Photo: Deutsche Fotothek from Wikimedia Commons (CC BY-SA 3.0 DE)

Es ist Sonntag, der 26. März 2023, im schönen Halle an der Saale. Gemeinsam mit Hunderten anderer Junger Liberaler bin ich für unseren Bundeskongress angereist. Jetzt sitzen wir in einem Saal und diskutieren mehr als 30 Jahre nach der Wiedervereinigung mitten in der ehemaligen DDR einen Antrag, der fordert, DDR-Symbole zu verbieten. Viele Argumente werden ausgetauscht, am Ende wird der Antrag abgelehnt. Die Begründung: Ja, die DDR sei eine grauenvolle Diktatur gewesen, aber der Staat könne nicht alle Diktatur-Symbole verbieten. Dass die DDR ausschließlich schlecht war, wird in der Debatte nicht in Frage gestellt.

Ich verlasse diesen Kongress mit einem seltsamen Gefühl und mache mich auf den Weg in meine Heimat Sachsen-Anhalt, die Familie besuchen. Wie die anderen Kongressteilnehmer auch, kenne ich die Darstellung der DDR aus dem Geschichts-Lehrbuch. Sie war eine Diktatur, Menschen wurden bespitzelt, eingesperrt und getötet. Dann wiederum kenne ich die Erzählungen meiner Eltern und Großeltern, Erzählungen von DDR-Zeitzeugen, die viele andere vermutlich nicht kennen. Definitiv sind diese nostalgischen und vollkommen subjektiven Berichte mit Vorsicht einzuordnen. Doch bin ich überzeugt, dass es mehr denn je notwendig ist, sie anzuhören, wenn wir dafür sorgen wollen, dass die Mauer, die immer noch im Kopf vieler Menschen besteht, Stück für Stück abgebaut wird.

Meine Mutter frage ich noch an diesem Sonntag Abend beim Essen: „Was wolltet ihr damals eigentlich am liebsten haben?“ Die Antwort sei einfach. „Bananen“ sagt sie. Wenn es Bananen gab, standen die Leute vor dem Laden Schlange. Und auch nach dem Mauerfall seien Menschen mit ihren leeren Trabis nach Westberlin gefahren und mit vollen Trabis zurückgekommen – voll bis unters Dach mit Bananen. Ich muss schmunzeln. Bei all den Dingen, die den Menschen hier gefehlt haben, ist die Banane zum Symbol der Marktwirtschaft geworden. Und nicht nur zum Symbol der Marktwirtschaft, sondern zum Symbol für die Vorzüge internationalen Handels, offener Grenzen, Wachstums, kurzum zum Symbol des „Kapitalismus“. Zurecht: Denn wie viele Produktionsschritte, wie viele Handelsabkommen und wie viele Freiheiten braucht es, damit es die Banane von der Plantage bis auf den deutschen Küchentisch schafft? Dagegen ist es doch verhältnismäßig einfach, mit nur einer Freiheitseinschränkung diesen langen Weg zu unterbrechen. Eine ganze Nation hat Hunger – auf Freiheit.

Es bestätigt sich also, dass die damaligen DDR-Bürger im Kern das marktwirtschaftliche System herbeiwünschten, einige womöglich heute noch, ohne es zu wissen. Wenn man sie fragt, bestreiten viele das auch nicht. Mein Großvater erzählt von seiner Mutter, die einen Laden führte, in dem es an seltenen, glücklichen Tagen auch mal Bananen gab. An deutlich mehr Tagen gab es Erdbeeren. Voll Stolz erklärt er, der Laden seiner Mutter sei immer so gut gelaufen, weil sie gewusst habe, was die Menschen gerade essen wollten. Sie habe in der Erdbeer-Saison einfach einen Deal mit dem Bauern aus dem Nachbardorf gemacht und mehr Erdbeeren bestellt als planmäßig vorgeschrieben. Wieder standen die Leute Schlange.

Und während privatwirtschaftliche Unternehmen in einem sozialistischen System gar nicht hätten existieren sollen, gab es sie doch. Und mehr noch, sie haben besser funktioniert als propagiert. Mein Großvater stimmt mir vorbehaltlos zu: Unternehmertum, dafür brauche man ein gewisses Gespür. Der Staat könne das nie imitieren, meint er. Von Enteignungen hält er übrigens auch nichts, das sei Diebstahl, er habe es erlebt.

Wem nun noch nicht klar ist, dass DDR-Bürger den Markt geliebt haben, der sollte sich einmal mit der schieren Größe des damaligen Schwarzmarktes beschäftigen. Fast alles wurde unter der Hand gehandelt, von Lebensmitteln bis hin zu Fliesen. Und ein großer Teil der Arbeit wurde unnotiert verrichtet. Denn was hat der Staat sich einzumischen, wenn der Nachbar einem das Zimmer renoviert oder die Tante einer Freundin einem die Haare schön macht?

An diesem Verhalten lassen sich zwei essentielle Charaktereigenschaften der ehemaligen DDR-Bürger beobachten: Gemeinschaftssinn und Staatskritik. Gemeinschaftssinn, das ist interessanterweise das, was viele von ihnen heutzutage vermissen. „Wenn du alles kaufen kannst, musst du deinen Nachbarn nach nichts mehr fragen“ erklärt mir meine Mutter. Umgedreht bedeutet das, wenn du fast nichts kaufen kannst, musst du ständig im Austausch mit deinen Mitmenschen stehen. Solch eine anhaltende Krisensituation schweißt natürlich zusammen. Eine Gesellschaft, in der man sich tolerant und auf Augenhöhe begegnen und im Zweifelsfall zumindest noch vernünftig miteinander handeln kann, hat für viele also einen hohen Stellenwert.

Der Aspekt der Staatskritik ist noch einleuchtender, bedenkt man, in welchem Ausmaß der sogenannte Staatssicherheitsdienst, kurz StaSi, die Menschen in der DDR überwachen und kontrollieren ließ. Wer so etwas einmal in einem Staat erlebt hat, der bleibt immer skeptisch – Systemwechsel hin oder her. Und während einige Menschen damals gezwungenermaßen (oder sogar freiwillig) die StaSi unterstützten, muss man der breiten Masse zugutehalten, dass sie sich nicht einfach aus Angst ihren Mund verbieten ließ. Schon ein offenes Gespräch im Kreis der Familie war ein Akt des Mutes, vielmehr noch ein aneckender Kommentar in der Schule oder bei den Kollegen im Betrieb. Meinungsfreiheit ist ein Gut, dass sich die Menschen in der DDR bestmöglich zu bewahren versuchten und schließlich in Gänze hart erkämpften.

Umso schlimmer ist besonders rückblickend der Umgang mit Impfgegnern, Querdenkern oder auch Demonstranten in Ostdeutschland. Das öffentliche Anzweifeln der Berechtigung eines bedeutsamen Grundrechts wie Körperautonomie während der Pandemie und die darauffolgende Diffamierung von Menschen, die an diesem Grundrecht festhalten wollten, hat bei einigen ehemaligen DDR-Bürgern tiefe Wunden wieder aufgerissen. Doch aus ostdeutscher Perspektive ist das wirklich Traurige an der Situation, dass ein großer Teil der Bevölkerung die Politik nicht hinterfragte, Anflüge einer Zwei-Klassen-Gesellschaft auftraten und der Gemeinschaftssinn über die Differenzen hinweg in Vergessenheit geriet. Ist es nach all diesen Geschehnissen noch eine Dreistigkeit zu behaupten, Liberale könnten in Bezug auf Staatskritik etwas von Ostdeutschen lernen?

Doch da sollte unser Lernprozess nicht Halt machen. Es liegt ganz besonders an uns Liberalen, den Menschen in Ostdeutschland ein Gegenangebot zur AfD zu bieten. Zwischen wachsendem Extremismus auf der einen und niedriger Wahlbeteiligung auf der anderen Seite, ist das Einzige, was die neuen Bundesländer radikal nach vorn kapitulieren kann, ein starker politischer Liberalismus. Das freiheitliche Mindset der Menschen ist vorhanden, das Wählerpotential also auch. Doch wir müssen ihnen das Gefühl geben, gehört zu werden. Und nach den schwierigen Jahren der Pandemie müssen wir authentisch zu unseren Werten stehen und auf Augenhöhe kommunizieren.

Heute haben alle ihre Erdbeeren und ihre Bananen, aber trotzdem ist klar: Der Osten war Verlierer. Wahrscheinlich kommt auch daher eine gewisse Bodenständigkeit im Charakter der Menschen, die nicht in den Westen gezogen sind. Nachdem im Trubel der Massen die Mauer gefallen war, legte sich der Staub langsam und was zum Vorschein kam, war Nichts, mit dem man prahlen konnte. Nichts, was an den Tisch der Verhandlungen gebracht werden konnte. Das Land war heruntergewirtschaftet und sollte sich auch 30 Jahre später noch nicht vollständig erholt haben.

Was den ehemaligen DDR-Bürgern bleibt, sind Erfahrungen und was sie uns als neuer Generation mitgeben können, sind ihre Erkenntnisse. Und sie können manchmal ein Vorbild sein, denn nicht selten verkörpern sie Eigenschaften, die den Liberalismus ausmachen.

Wenn wir Deutschland vereinen wollen, brauchen wir Verständnis füreinander, auf beiden Seiten. Ich plädiere für weniger Glorifizierung der „guten, alten Zeit“ und weniger Verharmlosung der Diktatur, die die DDR war. Aber ich plädiere auch für mehr Differenzierung in der Betrachtung jener Menschen, die in dieser Diktatur gelebt und sie schlussendlich zu Fall gebracht haben: Sie haben das Maximum an Freiheit aus dem Sozialismus rausgeholt – sie sind für ihre Freiheit sogar auf die Straße gegangen als mit Waffen auf sie gezielt wurde. Ihnen ihre Assoziationen mit der DDR klein zu reden und ihnen ihre ostdeutsch geprägten Wesenszüge in ein schlechtes Licht zu rücken, wirkt arrogant. Und Arroganz mögen die Ostdeutschen nicht. Genauso wie sie es nicht mögen, wenn der Staat ihnen vorschreibt, welche Symbole sie benutzen dürfen und welche nicht.