoren, die verfolgt wurden, konnten sich relativ leicht im selben Sprach- und Kulturraum in Sicherheit bringen oder – wie Martin Luther – in Sicherheit gebracht werden. Die Grenze war nicht weit, und die Aussicht, anderswo in einer ähnlichen Umgebung leben und wirken zu können, ermutigte die religiösen Querdenker, gegen die herrschende Lehre und Kirche zu protestieren. Anders als 1415, als Jan Hus in Konstanz auf dem Scheiterhaufen endete, war diesmal auch der Zeitpunkt günstig, denn der katholische Kaiser wurde von 1521 bis 1544 in fünf Kriege mit dem französischen König verwickelt, der sich mit aller Kraft und ohne religiöse Scheuklappen gegen die habsburgische Umklammerung zur Wehr setzte, und 1529 standen die Türken vor Wien!
Man kann sich fragen, weshalb nicht auch das politisch fragmentierte Italien für die Reformation prädestiniert war. Im 15. Jahrhundert hatten die humanistischen Freigeister in einigen der italienischen Stadtstaaten Schutz vor der Inquisition gefunden. Aber die Reformation wurde von keinem italienischen Herrscher unterstützt. Die wenigen italienischen Reformatoren, die es gab, flohen in die Schweiz und nach Süddeutschland oder wurden in Rom hingerichtet. Zwei Erklärungen drängen sich auf. Zum einen ist das römische Papsttum eine italienische Institution, auf die die Italiener zu allen Zeiten stolz waren. Anders als in Deutschland wäre man in Italien kaum auf die Idee gekommen, dem Papsttum die Existenzberechtigung abzusprechen. Zum anderen wurden die Zustände, die damals im Vatikan herrschten, wahrscheinlich von den meisten Italienern nicht als so skandalös empfunden wie von den strengen Deutschen, Schweizern und Niederländern.
Dass die politische Fragmentierung des deutschen Sprach- und Kulturraums die Reformation ermöglichte, weil sie den Verfolgten Zuflucht bot, ist eine plausible Hypothese, aber lässt sie sich auch empirisch belegen? Sind tatsächlich innerhalb des deutschen Sprach- und Kulturraums zahlreiche Reformatoren durch Flucht in ein anderes Herrschaftsgebiet der Verfolgung entgangen?
Um diese Frage zu klären, habe ich die Biographien der Reformatoren und prominenten Reformationsunterstützer in dem von Klaus Ganzer und Bruno Steimer herausgegebenen “Lexikon der Reformationszeit” (Herder 2002) ausgewertet und die Angaben anhand von Wikipedia überprüft und ergänzt. Ich habe dreizehn solche Fälle gefunden. Die bekanntesten Flüchtlinge sind Ulrich von Hutten und Martin Bucer, der Straßburger Reformator. Zwei flohen zu Luther nach Wittenberg, zwei zu Zwingli nach Zürich. Nicht mitgezählt habe ich diejenigen, die aus dem Gefängnis entkamen, denn diese Möglichkeit war unabhängig von der politischen Fragmentierung. Nicht berücksichtigt habe ich außerdem die zahllosen Theologen, die nicht verfolgt, sondern “nur” ihres Amtes enthoben und/oder ausgewiesen wurden, obwohl auch sie sich wahrscheinlich durch die leichte Verfügbarkeit alternativer Wirkungsstätten ermutigt gefühlt hatten. Vielleicht gilt dies sogar für Martin Luther, obwohl dieser sich nicht selbst in Sicherheit brachte, sondern vom sächsischen Kurfürsten Friedrich dem Weisen auf der Wartburg versteckt wurde.
Zu unserer Hypothese passt jedoch nicht, dass zehn Reformatoren vorübergehend und vier für den Rest ihres Lebens eingekerkert wurden und dass vierzehn ihren Protest mit dem Leben bezahlten. Auf dem Scheiterhaufen endeten Reformatoren in Heide (1524), Passau (1527), Wien (1528), Köln (1529), Genf (1553) und Overijssel (1580). In Münster wurden 1535/36 vier Wiedertäufer hingerichtet bzw. auf der Stelle getötet. Ohne die politisch ambitionierten Wiedertäufer, die ja den Gottesstaat auf Erden errichten wollten, vermindert sich die Zahl der Hinrichtungen auf sechs. Die Verhaftungen und Hinrichtungen verdeutlichen, wie wichtig es für die Reformatoren war möglichst leicht fliehen zu können, auch wenn dies nicht immer gelang.
Da die Flucht vor Verhaftung in dreizehn Fällen glückte, aber in 28 Fällen (= 10 + 4 + 14) unterblieb, scheint der Befund eher gegen unsere Hypothese zu sprechen, obwohl einige Reformatoren wahrscheinlich bewusst auf die eigentlich mögliche Flucht verzichteten. Aber vielleicht war das Verhältnis der Fluchthäufigkeit zur Zahl der Gefangennahmen und Hinrichtungen in den europäischen Großstaaten noch niedriger? Das Lexikon der Reformationszeit berichtet auch über die Reformatoren und Reformationsunterstützer in den anderen europäischen Ländern, jedoch – soweit ich erkennen kann – weniger detailliert. Die Fallzahlen sind vermutlich nach unten verzerrt. Aber das gilt sowohl für die Fluchthäufigkeit als auch für die Verhaftungen und Hinrichtungen. Die Verzerrung verschwindet, wenn man die Fluchthäufigkeit ins Verhältnis zur Zahl der Verhaftungen und Hinrichtungen setzt – also skaliert. Da Hinrichtungen eher berichtet werden als Verhaftungen, beschränke ich mich – auch der Einfachheit halber – auf das Verhältnis der Fluchthäufigkeit zur Zahl der Hinrichtungen. Um die Vergleichbarkeit zu verbessern, lasse ich die Hinrichtungen der politisch gefährlichen Wiedertäufer weg. Die resultierende Verhältniszahl bezeichne ich als “relative Fluchthäufigkeit”. Im deutschen Sprach- und Kulturraum beläuft sie sich auf 2,2 (= 13/6).
Für den zu dieser Zeit bereits hochzentralisierten Großstaat Frankreich vermeldet das Lexikon sechs flüchtige Reformatoren und prominente Reformationsunterstützer. Der bekannteste unter ihnen ist zweifellos Jean Calvin, der 1533 von Paris in die Schweiz floh. Das Lexikon nennt namentlich nur drei getötete Reformatoren oder Reformationsunterstützer, schätzt aber die Zahl der in der Bartholomäusnacht (1572) in Paris umgebrachten Protestanten auf 3.000 bis 4.000. Die Pariser Bartholomäusnacht ist für unsere Hypothese nicht relevant, denn die Opfer des Massakers waren nicht deshalb nicht geflohen, weil dies besonders schwierig gewesen wäre, sondern weil sie eingeladen waren und nicht mit diesem Vertrauensbruch rechneten. Anders war es in der Provinz. Dort wurden laut Lexikon wenig später 5.000 bis 10.000 Protestanten umgebracht. Nicht alle waren Reformatoren oder prominente Reformunterstützer. Die meisten waren einfache Protestanten. Aber selbst wenn unter den Tausenden von Opfern nur hundert Theologen und prominente Reformationsunterstützer gewesen wären, beliefe sich die relative Fluchthäufigkeit in Frankreich auf 0,06 (=6/103) und wäre damit sehr viel niedriger als im deutschen Sprach- und Kulturraum.
Für England nennt das Lexikon ebenfalls sechs gelungene Fluchtversuche, drei unter Heinrich VIII. (vor dessen Bruch mit Rom) und drei unter Maria I., der Katholischen. Drei Flüchtlinge gingen nach Deutschland. Der bekannteste ist der schottische Reformator John Knox, der vor der Flucht in England lebte. Das Lexikon nennt namentlich sechs protestantische Theologen, die hingerichtet (verbrannt) wurden: drei unter Heinrich VIII., drei unter Maria der Katholischen. Das Lexikon berichtet, dass Maria die Katholische darüber hinaus etwa 300 prominente Unterstützer der Reformation hinrichten ließ. Damit ergibt sich eine relative Fluchthäufigkeit von 0,02 (=6/306).
Aus Schottland floh ein Reformator, zwei wurden hingerichtet. Das läuft auf eine relative Fluchthäufigkeit von 0,5 (=1/2) hinaus.
Im Reich der Habsburger – hier ohne Österreich, das ja zum deutschen Sprach- und Kulturraum gehört – gelang siebenmal die Flucht, vier Reformatoren wurden hingerichtet oder fielen einem kirchlichen Attentat zum Opfer (darunter ein Wiedertäufer). Die Flüchtlinge wandten sich nach Genf, Wittenberg, Nürnberg, Paris und London. Als relative Fluchthäufigkeit ergibt sich das Verhältnis 2,3 (=7/3). Das ist geringfügig höher als im deutschen Sprach- und Kulturraum und könnte daran liegen, dass die nicht-österreichischen Besitzungen der Habsburger damals weit über Europa verstreut waren. Verfolgte konnten sich entsprechend leicht in Sicherheit bringen.
Die Ergebnisse für die kompakten europäischen Großstaaten Frankreich und England und für Schottland stützen jedoch unsere Hypothese: Die relative Fluchthäufigkeit war dort wesentlich geringer als im politisch fragmentierten deutschen Sprach- und Kulturraum.
Die von Deutschland ausgehende Reformation eröffnete einen Wettstreit der Konfessionen und war grundlegend für den Geist der Meinungsfreiheit, der in den folgenden Jahrhunderten das europäische Innovations- und Wirtschaftswunder möglich machte. Vielleicht war die Reformation Deutschlands größter Beitrag zu diesem Wunder.
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