Photo: Dave from Flickr (CC BY-ND 2.0)

Charles Dickens‘ weltberühmte Erzählung „A Christmas Carol“ von 1843 ist eine fundamentale und zu Herzen gehende Kritik des beginnenden Kapitalismus. Manche Probleme hat der sozialkritische Schriftsteller richtig erkannt. Leider schießt er am Ende aber auf Pappkameraden.

Die Macht der Bilder

Wir Menschen, auch die mehr vergeistigten unter uns, reagieren stark auf Bilder und Erzählungen. Die Botschaften, die sie vermitteln, sind in der Sprache von Akademikern und Intellektuellen oft sperrig und kompliziert. Wenn sie aber mithilfe einer anschaulichen Erzählung transportiert werden, bekommen sie existentielle Plausibilität. Abstrakte Theorien werden dann anschaulich und nachvollziehbar, appellieren an unsere Emotionen, die immer noch einen Großteil unserer Entscheidungen bestimmen. Vielleicht haben Charles Dickens‘ Romane mehr zum Erfolg sozialistischer Ideen beigetragen als die Schriften von Karl Marx.

In seiner Erzählung beschreibt Dickens, wie der Geizhals und Ausbeuter Ebenezer Scrooge mit Hilfe von Geisterbegegnungen in der Weihnacht seinen Lebenswandel radikal ändert. Der erste Geist, der seines verstorbenen Geschäftspartners, führt ihm vor Augen, dass er sein jenseitiges Leben nunmehr in Ketten führen muss, die er sich selbst durch seine Geldgier auf Erden angelegt hat, und warnt seinen alten Kollegen, dass ihm dasselbe Schicksal drohe. Der Geist der vergangenen Weihnacht bringt Scrooge in Erinnerung, welche Chancen auf ein frohes und gutes Leben er durch seine Lieblosigkeit bereits verpasst hat.

Der Geist der gegenwärtigen Weihnacht zeigt dem misanthropischen Geschäftsmann Menschen aus seiner Umgebung – seinen Angestellten, seinen Neffen, seine Nachbarn –, die er allesamt schlecht behandelt hat und die, obwohl zum Teil in elenden Situationen, doch ein frohes Fest im Kreis ihrer Lieben feiern. Der Geist der künftigen Weihnacht schließlich offenbart Scrooge wie sich nach seinem Tod nicht ein Mensch findet, der sein Hinscheiden bedauert. Nach diesen Geisterbegegnungen entschließt sich der alte Mann dann, sein Leben von Grund auf zu ändern. Die Geschichte schließt damit, dass er seinem Angestellten eine kräftige Gehaltserhöhung verpasst.

Das Zerrbild des bösen Unternehmers

Viel Wahres steckt in dieser Geschichte. Geld macht nicht glücklich. So banal diese Aussage klingt: durch unser eigenes Verhalten widersprechen wir dem oft genug. Übrigens machen sich keineswegs nur geldgierige, geizige, böse alte Säcke bisweilen etwas zu viel Gedanken um Geld … Tatsächlich sind Familie, Freundschaften und ein freundliches, zugängliches Wesen oft viel wichtiger, um glücklich zu werden als prall gefüllte Kassen. Leider vergaloppiert sich Dickens allerdings am Ende seiner Reichenschelte.

Ebenezer Scrooge ist nämlich im Rahmen der Erzählung – und erst recht im Kontext von Dickens‘ Gesamtwerk – mehr als nur ein fehlerhaftes Individuum. Er ist vielmehr ein menschgewordenes Klischee. Und auch das nicht etwa ganz allgemein für jeden Geizhals, sondern speziell ein Klischee, ja ein Zerrbild, des Unternehmers. Und das ist der Punkt, wo die Geschichte kippt. Denn mit seiner bildgewaltigen Erzählung bewirkt Dickens auch, dass die Leser subtil den Eindruck vermittelt bekommen: Arme und einfache Leute seien reichen Menschen moralisch überlegen. Nicht aufgrund ihrer persönlichen Qualitäten, sondern weil sie arm und benachteiligt sind.

Nur Individuen sind gut oder böse

Kein Mensch ist gut oder böse wegen seiner Umstände, seines Berufs, seiner Klassen-, Rassen- oder Geschlechtszugehörigkeit: Weder der Flüchtling noch die Managerin, weder die Rollstuhlfahrerin noch der Millionenerbe. Menschen tun Gutes oder Böses. Ihr Handeln definiert sie moralisch und nicht ihre Gruppenzugehörigkeit. Einer der großen Irrtümer des Sozialismus war immer dessen Denken in Klassen. Sobald Menschen pauschal zugeordnet werden, besteht immer die Gefahr, dass man den Angehörigen der einen Gruppe die Rolle der Guten und den der anderen die der Bösewichte zuweist.

Lesen wir Dickens‘ Weihnachtsgeschichte mit leicht korrigierten Augen! Dann können wir tatsächlich etwas lernen darüber, was das Leben schön und wertvoll macht. Behalten wir nur beim Lesen im Hinterkopf, dass auch ein Armer, dass jeder von uns, hartherzig sein kann. Und vor allem auch, dass es viele privilegierte Menschen gibt, die sich ihres Privilegs wohl bewusst sind und es als Verantwortung begreifen. Eine Generation nach Charles Dickens schrieb der reichste Mann seiner Zeit, Andrew Carnegie, den Satz: „Der Mann, der reich stirbt, stirbt in Schande.“ Diese Überzeugung ließ ihn zu einem der bedeutendsten Philanthropen in der Geschichte werden. Schade, dass Dickens nicht mehr erleben konnte, wie seine Erzählungen von der Realität widerlegt wurden.

2 Kommentare
  1. Maximilian Tarrach
    Maximilian Tarrach sagte:

    Guter Artikel! Bis auf das letzte Zitat, da nichts Verwerfliches daran ist, reich zu sterben und damit viel zu vererben.

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  2. Marcus Eschbaumer
    Marcus Eschbaumer sagte:

    Gelungener Text … ich möchte ihn an dieser Stelle um einen zusammenfassende Aussage des „wahren Geistes der Weihnacht“ erweitern: „An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen.“

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